Always

Wenn du vierundzwanzig Stunden am Tag, eine Woche lang, immer nur eine Sorte Gedanken im Kopf trägst. Wenn diese Gedanken nichts anderes sind als in Schmerz zersplitterte Erinnerungen. Wenn dein in Qualen versunkenes Gehirn immer schwerer wird, so schwer, dass du es nicht abschütteln kannst, und wenn du dann in einen unendlichen Ozean stürzt, dann zieht dich dein Gehirn, zu einem gewaltigen Gewicht geworden, in immer tiefere Abgründe hinab. Und bald entdeckst du ein Ich, das auf eine andere Weise atmet. Nicht durch Nase, Mund oder Kiemen. Und auch wenn du darauf bestehst, dass dieses Ich ein Mensch ist, so fristet es doch ein unmenschliches Dasein. Um nicht mehr an deine schmerzenden Erinnerungen zu denken, vergisst du auch deinen leeren Magen und versuchst, dein Gehirn mit Schnaps auszuspülen, und da verflüchtigen sich fast all deine Erinnerungen, und du kannst nicht einmal mehr sagen, wer du selbst eigentlich bist.

Es war zu dieser Zeit, als ich den Alten traf. Ich hatte mich mit letzter Kraft zum Seouler Hauptbahnhof geschleppt, zitternd vor Angst hockte ich in einer Ecke und wagte mich keinen Schritt mehr aus dem Bahnhof heraus. Da kam ein alter Mann und begann, sich um mich zu kümmern. Nach meinem Namen gefragt, konnte ich ihm nicht einmal antworten, die Frage, ob ich mich noch an irgendetwas erinnern könne, löste bei mir quälende Kopfschmerzen aus, und der einzige Weg, den ich beständig hin- und herging, war der zwischen den Mülltonnen und der Obdachlosentafel am Bahnhof. Der Alte aber ließ mich wissen, dass es in der Jongno eine kostenlose Ausspeisungsstelle gab und Schlafmöglichkeiten in der Untergrundpassage an der Euljiro, und er zeigte mir, wie ich bei Bedarf die Obdachloseneinrichtungen nutzen konnte.

Ohne die Hilfe des Alten wäre ich nicht mehr am Leben. Als hätte nur mein Gedächtnis alles vergessen, während sich die Organe meines Körpers noch an meine Vergangenheit erinnerten, brachen sich nun allerlei Herz- und Kreislaufbeschwerden Bahn, und wenn ich nicht auf Vermittlung des Alten zur medizinischen Obdachlosenhilfe gegangen wäre und dort eine Notbehandlung und Medikamente bekommen hätte, dann wäre ich heute nicht mehr auf dieser, sondern in einer anderen Welt. Da ich die Tabletten immer zusammen mit meinem Soju einnahm, bestand zwar keine Hoffnung auf langfristige Besserung, aber zumindest würde ich wohl etwas langsamer sterben.

Ich trank oft mit dem Alten zusammen. Er war noch abhängiger als ich. Der Alkohol stellte die einzige Zuflucht in seinem Leben dar, und weil er vermutlich nicht mehr für sich hätte sorgen können, wenn er nicht getrunken hätte, war er fast immer betrunken. Und auch wenn er erklärte, dass man nicht betteln gehen solle, erbat er sich doch, sobald sein Alkohol zur Neige gegangen war, immer wieder Geld von Leuten, um Soju zu kaufen. Dieses kostbare Getränk pflegte er stets großzügig mit mir zu teilen. Vielleicht war es auch so, dass er einfach einen großen, kräftigen Bodyguard benötigte, denn oft wurde er aus der Gruppe der Bahnhofspenner ausgestoßen oder drangsaliert. Oder er war ehemaliger Geschäftsführer eines Großunternehmens, das in der IMF-Krise pleitegegangen war, und brauchte nun einen Sekretär, wer weiß.

Der Alte war immer betrunken und den größten Teil des Tages verbrachte er damit, sich mit mir zu unterhalten, um die Zeit totzuschlagen. Meistens saßen wir in der Bahnhofshalle vor dem großen Bildschirm, sahen fern und diskutierten über Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, die Entertainmentbranche und Sport. Und hängten an alles, was der 24-Stunden-Nachrichten-Kanal vermeldete, unsere blödsinnigen Kommentare an. In dem einen Jahr, in dem ich mit ihm über alles plauderte, was so in der Welt passierte, konnte ich eine Menge lernen. Was ich lernte, unterschied sich von meinem bisherigen Wissen. Meist hatte es mit der chaotischen Lage und der emotionalen Befindlichkeit anderer Menschen zu tun, Dinge, die ich nun am eigenen Leib zu spüren bekam. Das Einzige, was zwischen dem Alten und mir niemals zur Sprache kam, war unsere Vergangenheit. Diese war — so lautete unser ungeschriebenes Gesetz — nicht in Erfahrung zu bringen, und selbst wenn doch, nichts, das hätte thematisiert werden dürfen, sondern etwas, das für immer versiegelt blieb.

Eines Tages, zwei Jahre nachdem ich mich im Bahnhof niedergelassen hatte und anderthalb Jahre nachdem ich den Alten kennengelernt hatte, starb er. Neben mir zusammengekauert daliegend. Es gab nichts, was ich hätte tun können. Hätte ich ihn künstlich beatmen sollen? Hätte ich den Rettungswagen rufen sollen? Das Einzige, was ich tun konnte, war, auch in jener Nacht, als ich spürte, dass er sterben würde, meinen Rücken an den seinen zu lehnen und meine Körperwärme mit ihm zu teilen. In dieser Nacht hinterließ er mir ein einziges Wort als sein Vermächtnis.

Dok-go. Der Alte sagte mir, er heiße Dok-go, und bat mich, ihn nicht zu vergessen. Ihm hatte jedoch die Kraft gefehlt, mir noch mitzuteilen, ob das sein Vorname oder sein Familienname war, und ich hatte nicht danach fragen wollen. Am nächsten Morgen war er tot. Und um ihn nicht zu vergessen, wurde ich von nun an zu Dok-go.

Auch zwei Jahre danach hatte ich den Bahnhof noch immer nicht verlassen. Ich ging nicht in die Jongno, nicht in die Euljiro, nicht in die Obdachlosenunterkunft. Ich war ein echter, ein gestandener Obdachloser, der alles Notwendige hier in der Nähe des Hauptbahnhofs und des Bahnhofsvorplatzes regeln konnte. So als wollte ich meinem Namen Dok-go, der »einsam und allein« bedeuten konnte, gerecht werden, lief ich tagsüber allein umher und bettete mich nachts in meine Einsamkeit. Zwei Kerle konnte ich allein verprügeln. Waren es drei oder mehr, musste ich ordentlich Schläge einstecken und anschließend in die Sanitätsstation. Manchmal hatte ich Herzrhythmusstörungen, Probleme beim Wasserlassen oder ein Gesicht so aufgedunsen wie ein Hefekloß, aber ich dachte mir, das sei halt der gewöhnliche Sterbeprozess, und besonders weh tat es nicht. Anfangs versuchte ich noch eine Zeit lang, mein Gedächtnis wiederzuerlangen, das erschien mir aber bald schon nutzlos, und weil ich den ganzen Tag allein verbrachte, vergaß ich allmählich, wie man sprach, und begann zu stottern. Das war durchaus von Nutzen, wenn ich Geld brauchte, um mir neuen Alkohol zu kaufen, vielleicht weil ich bei den Leuten auf diese Weise leichter Mitleid erregen konnte. Mit zitternder, lauter Stimme konnte ich nun meinen Spruch aufsagen: »Ich … habe Hun…ger. Großen … Hunger!«

An jenem Tag hatte ich es auf zwei unverfrorene Kerle abgesehen. Kurz zuvor hatten sie mir meine Sojuflasche gestohlen, und ich hatte nun vor, ein Exempel zu statuieren und den beiden, die zu der Gruppe gehörten, die immer im westlichen Teil des Bahnhofs im Erdgschoss herumhing, eine Abreibung zu verpassen. Denn sonst würden sie mich immer wieder bestehlen. Zwar gab es hier nicht viel zu klauen, aber man musste Vorsorge treffen, damit das nicht trotzdem geschah. Als ich mich ihnen schon bis auf zwei Schritte genähert hatte, standen sie plötzlich auf, um zu gehen. Während sie offenbar gut gelaunt davontrotteten, sah ich, dass einer der beiden einen lilafarbenen Beutel in der Hand hielt. Bestens! Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich lief ihnen hinterher.

Nachdem ich die beiden vermöbelt, ihnen den Beutel abgenommen und somit einen doppelten Erfolg verbucht hatte, zog ich mich in meinen Unterschlupf zurück und öffnete mit Genugtuung das Täschchen. Darin befanden sich ein großes Portemonnaie und ein Geldbeutel für Münzen, ein Sparbuch, ein Personalausweis, ein Notizblock, ein kleines Gerät, das Passwörter generierte … Lauter wichtige Dinge, und wenn ich nicht aufpasste und einen kleinen Fehler machte, konnte es leicht passieren, dass ich schon bald auf der nächsten Polizeiwache landen würde. Um meiner Grübelei ein Ende zu bereiten, legte ich mich erst einmal hin und benutzte den Beutel als Kopfkissen. Zwar hatte ich Hunger, aber schon seit einer Weile war mir mein Schlafbedürfnis wichtiger als mein Appetit.

Lange schlief ich nicht. Ich musste an das Gesicht der Person denken, die das Täschchen verloren hatte. Dem Foto auf dem Personalausweis nach zu urteilen, schien es eine ältere Frau zu sein, und wie ich so dalag und mir immer wieder ihr freundliches Gesicht in den Sinn kam, wälzte ich mich hin und her. Ich öffnete noch einmal den Beutel und sah mir das Notizbuch an. Auf der letzten Seite standen in feiner, enger Schrift ihre Adresse und Telefonnummer und der Satz: »Falls Sie dieses Notizbuch irgendwo finden, melden Sie sich bitte bei mir. Der werte Finder oder die werte Finderin kann mit einer Belohnung rechnen.« Der werte Finder … Einen kurzen Augenblick fühlte ich mich geradezu wie ein Mensch. Ich richtete mich auf. Ich ging zu einer Telefonzelle, nahm eine Münze aus dem Münzportemonnaie und wählte die Nummer. Kurz darauf meldete sich mit aufgeregter Stimme eine Frau. Sie sagte, sie werde sofort zum Seouler Hauptbahnhof zurückkommen.

Das war meine erste Begegnung mit der Chefin.

Der Always-24-Stunden-Laden in einer kleinen Gasse in Cheongpa-dong. Schon seit einer Weile verbrachte ich hier nun meine Nächte. Ich konnte selbst noch nicht richtig begreifen, wie es dazu gekommen war, dass ich jetzt hier arbeitete. Von großem Vorteil war, dass ich nachts nicht mehr draußen in der Winterkälte ausharren musste und nicht mehr ständig einen leeren Magen hatte. Der Nachteil bestand darin, dass ich jetzt nicht mehr trinken durfte, aber ich hielt eisern durch. Dass ich den Vorschlag der Chefin angenommen, mit dem Trinken aufgehört und mit der Arbeit im Laden begonnen hatte, war wohl dem letzten Rest an Überlebenswillen zu verdanken, den ich noch in mir trug. Und dass ich meine Alkoholsucht im Zaum halten und diesen Zufluchtsort hatte finden können, beruhte vielleicht darauf, dass auch ich, wie eine trächtige, herumstreunende Katze, die plötzlich eine menschliche Behausung aufsucht, um dort ihre Jungen zur Welt zu bringen, einen allerletzten Grund gehabt haben mochte, mich am Leben zu halten.

Nun, da ich nicht mehr trinken, dafür aber viel essen und im Warmen schlafen konnte, ging es mir auch körperlich spürbar besser. Wenn ich tagsüber ausgestreckt in meiner Schlafkammer lag und die Anspannung sich löste, war das wie eine medizinische Behandlung in einer Krankenstation, und wenn ich schließlich aufstand, um meinen Nachtdienst anzutreten, waren meine körperlichen Beschwerden wie weggeblasen. Während meines Balanceaktes zwischen Leben und Tod drohte ich immer auf die Seite des Todes zu kippen, nun aber stand ich sicherer auf dem Schwebebalken des Lebens und hielt mich mit ausgestreckten Armen im Gleichgewicht. Und erstaunlicherweise begann auch in meinem Kopf das Blut nun wieder zu zirkulieren. Ich antwortete auf die Fragen meiner Kollegen, meine Gedanken beschleunigten sich allmählich, und im Umgang mit den Kunden ließ auch mein Gestottere mit der Zeit nach.

Mit anderen Worten, ich begann, wieder ein Mensch zu werden, und ich spürte, wie sich in meinem Hirn, das erstarrt war wie das eines eingefrorenen Menschen, Strahlen von Wärme ausbreiteten. Die Wand zwischen Erinnerung und Wirklichkeit begann zu schmelzen, und allmählich kamen Bruchstücke zum Vorschein, wie der Körper eines Mammuts in einem abtauenden Gletscher. Die Leichen meiner Erinnerung, die nun wie Zombies aufstanden, um mich zu überwältigen. Während ich von ihnen zerfleischt wurde, versuchte ich, ihre Gesichter zu erkennen, was die Sache etwas erträglicher machte.

Je mehr ich mich an die Arbeit im Laden gewöhnte, desto munterer regten sich meine Erinnerungen. Eines frühen Morgens kam eine Frau mit ihrer kleinen Tochter in den Laden, und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als herrschte plötzlich eine andere Atmosphäre. Sie begutachteten die Waren in den Regalen und äußerten zu diesem und jenem ihre Meinung, ganz so, als schlenderten sie durch eine Kunstgalerie. Die Mutter, die sich bei ihrer Tochter nach deren Geschmack in Sachen Knabberzeug erkundigte, und die Tochter, die ihrer Mutter im Detail ihre diesbezüglichen Vorlieben erläuterte. Ihre Stimmen hatten etwas Herzerwärmendes. Etwas Herzerwärmendes und Vertrautes und etwas, das an meinem Gedächtnis anklopfte. In dem Moment, als Mutter und Tocher — nachdem sie sich zu beidseitiger Zufriedenheit auf eine Packung Kekse geeinigt hatten — an die Kasse traten, schaffte ich es nicht, den Kopf zu heben. Ich hatte das Gefühl, meine Beine würden zusammenklappen, wenn ich den beiden in die Augen blickte.

Erst nachdem sie bezahlt hatten und dabei waren, den Laden zu verlassen, war es mir gelungen, den Blick ein wenig zu heben und ihnen für einen Moment hinterherzusehen. In diesem Augenblick war mir bewusst geworden, dass auch ich eine Frau und eine Tochter gehabt hatte. Ich glaube, ich habe laut gerufen. Den Namen meiner Tochter. Und als Mutter und Tochter sich gleichzeitig umdrehten und mich ansahen und ich ihre Gesichter erblickte, da wagte ich nicht, noch tiefer in den Korridor meiner Erinnerung vorzudringen.

Ich tauchte wieder in die Gegenwart ein. Nachts verrichtete ich still meinen Dienst im Laden, tagsüber versank ich bei zugezogenen Vorhängen in vollkommener Dunkelheit in meiner Schlafzelle, die eng war wie ein Sarg. Wenn ich meinen Hunger gestillt hatte und der Drang nach Alkohol mich zu jucken begann, unterdrückte ich ihn, indem ich Maisbarttee trank. Warum Maisbarttee? Zu der Zeit, als ich auf der Suche nach einem Getränk war, das ich anstelle von Schnaps trinken konnte, war Maisbarttee gerade ein 1+1-Sonderangebot gewesen. Vielleicht lag es nur am Placeboeffekt, aber wenn ich Maisbarttee trank, konnte ich nicht nur meinen Durst löschen, sondern auch mein Bedürfnis nach Schnaps einigermaßen unter Kontrolle halten.

Einen Monat nachdem ich angefangen hatte zu arbeiten, blieben mir, auch nachdem die von der Chefin im Voraus für mein Zimmer bezahlte eine Million Won abgezogen waren, noch achthunderttausend Won übrig. Mein Monatsgehalt war mehr als alles, was ich in den vergangenen Jahren erbettelt oder auf der Straße gefunden hatte, und da ich nicht genau wusste, was ich mit dem Geld anfangen sollte, steckte ich die vielen Scheine einfach erst mal in meine Anoraktasche, ohne mir weiter Gedanken darüber zu machen. Die Chefin meinte zwar, ich solle mir schnell meinen annullierten Personalausweis wieder ausstellen lassen und mich um ein Bankkonto und eine Bankkarte kümmern, aber dieser Gedanke gefiel mir nicht besonders, und so scherte ich mich nicht weiter darum. Als ich das erste Mal hierherkam, hatte ich eine Gruppe von Raufbolden, die die Chefin in ihrem Laden attackiert hatten, abgewehrt und musste anschließend wohl oder übel mit zur Polizei gehen, wo ich auch meinen tatsächlichen Namen und meine Personalausweisnummer erfuhr. Vorbestraft war ich zum Glück nicht. Meinen ursprünglichen Namen warf ich sofort wieder weg, als ich die Polizeistation verlassen durfte.

Es war mir klar, dass ich von dem Augenblick an, in dem ich einen neuen Personalausweis erhielt, weiterleben und weiteren Schmerz würde erleiden müssen. Mir fehlte der Mut, mich meiner Vergangenheit zu stellen, die zusammen mit den Ereignissen in meiner schwachen Erinnerung wieder an die Oberfläche kommen würde. Warum sollte ich das unerträgliche Trauma, bei dessen Wiederholung meine Sicherung unweigerlich durchbrennen würde, noch einmal durchmachen?

Ich wollte zunächst einmal nur überwintern. Vielleicht auch weil ich Angst bekam, wenn ich an den Winter dachte, in dem der alte Dok-go gestorben war. Wahrscheinlich hatte der Gedanke daran, wie kalt und klamm sich sein steifer Rücken angefühlt hatte, mich dazu gebracht, Orte aufzusuchen, an denen es zumindest ein bisschen wärmer war. Und ein 24-Stunden-Laden war ja so ein Ort. Dort würde ich den Winter ein wenig angenehmer verbringen können, bevor ich meinen letzten Atemzug tun würde. Wenn der Frühling kam, würde ich auch den Namen Dok-go von mir werfen und als Namenloser in den Himmel fahren. Solange ich noch die Kraft dazu hätte, würde ich vom Hauptbahnhof aufbrechen, die Stadt durchqueren und mich von einer der hohen Brücken in den Fluss stürzen. Ich beschloss, diesen Winter über hier im Laden Energie zu sammeln für den letzten Sprung meines Lebens.

Aber das Bild meiner Frau, das sich klar und deutlich in meiner Erinnerung abzeichnete, wollte nicht verschwinden. Die Dinge, an die ich mich nicht hatte erinnern können, als ich auf die Polizeiwache gegangen war, also, dass ich eine Familie hatte, eine Frau und eine Tochter, diese Dinge traten im Laufe der Zeit immer lebendiger in mein Bewusstsein. Nun sah ich viele Einzelheiten wieder vor mir, das Gesicht meiner Frau, die Art, wie sie sich bewegte. Körperlich eher klein, mit halblangem Haarschnitt, von Natur aus besonnen und still. Sie hielt sich mit Kommentaren zurück, reagierte immer mit Bedacht und nahm meinen Missmut und meine Besserwisserei stets mit einem Lachen auf. Ich erinnerte mich an den Tag, als sie in Wut ausgebrochen war. Was war der Grund gewesen? Warum hatte sie mich mit so zornigen Augen angestarrt? Aber obwohl sie so außer sich gewesen war, hatte sie doch kaum Worte verloren, was wiederum mich in Rage versetzt hatte. Und ich musste daran denken, wie sie mich weggestoßen und ihre Sachen gepackt hatte.

Das Klingeln der Türglocke riss mich aus meinen Erinnerungen. Es war in den frühen Morgenstunden. Während der Kunde, der sich offenkundig zu dieser Zeit auf den Weg zur Arbeit machte, seine Einkäufe auswählte, trank ich in großen Schlucken den Maisbarttee, den ich mir bereitgestellt hatte. Dieses klare braune Getränk musste ich trinken, immer und immer wieder, damit die Bruchstücke der Erinnerung, die ich früher mit Alkohol heruntergespült hatte, nicht wieder in mir hochkamen.

Am Ende des Jahres wurde meine Kollegin Si-hyeon von einem anderen 24-Stunden-Laden angeheuert. Es überraschte mich schon, dass eine einfache Hilfskraft von anderer Stelle angeworben wurde, und als sie mir zum Dank einen Rasierapparat schenkte, war ich ein weiteres Mal überrascht. Da stand ich ratlos mit dem Rasierer in der einen Hand und fuhr mir mit der anderen über meinen neugewachsenen kratzigen Kinnbart. Si-hyeon sagte noch, ich solle mich immer schön rasieren, und auch ich wünschte ihr alles Gute.

Als Si-hyeon nicht mehr da war, hatte ich mehr mit meiner anderen Kollegin zu tun, mit Frau Oh Seon-suk. Die betrachtet mich bis heute nicht wie einen Menschen. Das Gespür, das man erwirbt, wenn man eine Weile als Obdachloser gelebt hat, verrät einem augenblicklich, was der Blick, mit dem andere Menschen einen betrachten, bedeutet. In den Blicken der meisten Menschen, die mir zu meiner Zeit am Hauptbahnhof begegnet sind, konnte ich eine Mischung aus Mitleid und Verachtung ausmachen, und zwar ungefähr im Verhältnis von drei zu sieben. Darunter waren auch Menschen, die sich ernstlich Sorgen um mich machten. Es gab sogar — schwer zu glauben zwar — Leute, in deren Blick so etwas wie Neid erkennbar war.

Bei Seon-suk war es ein Verhältnis von exakt eins zu neun. Also zehn Prozent Mitgefühl, neunzig Prozent Geringschätzung, klar. Aber das hieß nicht, dass sie mir die volle Breitseite gegeben hätte. Außerdem war es jedes Mal beim Schichtwechsel so, dass sie diejenige war, die sich unwohl oder müde fühlte. Und wenn ich dann noch ein wenig aufräumte oder draußen den Tisch abwischte, war sie diejenige, die mich drängte, endlich Schluss zu machen und nach Hause zu gehen. Putzen kann ich eigentlich ganz gut, aber sie mochte es einfach nicht, wenn ich ihr bei ihrer Arbeit in die Quere kam. So oder so, ich habe das so gemacht, wie ich wollte. Weil ich der Chefin, die mich eingestellt und es mir ermöglicht hat, meinen letzten Winterschlaf friedlich und in aller Ruhe zu halten, etwas zurückgeben wollte.

Wer mir freundlich begegnete, war eine weißhaarige alte Frau aus dem Viertel, die aussah, als wäre sie schon über achtzig. Einen schlangenartigen Schal um den Hals gewickelt, trippelte sie leicht gebeugt durch die Nachbarschaft und fragte mich eines Tages, als ich gerade dabei war, den Tisch vor dem Laden abzuwischen, weshalb ich das denn täte, Tag für Tag, mitten im Winter, wo doch ohnehin niemand dort Platz nehme. Ich erwiderte, dass ich den Taubendreck wegputzen müsse, und sie machte — vielleicht hatte sie eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Tauben oder Taubendreck — ein hocherfreutes Gesicht.

Am nächsten Tag kam die weißhaarige alte Frau mit ein paar Altersgenossinnen in den Laden, ganz so, als veranstalteten sie einen Ausflug. Die Großmütterchen lobten die Waren, die nur im 24-Stunden-Laden zum Sonderpreis angeboten wurden, und brachten bald darauf, wenn es 1+1-Rabattaktionen gab, nun auch ihre Enkelsöhne und Enkeltöchter mit. An einem Tag trug ich der alten Dame zum Dank das Getränke-Set, das sie gekauft hatte, nach Hause. Vielleicht hatte sie es voller Stolz im Seniorentreff herumerzählt, jedenfalls baten mich nun auch die anderen Frauen darum, ihnen ihre Einkäufe nach Hause zu tragen. Es gab sogar welche, die mir ihre Adresse mitteilten und verlangten, dass ich ihnen die Sachen später nach Hause liefern solle. Da ich sonst ohnehin nichts zu tun hatte und mich körperlich schon ein wenig verausgaben musste, wenn ich anschließend in meiner Kammer angenehm schlummern wollte, gab es für mich keinen Grund, ihnen ihre Bitte abzuschlagen. Und wenn ich ihnen beim Tragen half und sie nach Hause begleitete oder die Sachen später vorbeibrachte, erwarteten mich, kaum bei ihrer Wohnung angekommen, jedes Mal Reiskuchen oder Kekse oder Obst als Belohnung.

Die Frauen waren für mich Großmutter, Mutter und Tante. Sie sorgten dafür, dass ich in mir den Anflug einer Erinnerung an Mütterlichkeit und ein Gefühl von Wärme spürte. Der einzige Nachteil waren die nicht enden wollenden, hartnäckigen Fragen, mit denen sie mich löcherten. »Ist der junge Mann verheiratet?« »War er mal verheiratet?« »Hat er mal darüber nachgedacht, wieder zu heiraten?« »Wie alt ist denn der junge Mann?« »Soll ich dem jungen Mann mal meine Nichte vorstellen?« »Was hat er denn gemacht, bevor er angefangen hat, hier im Laden zu arbeiten?« »Geht er in die Kirche?« »Will er nicht in unserem Heimatdorf auf der Obstplantage arbeiten?« Mal fragten sie mich gemeinsam, mal einzeln. Ich variierte notgedrungen zwischen »Nein, bin ich nicht«, »Nein, war ich nicht«, »Nein, hab ich nicht« und »Nein, vielen Dank«. Aber nachdem ich einige Male mit den alten Damen zu tun gehabt hatte, meinten sie nur noch, der Kerl habe wohl in seinem Leben einiges durchgemacht, und fragten nicht weiter. Nur die alte Frau mit den weißen Haaren. Sie legte jedes Mal, wenn sie mich sah, die gleiche Schallplatte auf und fragte:

»Junge, was hast’n früher für’n Dingens gemacht? Ich bin alt, kann dir nicht groß helfen, verstehste? Aber ich muss doch unbedingt wissen, was der fesche Kerl früher für’n Dingens gemacht hat, dass er jetzt hier gelandet ist, verstehste?«

Liebes Großmütterchen. Ich weiß auch nicht, was für’n Dingens ich früher gemacht habe, aber wenn ich draufkäme, würde ich es dir gern sagen. So gut, wie du zu mir gewesen bist, möchte ich deine Neugier gern stillen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hätte ich zur ewig gleichen Leier mit dem Dingens auch mein eigenes Lied singen und meine eigene Frage stellen können. Wer. Bin. Ich. Eigentlich?

Jedenfalls meckerte Seon-suk, vielleicht weil es ihr nicht gefiel, dass jetzt am Vormittag im Laden so viel los war, in einer Tour herum, was die alten Omas denn schon kaufen würden. Aber dann, als der Umsatz tatsächlich gestiegen und auch die Chefin zufrieden war, sagte sie nichts mehr. Denn angenommen, der Verkauf ginge weiter zurück und der Laden müsste dichtmachen, würde sie schließlich ihre Arbeit verlieren.

Zu Beginn des neuen Jahres kam Seon-suk zu mir, um sich rundheraus bei mir zu entschuldigen. Sie meinte, es tue ihr leid, dass sie im letzten Jahr so unfreundlich zu mir gewesen sei, und schlug vor, dass wir uns in diesem Jahr vertragen sollten. Im Gegenzug versicherte ich ihr, dass die von ihr in der Ladenfriteuse gegarten Hähnchen die besten seien. Daraufhin begann sie, sich darüber auszulassen, dass man mit mir viel besser reden könne als mit den männlichen Bewohnern ihres Haushalts, und fügte seufzend hinzu, dass ihr Mann und ihr Sohn ihr ganzes Leben lang kommunikationsunfähig bleiben würden. Und bei ihrem kraftlosen Anblick spürte ich ein seltsames Gefühl von Solidarität. Kommunikationsunfähig. Dieses Wort ließ mich plötzlich tief abtauchen. Wer hatte das damals zu mir gesagt? Dass ich kommunikationsunfähig sei? Meine Frau? Oder meine Tochter? Dann war sie mit einem Gesichtsausdruck unendlicher Enttäuschung und Ernüchterung, der mir deutlich machte, dass es nichts mehr zu sagen gab, verschwunden … Vielleicht waren es auch beide gewesen, meine Frau und meine Tochter. Wer es gewesen war — ich konnte es noch immer nicht mit Gewissheit sagen.

Ein paar Tage später brach Seon-suk, gleich nachdem sie zur Arbeit gekommen war, in Tränen aus. Zwar kam ich sofort in guter Absicht herbeigeeilt, um sie zu trösten, aber was konnte ich schon tun? Das Einzige, was mir einfiel, war, ihr eine Flasche Maisbarttee zu reichen, den ich immer trank, wenn der Alkoholdurst mich überkam. Sie nahm einen Schluck, und offensichtlich schien es sie ein wenig zu beruhigen, denn nach einer Weile kam sie wieder zu Atem. Und dann begann sie, ihrem Frust Luft zu machen und eine Kanonade von Unmutsäußerungen über ihren Sohn abzufeuern. Wie ich ihren Äußerungen entnahm, war die Beziehung zu ihm vollkommen zerrüttet, und offenbar war er sein Leben, das so gründlich entgleist war, inzwischen selbst leid. Aber ein entgleistes Leben wieder auf Spur zu bringen, war schwierig, und selbst wenn es ihm gelungen wäre — dies war keine Welt, in der jeder, der sich auf dem rechten Gleis befand, notwendigerweise auch unversehrt am Zielbahnhof angekommen wäre. Großartige Tipps konnte ich ihr keine geben. Deshalb hörte ich einfach nur zu. Wie einsam musste sie mit all ihren Sorgen sein, wenn ich derjenige war, dem sie ihr Herz ausschüttete? Ich versuchte, mir ihre Lage vorzustellen.

In jemandes Haut schlüpfen. Ein Ausdruck, dessen Bedeutung ich erst begriffen habe, nachdem mein eigenes Leben komplett entgleist war. Mein Leben war im Wesentlichen eine Einbahnstraße gewesen. Überall standen Leute herum, die mir zuhörten, wenn ich etwas sagte, meine eigenen Gefühle waren immer wichtiger als die der anderen, und wenn mir jemand nicht passte, wurde er abserviert — fertig. In meiner Familie war es wahrscheinlich nicht anders. Als ich mit meinen Gedanken bis hier gekommen war, wurde die Frage, die ich mir schon lange gestellt hatte, endlich beantwortet. Es war meine Tochter gewesen, die gesagt hatte, ich sei kommunikationsunfähig. Ich versuchte, mich an ihr Gesicht zu erinnern. Und unterdrückte meine Tränen. Obwohl ich kommunikationsunfähig war und nur in meine eigene Richtung denken konnte, hatte meine Frau mich akzeptiert. Sehr lange. Ich hatte gedacht, sie würde meinen Ansichten zustimmen, aber das hatte sie nicht getan, sie hatte mich nur bereitwillig ausgehalten.

Meine Tochter aber war anders gewesen. Sie war anders als meine Frau, aber auch anders als ich. Genauso wie sich Seon-suk nun darüber beklagte, wie denn ihr eigener Sohn, den sie doch selbst geboren hatte, so anders sein konnte als sie, so war auch meine Tochter ganz anders gewesen als ich. Wir waren vom Geschlecht her verschieden, hatten eine unterschiedliche Art zu denken, gehörten verschiedenen Generationen an, hatten einen unterschiedlichen Geschmack und unterschiedliche Vorlieben. Meine Tochter interessierte sich nicht für die Schule und aß kein Fleisch. Sie war in jeder Hinsicht ein Pflanzenfresser, eine denkbar ungünstige Voraussetzung, wenn man im Dschungel der koreanischen Gesellschaft überleben will, und so musste sie sich nicht selten meine Kritik gefallen lassen. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie, wenn ich mit ihr schimpfte, wenigstens noch so getan, als würde sie zuhören, aber als sie älter wurde und in die Pubertät kam, begann sie zu rebellieren. Für mich war das nicht akzeptabel, meine Frau jedoch stellte sich schützend vor sie. Damals hatte ich gedacht, das Verhalten meiner Frau sei dafür verantwortlich, dass zwischen meiner Tochter und mir keine Kommunikation mehr möglich war, aber jetzt weiß ich, dass es nicht so war. Ich war derjenige, der dafür gesorgt hatte, dass zwischen meiner Tochter und mir eine Schutzwand nötig geworden war, und ich war es gewesen, der die Gelegenheit zur Versöhnung, die meine Frau mühevoll in die Wege geleitet hatte, mit Füßen trat. Ich behandelte meine Tochter wie eine eingebildete Göre, und sie behandelte mich wie Luft. Das war der Anfang vom Ende. Dass unsere Familie sich auflöste, dass mein Leben ins Unglück stürzte, dass ich meine Frau und meine Tochter verlieren musste, all das war meiner Gleichgültigkeit und meiner Überheblichkeit geschuldet.

Erst als es mir, nachdem ich inmitten von Schmerzen mein Gedächtnis verloren hatte, mit Mühe gelungen war, meine Augen zu öffnen und die Welt in den Blick zu nehmen, lernte ich, Dinge aus der Perspektive der anderen zu sehen, einen mitfühlenden Blick zu entwickeln und mich der Seele anderer Menschen zu nähern. Nun aber war niemand mehr bei mir, und um jemanden zu finden, mit dem ich hätte reden können, schien es schon zu spät zu sein. Und doch durfte ich mich nicht hängen lassen. In diesem Augenblick ging es darum, Seon-suk zu helfen, die sich direkt vor meinen Augen die Tränen aus dem Gesicht wischte und in das tiefe Loch zu fallen drohte, in das auch ich gefallen war. Ich hatte am eigenen Leibe den gleichen Schmerz gespürt, war in der gleichen Traurigkeit versunken. Irgendetwas musste ich ihr jetzt raten. Da fiel mir ein, was Jjamong mir einmal gesagt hatte.

Ich reichte ihr eine Packung Samgak-gimbap. Und ich sagte ihr, sie solle ihn ihrem Sohn geben und einen Brief dazulegen. Und ihrem Sohn zuhören. So wie ich in diesem Moment ihr zuhörte. Sie nickte, und ich fühlte Scham und innere Pein. Weil ich selber weder einen Brief schreiben noch richtig hatte zuhören können.

Nachdem die Feiertage zu Mond-Neujahr vorüber waren, begann das aus China stammende Virus immer schlimmer zu grassieren. Mancherorts kam es zu massenhafter Ansteckung, und Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel waren ausverkauft. Die Chefin kam in den Laden, gab mir ein paar Masken und trug mir auf, Seon-suk auszurichten, dass auch sie während der Arbeit unbedingt eine Maske tragen solle. Die Chefin erklärte, sie habe aufgrund ihrer eigenen Lungenschwäche für Tage mit hohen Feinstaubwerten vorsorglich einen reichlichen Vorrat an Masken angelegt.

Wenn ich die Maske während meines Nachtdienstes trug, war mir der Kontakt mit den Kunden eigentlich nicht unangenehm. Nach der Abrechnung nahm ich reichlich Desinfektionsmittel aus dem Spender, der neben der Kasse bereitstand, und rieb mir damit die Hände ein. Ich hatte das Gefühl, mich trotz der ungewohnten Situation recht natürlich zu verhalten.

Am nächsten Tag mahnte die Chefin noch größere Vorsicht an und verteilte dünne Latexhandschuhe. In dem Augenblick, als ich die Handschuhe überstreifte, durchzuckte es mich wie ein Blitzschlag. Während ich das Gefühl an meinen Händen spürte, drückte ich Desinfektionsmittel auf die Handschuhe und rieb meine Hände aneinander. Ich hielt die Handschuhe an mein Gesicht und atmete den Geruch des Desinfektionsmittels ein. Obwohl ein Kunde im Laden war, verließ ich die Kasse und lief eilig zur Spiegelwand am Ende des Ladens. Ich betrachtete mein Gesicht mit der übergezogenen Maske. Die V-förmigen Augenbrauen und die kleinen Augen unter meinem Kurzhaarschnitt passten perfekt mit der Maske zusammen. All diese Dinge zeigten mir meine Vergangenheit. Das maskierte Gesicht, der alkoholische Geruch des Handdesinfektionsmittels, die vertraute Beschaffenheit und das natürliche Gefühl der Latexhandschuhe — all das rief mir mein früheres Ich ins Gedächtnis zurück.

Ich war Arzt gewesen.

Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle eine Operation durchführen zu können, wenn ich nur einen weißen Kittel übergeworfen und ein Skalpell zur Hand gehabt hätte. Der OP-Geruch von Blut und Desinfektionsmitteln kroch mir in die Nase, und das Summen der medizinischen Geräte klang wie Hintergrundmusik in meinen Ohren. Ich verließ den Operationssaal, öffnete die Ladentür und trat nach draußen. Ich nahm die Maske ab und atmete durch. Tief und heftig, stoßweise, unablässig, wie eine Pumpe, damit mein Gedächtnis nicht wieder in sich zusammenfiel.

Tagelang verbrachte ich damit, all die Erinnerungen, die in mir hochkamen, festzuhalten, auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Es fühlte sich an, als würde ich die Falten meiner Gehirnrinde kitzeln. Je mehr ich mich selbst kennenlernte, desto mehr Schmerz, Angst und unerklärliche Widerstände spürte ich in mir aufsteigen, aber ich hörte nicht auf.

Eines Tages kam ein Kunde in den Laden, der vier Dosen Bier haben, aber mit der Begründung, er sei der Sohn der Chefin, nicht dafür bezahlen wollte. Seine äußere Ähnlichkeit mit der Chefin — er hatte die gleichen Augen und die gleiche Nase — verriet mir, dass er die Wahrheit sagte, aber so einfach gehen lassen konnte ich ihn nicht. Das war zum einen das Beste, was ich als Ladenangestellter tun konnte, zum anderen wollte ich diesem Kerl, der darauf aus war, sich den Laden unter den Nagel zu reißen, ohne auch nur ein einziges Mal hier mitgeholfen zu haben, zeigen, dass er hier keine Vorrechte besaß. Nachdem er mit roten Ohren und nach Luft schnappend verschwunden war, tauchte er eine Stunde später wieder auf. Ich war gerade dabei, die Waren ins Regal zu räumen, da kam er auf mich zu, pustete mir seine Fahne ins Gesicht und hielt mir sein Handy hin. Aus dem Display lächelten mir er und die Chefin zusammen entgegen. Ob das als Beweis genüge. Dann erkundigte er sich danach, wie gut sich das Bier denn so verkaufe, und ich antwortete wahrheitsgemäß. Er widersprach, so gut er konnte, schnappte sich sein Bier und ging. In diesem Moment überlagerte sich das klägliche Bild, das er abgab, mit dem meines Bruders.

Ich hatte einen älteren Bruder. Er war eine erbärmliche Person. Wir waren beide nicht dumm, aber ich nutzte meine Intelligenz zum Lernen, und er nutzte sie für allen möglichen Schwindel und Trickserei. Er lebte schon früh davon, Leute zu täuschen, und als ich begann, Medizin zu studieren, fing er an, sich verächtlich über mich und das angebliche Einkommen von Ärzten zu äußern. Dann verschwand er, und ich hörte erst ein paar Jahre später wieder von ihm, wahrscheinlich hatte er eine Zeit lang im Gefängnis gesessen.

Das letzte Mal, dass ich meinen Bruder traf, war, als er in das Krankenhaus kam, in dem ich als Assistenzarzt arbeitete. Er stellte sich drohend vor mich hin und forderte Geld. Da sagte ich ihm, dass es im Krankenhaus alle möglichen Sorten tödlicher Werkzeuge gebe, Skalpelle, Scheren, Gifte und dergleichen, dass ein Arzt damit Menschen retten, aber auch töten könne und dass es ganz selbstverständlich sei, hier Blut zu sehen. Danach verlor ich ihn aus den Augen und aus dem Gedächtnis.

Doch nun, da mein Gedächtnis allmählich zurückkehrte, wurde ich durch den Sohn der Chefin an meinen Bruder erinnert. Zuerst kam mir sein Gesicht in den Sinn, und bald darauf folgte, wie der Stängel einer Süßkartoffel, der Rest der Familie. Meine Mutter, die meinem Bruder und mir unseren brillanten Verstand geschenkt hatte, war schon früh von zu Hause weggegangen und hatte unseren unfähigen Vater und uns zurückgelassen. Wir Kinder, beide noch Grundschüler, kamen bei unserer Großmutter väterlicherseits unter.

Mein Vater, der auf dem Bau arbeitete, brachte kaum je ein Wort über die Lippen. Er war ein gestörter Mann, der einem manchmal eine Ohrfeige gab und manchmal etwas zu essen kaufte, ansonsten aber nicht einmal sein eigenes Leben in den Griff bekam. Trotzdem erwartete er von mir, während ich heranwuchs, dass ich immer fleißig lernte, schickte mich im Gegensatz zu meinem Bruder auch auf einen Hagwon und gab mir manchmal Taschengeld. Aber ich kam mehr nach meiner Mutter, und nachdem ich Medizin studiert hatte, zog ich von zu Hause aus und wurde unabhängig, genau wie sie es getan hatte. Ich verdiente Geld mit Nachhilfeunterricht, rackerte mich im Studium ab und versuchte, mein altes Zuhause, meinen Vater und meinen Bruder zu vergessen.

Ich wollte Arzt werden und andere Luft atmen. Ich wollte eine Frau aus gutem Hause kennenlernen und eine eigene Familie gründen. Und ich glaube, ich hätte es beinahe geschafft. Aber dann begannen die Erinnerungen mich wie Albträume zu verfolgen, und ich war ihnen hilflos ausgeliefert.

Die Lage wurde immer chaotischer, und die Menschen standen in den Apotheken Schlange, um Masken zu kaufen. Medizinisches Personal aus dem ganzen Land wurde nach Daegu entsandt, wo sich viele Menschen infiziert hatten. Die Welt wurde durch die COVID-19-Pandemie auf den Kopf gestellt, und ich lief die ganze Zeit mit Maske herum. Etwas veränderte sich. Die Welt veränderte sich, und ich mich auch. Im Fernsehen lief eine traurige Geschichte über eine italienische Familie, die einem Angehörigen, der an COVID-19 erkrankt war und nun im Sterben lag, in seinen letzten Tagen nicht mehr beistehen konnte.

Als wäre auch mein Kopf von einem ansteckenden Virus befallen worden, kreiste dort unentwegt nur ein einziger Gedanke. Meine Erinnerungen schienen mir zuzurufen, dass es an der Zeit sei, das richtige Leben zu wählen. Es war seltsam. Mitten im ringsum grassierenden Sterben sah ich das Leben. Dieses Leben musste ich nun suchen gehen, auch wenn es das Letzte wäre, das ich tat.

Ich stellte meine Identität wieder her. Ich belebte meine gelöschte Sozialversicherungsnummer, fand meinen Benutzernamen und mein Passwort und öffnete meinen Zugang zur digitalen Welt. Hatte ich das erwartet? In der Cloud gab es Aufzeichnungen von mir, über mich und über den Fall, und dass ich nun dessen Bedeutung in Erfahrung zu bringen hatte, war für mich so selbstverständlich, als folgte ich einem Navigationssystem, das bereits in mir einprogrammiert war. Ich tat, was ich tun musste.

Ich sprach mit meiner Chefin. Schweigend hörte sie zu, als ich ihr diese sehr persönlichen Gründe für meine Kündigung darlegte, und sie verstand mich, und sei es auch nur, weil ihre Fragen beantwortet wurden. Sie verstand, dass ein 24-Stunden-Laden ein Ort ist, wo Menschen kommen und gehen, ein Ort, den Kunden und Angestellte ausnahmslos wieder verlassen, wenn sie sich eine Weile dort aufgehalten haben, eine Art Tankstelle, an der Menschen Waren oder Geld auftanken und dann wieder gehen. An dieser Tankstelle habe ich nicht nur getankt, sondern gleich das ganze Auto repariert. Und wenn das Auto repariert ist, muss man sich wieder auf den Weg machen. Und weiterfahren. Das schien sie mir sagen zu wollen.

Der Mann, der mir folgte, schien etwa sechzig Jahre alt zu sein. Als wir in denselben U-Bahn-Wagen stiegen, setzte er sich schräg gegenüber von mir auf einen der für Senioren vorgesehenen Sitze und drehte den Kopf zur Seite, um meinem Blick auszuweichen. Ich betrachtete sein Gesicht von der Seite. Seltsamerweise ähnelte sein Profil dem meines Vaters. Auch seine unnötig große Statur und sein sturer Blick erinnerten mich an meinen Vater. Vor allem aber schien er ungefähr so alt zu sein wie mein Vater zu dem Zeitpunkt, als ich ihn das letzte Mal sah.

Beim Anblick dieses Mannes und beim Gedanken an meinen Vater war mir gleich klar, wer ihn auf mich angesetzt hatte. Der Kerl, der aussah wie mein Bruder. Aber warum? Wieso verplemperte er seine Zeit damit, in meiner Vergangenheit herumzuschnüffeln? Hassen allerdings konnte ich meinen Vater und meinen Bruder nicht, verdammt! Wenn ich an sie dachte, fühlte ich keinen Ärger mehr in mir. Ich warf dem Mann, der mir folgte, einen kurzen Blick zu — so, dann komm mal schön mit! — und stieg an der Station Apgujeong aus.

Als ich das Krankenhaus betrat, sah ich nicht viele bekannte Gesichter. Weil der Direktor die Mitarbeiter wie entbehrliches medizinisches Material behandelte, blieb niemand lange hier. Kaum befand ich mich in der vertrauten Umgebung meines alten Arbeitsplatzes, spürte ich, wie mein altes Ich zurückkehrte. Der Frau an der Rezeption, die mich fragte, was ich wolle, gab ich eine unwirsche Antwort und ging direkt zum Büro des Direktors.

Der Direktor war unverändert. Als er mich nun wiedersah, nach vier Jahren, zuckte er nicht mit der Wimper und fragte mich, ob ich wieder hier arbeiten wolle. Ich erwiderte, dass mir unklar sei, wie ich denn in einem Krankenhaus arbeiten könne, das bald nicht mehr existieren würde. Seine Antwort darauf war, dass ich sicher viel durchgemacht hätte und gern eine dumme Entscheidung treffen könne, wenn ich alles noch schlimmer machen wolle.

»Du warst ja sicher dankbar, dass ich damals … von mir aus verschwunden bin, aber … du solltest wissen, dass ich … alles über dich … und die Klinik bekannt machen werde.«

»Und wieso? Bekommst du Straferlass, wenn du petzen gehst?«

»Für dich … sind andere Menschen … nichts als Sachen, die man … einfach so wegwerfen kann. Wenn sie Geld bringen, sind sie … Sachen, und wenn sie kein Geld bringen … sind sie Müll.«

»Das war doch immer genau dein Stil. Deswegen hab ich dich doch hier eingestellt.«

»Aber … so sind die Menschen nicht. Die Menschen sind … miteinander verbunden. Die kann man nicht einfach … auseinanderreißen und mit ihnen … machen, was man will.«

Der Direktor setzte ein boshaftes Grinsen auf und beugte seinen Oberkörper zu mir herüber.

»Bist ja ein ganz Ernsthafter. Dann sag ich dir jetzt auch mal was ganz im Ernst. Ich habe nach dir suchen lassen, als du verschwunden warst. Ich hab da ein paar Freunde, die können das richtig gut. Aber die haben dich nicht gefunden. Deshalb haben sie auch das Geld nicht bekommen. Dann sage ich ihnen wenigstens jetzt, dass du da draußen herumschlenderst. Wenn ich denen dann den Restbetrag plus Zinsen verspreche, bringen die dich in einer neuen Verpackung zu mir zurück, und ich übernehme dann die letzte OP.«

Ich lachte. Meine Mundwinkel zogen sich nach oben, meine Wangenknochen fingen an zu zittern, und ich lachte aus vollem Hals. Der Direktor starrte mich an und versuchte einzuschätzen, ob ich verrückt geworden sei oder etwas Übles im Schilde führe, und weil er mir so lächerlich erschien, lachte ich umso lauter. Ein Schurke erträgt, wie es scheint, kein Lachen. Sein Gesicht verzerrte sich.

»Ich bringe dich um. Eigenhändig. Du bekommst deine Abreibung.«

»Ich bin … schon einmal gestorben. Ob ich nun … noch einmal sterbe, es macht … keinen Unterschied. Außerdem hab ich schon … was durchsickern lassen. Es gibt jede Menge Fernsehsendungen, die … auf so was scharf sind. Das restliche Geld, solltest du dir … lieber für deinen Rechtsanwalt aufsparen.«

»Du Mistkerl! Du willst also Geld von mir? Obwohl du denen schon was geliefert hast? Dann hängst du aber selbst ganz schön mit drin im Schlamassel. Idiotisch … Hähähä …«

»Ich sag dir doch. Ich bin schon einmal … gestorben.«

»Hör auf, hier den Dicken zu markieren, und sag mir einfach, was du willst. Willst du wieder hier arbeiten? Lässt sich machen. Oder willst du Geld?«

»Was ich will … ist das hier.«

Ich hob meine linke Hand. Die Hand mit dem Latexhandschuh, den ich übergezogen hatte, als ich die Klinik betrat. Der Direktor streckte seinen Kopf vor und sah mich fragend an. Ich ballte meine linke Faust, schnappte mir mit der rechten seinen Kragen und schlug ihm ins Gesicht. Mit voller Wucht, ohne dass er die Chance gehabt hätte, sich zu wehren. Ächzen. Sein Kopf schepperte. Dann prallte er zurück, und ich schlug noch einmal zu. Uff! Ich löste meinen Griff, sein Kopf fiel zurück, und er sackte in seinem Stuhl zusammen.

Ich ließ ihn mit seinen Schmerzen dort im Raum zurück und ging hinaus.

Am nächsten Morgen, als ich nach der Übergabe den Laden verließ, rief jemand nach mir. Ich drehte mich um und sah Frau Jeong, die Autorin, die einen Koffer schleppte und in Richtung des Ladens stapfte. Sie schrieb an einem Theaterstück und hatte die Wohnung in dem kleinen Haus auf der anderen Straßenseite als Schreibstube benutzt, aber jetzt wollte sie aus dem Viertel wegziehen. Mit erfrischendem Lächeln erzählte sie mir, dass sie den ersten Entwurf des Bühnentextes fertiggestellt habe und nun in die Daehangno zurückkehren werde. Ich lächelte zurück. Ich hatte von ihr viel Beratung bekommen, und obwohl sie keine Therapeutin war, hatte sie eine ganze Reihe von Fragen und Ratschlägen für mich gehabt. Das war für mich sehr hilfreich gewesen, um mein Gehirn in Schwung zu bringen und meine Erinnerungen wiederzufinden.

»Ich wünsche Ihnen, dass … es eine tolle Aufführung wird. Wo Sie sich so viel … Mühe gegeben haben.«

»Na ja, jetzt wo es mit Corona immer schlimmer wird, weiß ich auch nicht, ob was daraus wird. Dass aber auch gerade jetzt alles so drunter und drüber gehen muss, ausgerechnet jetzt, wo ich mein Jahrhundertwerk vollendet habe …«

Aus ihrem maskenverhüllten Gesicht leuchteten mich zwei klare Augen an. Dass sie mit einem Lächeln über diese Tragik sprechen konnte, ließ erkennen, dass sie trotzdem Zufriedenheit empfand. Vielleicht war es die Kraft, die Menschen besitzen, die einen Traum in sich tragen. Wir hatten im Morgengrauen oft zusammen im Laden gesessen und uns unterhalten. Um meine Vergangenheit ausgraben zu können, hatte sie auch viel aus ihrer eigenen preisgegeben. Ich beneidete sie um ihre Energie und darum, dass sie das, was sie vorhatte, so unermüdlich verfolgte. Und so fragte ich sie, was es war, das sie antrieb. Da sagte sie, das Leben sei eine endlose Folge zu lösender Probleme, und wenn man schon mal dabei sei, solle man sich wenigstens vernünftige Probleme aussuchen.

»Sagen Sie mal, Dok-go, können Sie sich jetzt wieder ein wenig besser erinnern? Der Dok-go in meinem Theaterstück hat sein Gedächtnis wiedergefunden.«

»Ja, vieles ist mir ins Gedächtnis zurückgekehrt. Vielleicht … weil Sie das so geschrieben haben. Ich danke Ihnen.«

Frau Jeong hielt mir ihre Faust hin. Anstelle von Händeschütteln in Coronazeiten. Ich stieß mit meiner Faust gegen ihre. Die Erinnerungen, über die sie in ihrem Stück geschrieben hatte, und die Erinnerungen, die ich in mir trug, trafen einander nicht. Wir beide wussten, dass das nicht nötig war.

Als der Handelsvertreter im Laden vorbeikam, war es schon kurz nach zehn. Er kaufte Maisbarttee, Instantnudeln mit Sesamaroma und zwei Schokoriegel zum Preis von einem. Strahlend sah er mich an. Als ich an seine tüchtigen Zwillingstöchter dachte, hoben sich auch meine Mundwinkel von selbst. An dem Tag hatte ich bereits mit Hong, meinem früheren Studienkollegen, telefoniert. Er war überrascht gewesen, zum einen darüber, dass ich überhaupt anrief, und dann noch davon, dass ich ihm einen Handelsvertreter vorstellte. Vielleicht erinnerte er sich daran, was er mir schuldete, oder er glaubte, ich hätte noch immer so viel zu sagen, jedenfalls meinte er, er werde sich darum kümmern. Und vermutlich würde er, wenn er den Handelsvertreter traf und von ihm hörte, was ich inzwischen so machte, noch einmal sehr erstaunt sein.

Es war sein dritter Tag. Herr Gwak mühte sich an der Kasse mit einer Rechnung für zwei Kundinnen, bei denen es sich um Mutter und Tochter zu handeln schien. Schuldbewusst, dass es so lange gedauert hatte, sagte er mit lauter Stimme: »Einen schönen Tag noch!« Das Mädchen, schon auf dem Weg zur Tür, drehte sich um, neigte den Kopf und sagte höflich: »Auf Wiedersehen.« Er schmunzelte. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, schaute er etwas verlegen drein.

»Bei der gemischten Abrechung komme ich immer noch durcheinander. Tut mir leid, dass sich die Dienstübergabe so lange hinzieht, nur weil ich ein so schwerfälliger alter Mann bin …«

Aber nicht doch. Nur weil er bereit gewesen war, den Nachtdienst zu übernehmen, konnte ich meine Arbeit hier im Laden beenden, und nur dank des Zettels, den er mir heute gegeben hatte, konnte ich von hier aufbrechen. Mit dem Smartphone, das ich heute gekauft hatte, klickte ich auf YouTube und fand Si-hyeons Kanal »Always alles easy — So läuft der Laden rund um die Uhr«, der gerade mit einem neuen Video aktualisiert worden war. Ich klickte auf »Gemischte Abrechungen — kein Problem« und reichte Herrn Gwak mein Handy. Einen Moment später nahm er das Barcode-Lesegerät in die Hand und folgte eifrig Si-hyeons Erklärungen. Es war schön, ihre Stimme zu hören, ruhig und entspannt, nur von gelegentlichen Pausen unterbrochen.

»Ja, ihr Lieben, wie ihr wisst, heißt mein Channel ›Always alles easy‹, aber in Wirklichkeit ist der Job in einem 24-Stunden-Laden ziemlich hart. Schließlich handelt es sich um Arbeit. Wenn die Kunden es bequem haben sollen, bedeutet das, dass es für die Ladenmitarbeiter unbequem ist. Ich habe ein Jahr gebraucht, um das zu begreifen. Und ich hoffe, dass es auch euch gelingt, mit den unbequemen Dingen fertigzuwerden, um den Kunden Bequemlichkeit zu bieten, selbst wenn es für euch nur ein kurzfristiger Teilzeitjob ist. Und ICH bin hier, um EUCH das Leben wenigstens ein klein bisschen leichter zu machen. Das war’s für heute von ›Always alles easy‹.«

In den frühen Morgenstunden wollte ich nur einen kurzen Blick auf den Lagerbestand werfen, aber Herr Gwak, der zuvor noch vor Selbstvertrauen gestrotzt hatte, weil er nach eigenen Angaben bei der Armee in der Versorgung gearbeitet hatte, hatte auch heute wieder etwas falsch gemacht, und ich musste ihn erneut an die Reihenfolge der Auslagen erinnern.

Als die Morgendämmerung anbrach, setzte ich mich zu ihm an die Bar am Ende des Ladens, um mit ihm einen Becher Instantnudeln zu essen. Ihm schien nach Reden zumute zu sein, und so plauderten wir über dies und das. Er sagte, dass die Chefin einen netten Eindruck mache und die nächtliche Arbeit in einem 24-Stunden-Laden besser sei als die eines Hauswarts, die ja immer gleich sei, und dann kicherte er und fragte mich, ob ich mich daran erinnere, wie Gang, der Sohn der Chefin, bei seinem Anblick gestern ausgeflippt sei. Und auch ich konnte nicht anders, als die Stäbchen sinken zu lassen und eine ganze Weile mitzulachen.

Als der Sohn der Chefin Herrn Gwak, den er geschickt hatte, um mich loszuwerden, im Laden arbeiten sah, stand er da, als hätte er ein Gespenst gesehen. Dann donnerte er los. Was Gwak denn einfiele, das Geschäft anderer Leute durcheinanderzubringen, aber der Angesprochene antwortete ruhig, dass man in Südkorea seinen Arbeitsplatz immerhin frei wählen dürfe und dass er, indem er Herrn Dok-go geholfen habe, die Arbeit im Laden zu beenden, schließlich getan habe, was von ihm verlangt worden sei. Der Sohn der Chefin verlor die Beherrschung und brüllte, dass er das Geschäft auf der Stelle verkaufen werde. Herr Gwak entgegnete, dass er der Chefin helfen werde, den Laden zu retten. Daraufhin begann der Sohn der Chefin, auf und ab zu springen und ein Riesentheater zu machen. Schließlich beschloss ich einzuschreiten und erklärte, dass es nur fünf Minuten bis zur nächsten Polizeiwache seien, dass er aber, sofern er sich den Weg dorthin und die Schmach, im Laden seiner eigenen Mutter angezeigt worden zu sein, ersparen wolle, sich jetzt gerne von uns verabschieden dürfe. An Gwak gerichtet, brüllte er noch, dass man niemandem auf der Welt trauen könne, und schlug die Tür hinter sich zu.

»Jetzt, wo ich weiß, dass man niemandem auf der Welt trauen kann, werde ich sicher seltener betrogen,« sagte Herr Gwak mit gelangweiltem Gesicht.

»Gestern hat sich die Chefin … bei mir beklagt und gemeint, dass das … mit der Brauerei, die ihr Sohn kaufen wollte, ein großer Schwindel gewesen sei. Er hatte ja darauf bestanden, den Lebensmittelladen … zu verkaufen und das Geld … in die Brauerei zu stecken, aber … dann ist die Chefin dem Betrug auf die … Schliche gekommen, und da … war natürlich … die Hölle los.«

Als ich Gwak die Sache erzählte, kicherte er.

»Deshalb hat er seine Wut also an mir ausgelassen.«

»Die Chefin hat … eine Menge Ärger … mit ihrem Sohn. Sie kennen ihn ja schon länger, also … achten Sie ein bisschen auf ihn.«

»Natürlich, der wird ein oder zwei Monate lang eingeschnappt sein und dann ganz beiläufig bei mir anrufen, um mich zum Abendessen einzuladen.«

Herr Gwak sah aus dem Fenster in die aufgehende Sonne. In der Ferne kündigte die Silhouette des Namsan-Towers den Beginn eines neuen Tages an. Eine Weile betrachtete er so den Fernsehturm, reglos, wie in Gedanken versunken. Ich aß den Rest meiner Nudeln auf und räumte die Sachen weg. Dann sah er mich wieder an und fragte:

»Hast du Familie?«

Seine Augen waren wehmütig. Ich nickte. Er sagte:

»Ich habe mich meiner Familie gegenüber mein ganzes Leben lang unmöglich verhalten. Und ich bereue es. Selbst wenn ich sie irgendwann wiedertreffen würde — wie sollte ich mich ihnen gegenüber verhalten?«

Ich überlegte. Denn diese Frage stellte ich mir selbst auch, und wahrscheinlich fiel mir nun deshalb die Antwort so schwer. Ohne etwas zu sagen, saß ich mit bitterer Miene da, woraufhin er entschuldigend abwinkte, sich wieder seinen Bechernudeln widmete und woanders hinschaute.

»Verhalten Sie sich so … wie den Kunden gegenüber«, sagte ich plötzlich. Er sah mich an.

»Zu den Kunden, den Menschen, die hier im Laden zu Gast sind … sind Sie doch auch freundlich … Also, seien Sie einfach … zu Ihrer Familie genauso … freundlich. Das müsste … gehen.«

Herr Gwak bedankte sich und ging. Ich sah ihm nach. Ja, war man als Familie auf der Wegstrecke des Lebens, die man gemeinsam ging, nicht eigentlich auch beieinander zu Gast? Und ob VIP oder unwillkommener Besucher, es gab keinen Grund, einander zu verletzen. Offenbar war er mit meiner Antwort, die ich ihm aus dem hohlen Bauch heraus gegeben hatte, zufrieden, und so fühlte auch ich mich ein wenig erleichtert. Aber war es auch eine Antwort für mich? Könnte ich selber bei meiner Familie wenigstens wieder zu Gast sein?

Ich sah Herrn Gwak und Seon-suk noch beim Schichtwechsel zu, bevor ich den Laden schließlich verließ. Ich ging wieder zum Hauptbahnhof. Ich durchquerte die Bahnhofshalle, die eine Zeit lang meine ständige Bleibe gewesen war, und ging über den Bahnhofsvorplatz zur Bushaltestelle. Einer der dort abfahrenden roten Regionalbusse würde mich an mein heutiges Ziel bringen. Während ich an der Bushaltestelle wartete, musste ich an Seon-suk und ihren Sohn denken. Gerade eben hatte Seon-suk gelächelt und gesagt, sie beide hätten nun auch über den Kakaotalk-Messenger Kontakt. An dem Tag, als sie sich mit mir unterhalten hatte, hatte sie ihrem Sohn ein Päckchen Samgak-gimbap und einen herzlichen Brief überreicht und bald darauf eine lange Textnachricht auf Kakaotalk erhalten. Ihr Sohn hatte sich bei ihr entschuldigt und sie um ein wenig Geduld gebeten, da er dabei sei, Vorbereitungen zu treffen für eine Arbeit, die er wirklich gern machen würde. Und das hatte genügt, um Seon-suks Vertrauen in ihren Sohn wiederherzustellen.

Seon-suk hatte mir das Emoticon gezeigt, das ihr Sohn ihr spendiert hatte, ein kleines Tierchen, das Herzchen über das gesamte Kakaotalk-Fenster fliegen ließ. Ob es sich um einen Waschbären oder einen Maulwurf handelte, konnte ich zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, aber daran, dass es Seon-suk sehr glücklich machte, gab es keinen Zweifel.

Das Leben bestand aus Beziehungen, und Beziehungen bestanden aus Kommunikation. Erst jetzt begriff ich, dass das Glück nichts Fernes war, sondern darin bestand, Gefühle und Gedanken mit den Menschen unmittelbar neben mir zu teilen. Im 24-Stunden-Laden, wo ich den letzten Herbst und Winter verbracht habe, und in den Jahren davor, zu meiner Zeit am Hauptbahnhof von Seoul, habe ich langsam und Stück für Stück dazugelernt. Familien, die sich am Bahnhof von Familienmitgliedern verabschiedeten, Verliebte, die auf Verliebte warteten, Kinder, die ihre Eltern begleiteten, Freunde, die wegfuhren, um sich mit Freunden zu treffen … Reglos habe ich dagehockt, sie beobachtet, Selbstgespräche geführt, mich durch die Gegend bewegt, mich herumgeplagt und allmählich so etwas wie eine Ahnung bekommen.

Der Bus fuhr eine ganze Weile, bis er schließlich in einer Kleinstadt im Süden der Provinz Gyeonggi-do ankam. Zahlreiche Betonmischer und andere Baufahrzeuge fuhren vorbei, wie man es aus Ortschaften gewohnt war, in denen noch am Ausbau der Nationalstraße gearbeitet wurde. Der Bus, der mich an einer Haltestelle an der Nationalstraße abgesetzt hatte, verschwand in einer Staubwolke, und ich ging zurück zu der Stelle, wo ich im Vorbeifahren das Schild gesehen hatte. Ich erreichte das Schild und betrachtete es einen Moment lang. Dort stand: 500 Meter bis zum Gedächtnisgarten THE HOME, und während ich die 500 Meter den Hügel hinauflief, dachte ich darüber nach, wie man den Namen der Gedenkstätte übersetzen könnte. Als »Zuhause«, als »Familie«, als »Nest«? Ich konnte verstehen, was derjenige gefühlt haben musste, der sich diesen Namen ausgedacht hatte. »Home« war halt einfach »Home«. Auf jeden Fall fühlte es sich für mich, einen Obdachlosen, seltsam an, nach »Hause« zu gehen. Es war ein Ort, an dem ich nicht würde wohnen können, wenn ich tot war, und an dem ich nicht willkommen war, solange ich noch lebte. Doch nun war ich hier, und es war Zeit, mich zu stellen.

Als ich an der erdrückend riesigen Skulptur am Eingang der Gedenkstätte vorbeikam, zog ich den Zettel hervor, den Herr Gwak mir gestern gegeben hatte. Ich überprüfte die Adresse, Green A-303, nahm meine Maske ab und atmete aus. Der Park der Gedenkstätte war auf steilem Gelände an dem sonnigen Hang angelegt worden. Ich geriet außer Atem und sog die klare Luft ein. Weil ich am Leben war. Hier aber war das Heim der Toten, wohl deshalb waren keine Menschen in der Nähe. Da ich keine vorwurfsvollen Blicke gespürt hatte, steckte ich meine Maske in die Tasche und setzte meinen Weg fort.

Während des Beratungsgesprächs war sie sehr besorgt gewesen. Sie hatte mich gefragt, ob die Operation schmerzhaft sein würde, ob es irgendwelche Nebenwirkungen gebe und ob anschließend weitere regelmäßige Behandlungen nötig seien. Ich erklärte ihr, dass sie eine Vollnarkose bekommen werde und dass das, worüber sie sich Sorgen mache, nur in schäbigen Krankenhäusern am Rande der nördlichen Stadtbezirke passiere.

»Dass in den Nachrichten davon berichtet wird, liegt daran, dass es nachrichtenwürdig ist, mit anderen Worten, es handelt sich um etwas sehr Ungewöhnliches, und deshalb ist es in den Nachrichten. Sie machen sich umsonst Sorgen. Wir sind hier in Apgujeong-dong. Sie haben sich doch sicher alle Kliniken für plastische Chirurgie angesehen, die es hier so gibt? Nicht wahr?«

»Nun, es ist … Ich habe sehr lange dafür gespart. Und eine nachträgliche oder zusätzliche OP kann ich mir nicht leisten … Deshalb bin ich ein bisschen nervös. Und es ist für mich das erste Mal.«

»Dann sind Sie hier genau richtig. Keine Sorge, wir werden uns zum ersten und letzten Mal um Sie kümmern, Sie müssen nur auf das Krankenhaus und die Ärzte hören und alles tun, was man Ihnen sagt.«

»Gut. Das beruhigt mich. Danke!«

Eine Woche später, gerade als sie operiert wurde, wiederholte ich die gleichen Worte gegenüber einer anderen Klientin. Ich hatte der Operation, die von Dr. Choi aus dem zahnärztlichen Team durchgeführt wurde, anfangs noch zugesehen, mich dann aber zurückgezogen, um ein weiteres Beratungsgespräch zu führen. Meine Patientin, die Frau, die ich so beruhigt hatte, wurde von einem Ghost Doctor operiert und starb.

Der Direktor beeilte sich, den Vorfall zu vertuschen. Der Ghost Doctor existierte buchstäblich nicht, und ihr Tod wurde zu einem medizinischen Fehler erklärt. Die Eltern flehten vergeblich darum, dass man ihrer toten Tochter das Leben zurückgebe, und verklagten das Krankenhaus, aber der Direktor ließ seine juristischen Beziehungen spielen, sodass schließlich keine Anklage erhoben wurde.

Am Ende wurde der Fall durch die Zahlung einer Entschädigung und durch meine Entlassung beigelegt. Der Direktor bat mich, eine Auszeit zu nehmen, bis die schlimmsten Flammen gelöscht seien, und ich konnte mich zu Hause entspannen wie in einem lang ersehnten Urlaub.

Ab wann war es schiefgelaufen?

Hatte es daran gelegen, dass ich an meiner Stelle einen Ghost Doctor die Operationen hatte ausführen lassen? Daran, dass ich den OP verlassen und Geld mit der Beratung einer weiteren Patientin verdient hatte, weil mir eine Geisteroperation ganz selbstverständlich erschien? Dass ich diese Frau betrogen hatte, die ihre Operation mit einer Mischung aus Sorge und Erwartung in meine Hände gelegt hatte? Oder war es mein größter Fehler gewesen, für einen Direktor zu arbeiten, der sich nur für Geld interessierte und Geisteroperationen daher am laufenden Band anordnete? Oder war meine innere Armseligkeit schuld, die mich in meinem puren Statusstreben hatte Arzt werden lassen? Oder sollte ich meinen armen und unfähigen Eltern die Schuld geben, die mich in meinen Jugendjahren dazu gebracht hatten, die Welt zu hassen und mir vorzunehmen, eines Tages ganz groß rauszukommen?

Damals wusste ich es nicht. Ich wusste es einfach nicht. Inzwischen weiß ich es, doch nun lässt es sich nicht mehr rückgängig machen. Als ich hier stand, vor Green A-303, vor dem Gesicht derselben zweiundzwanzigjährigen Frau, die ich getötet hatte, konnte ich nicht anders, als mir meine Tränen, die nicht aufhören wollten zu fließen, mit der Maske abzuwischen.

Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, der Frau, die in ihr Äußeres hatte investieren müssen, um in den bevorstehenden Bewerbungsgesprächen eine Chance zu haben, die während ihres gesamten Studiums in Teilzeit gearbeitet hatte, um sich das Gesicht korrigieren lassen zu können, die versucht hatte, sich den Normen dieser Welt anzupassen, um zu überleben, und die genau dadurch ihr Leben verloren hatte. Mir war, als läge die kalte Klinge, die ihr das Leben genommen hatte, noch immer in meiner Hand, und mich schauderte.

Ich unterdrückte meine Tränen und griff tief in meinen Parka. Was ich nun herauszog, war kein Messer. Es war eine Blume. Die Kunstblume, die ich tags zuvor gekauft hatte. Ich befestigte die leuchtend rote Blume an ihrem Grab und stand hilflos da. Wieder flossen die Tränen.

Ich hörte, wie jemand vorbeiging, bedeckte meinen Mund mit der feuchten Maske und senkte meinen Kopf. Ich schloss meine verweinten Augen und bat um Vergebung. Immer und immer wieder. Verzeih mir … Ich habe … Unrecht getan. Ich verdiene kein … Erbarmen. Wo immer du jetzt bist, ruhe … in Frieden. Ruhe in Frieden.

Als der Bus das Randgebiet von Seoul erreichte, begann sich, wie erwartet, der Verkehr zu stauen. Ich schloss die Augen, als ob ich schliefe, und versuchte, die Emotionen, die in mir aufbrachen, zurückzuhalten.

Als ich meiner Frau hatte weismachen wollen, ich sei in bezahltem Urlaub, hatte sie mir nicht geglaubt. Immer wieder fragte sie, was denn los sei, und wollte alles ganz genau wissen. Ich hatte gelernt, in solchen Momenten forsch und kühn aufzutreten, und so gab ich vor, eine Auseinandersetzung mit dem Direktor gehabt zu haben und nun deshalb eine Auszeit zu nehmen. Aber das ging nicht lange gut. Die Freiwilligenorganisation, in der die junge Frau aktiv gewesen war, kam zum Krankenhaus und hielt dort eine Mahnwache ab. Bald wurde die Geschichte von den Nachrichten aufgegriffen und verbreitete sich schnell im Internet.

Meine Frau fragte mich nach der Wahrheit. Ich wich aus. Wieso war die Wahrheit denn so wichtig? Entscheidend war doch, dass ich meiner Familie und mir zuliebe den Mund hielt. Meine Frau jedoch bohrte weiter. Schließlich wolle auch unsere Tochter wissen, was dem Papa passiert sei. Nun hielt ich es nicht länger aus. In meinem Frust sagte ich ihr: »Ich habe den medizinischen Fehler nicht verursacht. Es war Abteilungsleiter Seo, das kommt in unserer Branche manchmal vor. Und der Chef ist gut darin, mit solchen Dingen umzugehen. Ich gehe bald wieder arbeiten, aber ich brauche im Augenblick einfach eine Pause von der chaotischen Atmosphäre, die zurzeit in der Klinik herrscht.«

Sie glaubte mir nicht und sprach nicht mehr mit mir. Jeden Tag ging sie irgendwohin, wohl in den Tempel, um dort Opfergaben für Buddha darzubringen, wanderte in der Gegend umher und kam erst spät in der Nacht zurück. Auch unsere Tochter schien das mitzubekommen und begann nun ebenfalls, mich zu meiden. An einem Sonntagabend, als ich allein zu Hause war und darauf wartete, dass das von mir bestellte Essen geliefert wurde, bekam ich einen Wutanfall. Ich rief meine Frau an, und sobald ich durchkam, schimpfte ich drauflos. »Glaubst du, ich mache all das zum Spaß? Glaubst du, ich habe kein schlechtes Gewissen, weil ich in so einem Krankenhaus arbeite? Ich arbeite in diesem Scheißladen, um für dich und unsere Tochter zu sorgen! Wie sollen wir denn sonst leben? Die Welt ist nicht gerecht, es gibt Verlierer und Opfer, und ich habe mir den Arsch aufgerissen, um für unsere Familie zu sorgen! Und jetzt bin ich erschöpft und will ein bisschen ausruhen, und du hältst nicht zu mir? Wo zum Teufel bist du? Komm sofort zurück!«

Spät in der Nacht kamen meine Frau und meine Tochter nach Hause. Beide sahen niedergeschlagen aus. Sie traten mir gegenüber. Meine Frau sagte, dass wir uns eine Auszeit nehmen sollten und sie mir keine Vorwürfe machen würde, bis die Sache mit der Klinik geklärt sei. Ich stimmte zu und sah dann meine Tochter an, einen unterwürfigen Blick einfordernd. Sie hob ihre kleinen Augen und starrte mich an. Sie war anders als ich, in ihrer Persönlichkeit, ihrem Temperament und ihrem Äußeren, und es gefiel mir nicht, dass ihre kleinen Augen das Einzige waren, in dem sie mir ähnelte. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie zusätzlich zu allem anderen die Augen ihrer Mutter gehabt hätte. Der Gedanke kam plötzlich über meine Lippen.

»Mach immer schön, was der Papa dir sagt, hörst du? Dann schenke ich dir eine Augenlidoperation, wenn du aufs College gehst.«

»Wieso denn das? Willst du mich auch noch umbringen?«

Diese Worte kamen so beiläufig aus ihrem Mund, dass sowohl ich als auch meine Frau erstarrten. Sprachlos stand ich da, und mein Körper begann zu zittern. Doch meine Tochter nahm ihren verächtlichen Blick nicht zurück. Unwillkürlich hob sich meine Hand, da stellte sich meine Frau zwischen uns. Während sie meinen bebenden Körper abblockte, schrie sie mich immer wieder an, aber ich konnte sie nicht hören. Als ich mich auf meine Tochter stürzen wollte, drückte mich meine Frau voller Verzweiflung zur Seite. Ich schubste sie reflexartig zurück. Sie stieß einen kurzen Schrei aus und knallte mit dem Körper gegen die Kommode.

Als ich wieder zur Besinnung kam, saß meine Tochter neben meiner Frau, die auf dem Boden lag, und rief in größter Eile irgendwo an. Ich hockte nur da und starrte ungläubig auf das, was sich vor meinen Augen abspielte.

Der Arzt empfahl ein paar Tage Krankenhausaufenthalt, da meine Frau ihre Prellungen behandeln lassen und sich ein paar Tage ausruhen müsse. Sie lag in ihrem Einzelzimmer auf dem Bett, und ihre trüben Augen wichen meinem Blick aus. Auch als ich mich entschuldigte und sagte, es werde nie wieder vorkommen, blieb sie stumm. Sie wandte sich von mir ab und drehte sich zum Fenster. Ich setzte mich auf den Besucherstuhl und fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Ich schluckte meine Tränen hinunter und schüttelte den Kopf.

Wie viel Zeit war vergangen? Ich hörte die Stimme meiner Frau.

»Hast du geglaubt, du würdest uns beschützen?«

Ich sah auf und erblickte ihr hageres Gesicht, das am Krankenhausbett lehnte.

»Du musst deine Arbeit … nicht mehr machen, um uns zu beschützen.«

Ich zögerte einen Moment. Dann fragte ich:

»Was meinst du?«

Sie schloss die Augen. Ich räusperte mich.

»Wenn du deine Familie schützen wolltest, hättest du ehrlich zu deiner Familie sein sollen.«

Sie verlangte die Wahrheit. Doch ich konnte ihr nicht antworten. Ich hatte das Gefühl, in dem Moment, in dem ich den Mund aufmachte und ihr sagte, was ich getan hatte, würde sie mich verurteilen. Ich konnte nichts sagen.

Als sie ein paar Tage später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schien sie in die Normalität zurückgekehrt zu sein. Zwar wirkte sie noch etwas angeschlagen, aber das würde sich mit der Zeit geben, dachte ich. Genau zu dieser Zeit bekam ich die Mitteilung der Klinik, dass ich wieder anfangen könne, und so ging ich von Neuem zur Arbeit, als wäre nichts geschehen.

Als ich nach Hause kam, waren meine Frau und meine Tochter weg. Das war’s.

Für mich war es das Ende. Meine Frau und meine Tochter waren irgendwohin verschwunden und ließen nichts mehr von sich hören. Ich hatte versucht, mir eine eigene intakte Familie aufzubauen, ein eigenes Heim, das sich von dem elenden Haushalt meiner Kindheit unterschied, aber all das lag jetzt in Trümmern. Ich konnte nicht einschlafen, ohne mich vorher zu betrinken.

Nachdem ich ein paar Tage nicht gearbeitet hatte, rief mich der Direktor an. Da platzte alles aus mir heraus. Dass meine Familie zerbrochen und ich im Begriff sei, den Verstand zu verlieren. Er spottete und sagte, ich solle mir mal eine schöne Auszeit nehmen. Er nahm mich überhaupt nicht ernst. Und so beschloss ich, ihm gehörig eins auszuwischen. Wenn er mich wie Dreck behandelte, würde ich ihn mit in die Hölle schleifen. Nur so könnte ich mein ruiniertes Leben wiedergutmachen.

Ich sammelte alle Beweise, die ich über die Korruption der Klinik finden konnte, und speicherte sie in einer Cloud. Immer weiter suchte ich nach meiner Frau und meiner Tochter, und immer weiter zerbrach ich daran. Die korrupten Machenschaften der Klinik aufzudecken, bedeutete, Zeuge meiner eigenen Skrupellosigkeit zu sein, und die Schuldgefühle, die ich meiner Frau und meiner Tochter gegenüber empfand, vermischten sich mit denen gegenüber der Patientin, die ich getötet hatte, und schnürten mir die Luft ab. Es war schmerzhaft und ekelerregend. So wurde der Alkohol zu meinem Zufluchtsort und meinem vermeintlichen Ausweg. Mein Leben wurde unerträglich, ständig musste ich mich betrinken, und bald schon hatte ich meinen Alltag nicht mehr im Griff. Es war so weit gekommen, dass ich nicht nur meine Frau und meine Tochter, sondern zuerst mich selbst finden musste.

Ich ging in meinem Haus zugrunde, das zugepflastert war mit Mitteilungen, die mir die bevorstehende Zwangsverpfändung ankündigten. Da fand ich heraus, dass sich meine Frau und meine Tochter in Daegu befanden. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen, packte meine Sachen und machte mich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Während ich, mein Ticket für den KTX-Schnellzug in der Hand, auf den Zug nach Daegu wartete und mir die Gesichter meiner Frau und meiner Tochter jenseits der Bahnsteigsperre vorstellte, zitterte ich am ganzen Körper, und mir rann der kalte Schweiß. Da zerriss ich die Fahrkarte, drehte mich um und rannte weg. Ich lief auf die Toilette, erbrach mich und wurde ohnmächtig.

Als ich aufwachte, trug ich nur noch meine Hose und mein T-Shirt. Mein schöner Pullover, meine handgefertigten Schuhe, mein Portemonnaie und meine Tasche waren längst gestohlen worden. Ich stand barfuß da und sah im Vorraum der Toilette in den Spiegel. Dort im Spiegel sah ich wieder das Gesicht meiner Frau und meiner Tochter. Ihre Gesichter verwandelten sich in mein eigenes verwirrtes Gesicht, und ich schlug meinen Kopf gegen den Spiegel.

Von da an war ich nicht mehr in der Lage, den Bahnhof von Seoul zu verlassen. Die Leute nannten mich einen Obdachlosen, und die anderen Obdachlosen nannten mich Dok-go. Der Name eines toten alten Mannes und als mein neuer Name nicht schlecht.

Ich war nun am Hauptbahnhof angekommen, ging weiter nach Hoehyeon-dong und checkte in einem Motelzimmer mit Badewanne ein. Ich füllte die Wanne mit heißem Wasser und legte mich hinein. Als ich zu schwitzen begann, trank ich Maisbarttee. Alle vier Flaschen, die ich mitgebracht hatte. Dann wusch ich mich sorgfältig in der Badewanne. Ich ging zur Toilette, um Wasser zu lassen, so ausgiebig, als wollte ich all die schmutzigen Dinge in meinem Körper loswerden. Nachdem ich noch einmal geduscht und mir die Zähne geputzt hatte, verließ ich das Bad und legte mich zum Schlafen ins Bett.

Der nächste Morgen. Ich wachte auf, zog mich an und ging hinaus auf die Straße. Ich hatte Hunger, aber ein leerer Magen war nicht so schlimm. Da ich schon angefangen hatte, mich zu entleeren, würde ich sicher ein paar Tage ohne Essen auskommen. Das würde mir helfen, bei Verstand zu bleiben.

Der Hauptbahnhof kam in Sicht, und plötzlich begann mein Herz schneller zu schlagen. Nach ein paar Ampeln erreichte ich den Bahnhofsvorplatz. Eine Organisation verteilte gerade Atemschutzmasken an Obdachlose. Der Anblick der Obdachlosen, die Masken trugen, wirkte ausgesprochen unnatürlich. War es zu ihrem eigenen Schutz? Oder weil sie eine potenzielle Infektionsquelle darstellten? Wahrscheinlich beides. Mit Maske sahen alle gleich aus. Jeder war nur ein Virus namens Mensch, Ansteckungsquelle und Ansteckungsopfer zugleich. Ein Virus, das den Planeten seit Zehntausenden von Jahren plagte.

Als ich nun wieder mit meinem Ticket nach Daegu dastand, erinnerte ich mich daran, wie ich hier vor vier Jahren zusammengebrochen war. Dieses Mal jedoch war ich nicht allein. Eine Einkaufstüte des 24-Stunden-Ladens und eine Lunchbox in der Hand, kam die Chefin auf mich zu. Obwohl ich gesagt hatte, das sei nicht nötig, hatte sie darauf bestanden, sich von mir zu verabschieden. Wir hätten uns am Seouler Hauptbahnhof kennengelernt, also sollten wir uns auch am Seouler Hauptbahnhof voneinander verabschieden, so ihr Argument. Da war etwas Wahres dran. Ich ließ mich überzeugen. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, auf ihre Hilfe angewiesen zu sein. Denn falls ich auch dieses Mal wieder auf die Idee kommen sollte, meine Fahrkarte zu zerreißen, zur Toilette zu rennen, mir den Kopf einzuschlagen und bewusstlos zusammenzubrechen, würde sie mich hoffentlich davon abhalten.

»Das mochtest du doch immer so gerne.«

Die Chefin reichte mir die Plastiktüte. Darin befanden sich eine Lunchbox de luxe und eine Flasche Maisbarttee. Ich starrte die Sachen eine Weile an, ohne etwas sagen zu können.

»Wenn du nach Daegu gehst, kannst du beweisen, dass du Arzt bist, oder?«

»Das habe ich schon … am Telefon geregelt.«

Man kann in diesem Land seine Zulassung als Arzt nicht verlieren, selbst wenn man einen Menschen umbringt oder ein Sexualverbrechen begeht. Eine sogenannte »Phönix-Lizenz«. Warum ist das so? Weil die Mediziner gut mit den Juristen können. Vielleicht haben wir all diese Dinge getan, weil wir uns darauf verlassen haben. Und weil wir, ausgestattet mit diesem schrecklichen Privileg, Menschen retten oder töten konnten, hielten wir uns für allmächtige, allwissende Götter. Nachdem eine meiner Patientinnen zu einer Fernsehberühmtheit geworden war, hieß es, sie sei von der Hand eines »Gottes in Weiß« berührt worden. Aber ich war kein Gott, sondern nur ein Mensch, noch dazu ein schlechter, ein egoistisches Wesen, das sich nur um sich selbst kümmerte.

»Ich wollte dich eigentlich nicht gehen lassen, aber wo du in diesen Krisenzeiten nach Daegu ziehen willst, um dort mitzuhelfen, kann ich dich ja nicht davon abhalten. Du hast die richtige Einstellung, du wirst auch dort gut zurechtkommen. Pass auf dich auf.«

»Das … verdanke ich Ihnen. Wenn ich Sie … nicht getroffen hätte, würde ich irgendwo … hier herumliegen. Können Sie auch nach Daegu kommen?«

»In der Coronazeit? Zum Mithelfen?«

»Natürlich.«

Ich hatte, seit ich Arzt geworden war, keinen einzigen Freiwilligendienst absolviert, und nun fuhr ich nach Daegu, um medizinische Hilfe zu leisten. Ich dachte wieder an gestern, an die Urne und an die Frau, die darin lag. Die Reise nach Daegu würde keine Sühne sein, aber ein Weg, mich an meine Sünde zu erinnern. Und auch in Zukunft würde ich solche Wege suchen müssen.

»Jetzt, wo die Leute Maske tragen, ist es ruhiger geworden.«

»Ja, stimmt.«

»Alle reden zu viel von ihrem eigenen Kram. Die Welt ist doch kein Klassenzimmer mit lauter Mittelstufenschülern! Aber alle reden schlau daher, als wüssten sie ganz genau Bescheid. Ich glaube, deshalb hat die Erde den Menschen diese Plage geschickt, um sie eine Weile zum Schweigen zu bringen.«

»Es gibt Leute, die tragen … keine Maske … und brabbeln einfach weiter.«

»Die können von mir aus gerne ihr blaues Wunder erleben.«

Ich musste leise lachen.

»Die Maske ist so lästig, wegen Corona ist dies und das so unbequem, ich mach einfach, was ich will! So reden doch manche Leute. Aber so ist die Welt nun einmal. Das Leben ist unbequem.«

»Ja, ich glaube auch.«

»Weißt du, die Leute aus der Nachbarschaft haben unseren Laden immer den unbequemen Laden genannt.«

»Das wussten Sie?«

»Ja. Wir haben nicht so viele Waren und kein so breites Angebot. Und im Vergleich zu anderes Läden auch weniger Rabattaktionen. Über die Preise feilschen wie in den kleinen Gassenlädchen kann man bei uns auch nicht. Es gibt halt eine Menge Unannehmlichkeiten.«

»Frau Yeoms kleiner Laden der großen … Unannehmlichkeiten.«

»Als du gekommen bist, wurde alles etwas annehmlicher. Für die Kunden und für mich. Aber jetzt wird es wieder unbequem werden.«

»Wie…so?«

»Wieso? Komm wieder, wenn du deine Arbeit in Daegu erledigt hast.«

Ich lächelte unbeholfen. Dies schien ihr als Antwort zu genügen. Sie klopfte mir auf die Schulter.

»Nein, nein. Was habe ich dir vorhin gesagt? Die Leute müssen mit der Unbequemlichkeit leben, und deshalb wird unser Laden wieder unbequem sein. Dass du mir ja nicht zurückkommst!«

»Hm … Okay.«

»Und arbeite dort nicht nur. Du musst unbedingt deine Familie treffen.«

Nanu? Hatte ich ihr denn erzählt, dass meine Frau und meine Tochter in Daegu waren? Ließ mein Gedächtnis wieder nach?

Die Chefin hatte wohl ein bisschen etwas von dem Gott, an den sie glaubte. Wie konnte sie im Voraus wissen und erkennen, was in mir vorging? Es waren nicht die Götter in Weiß, die in dieser Welt Göttlichkeit erlangten. Es waren Menschen wie Frau Yeom, die anderen Menschen stets voller Mitgefühl begegnete.

Es war Zeit zu gehen, aber meine Füße rührten sich nicht vom Fleck. Noch immer spürte ich den unsichtbaren Magneten, der von hinten an mir zog. Unsicher stand ich weiter neben der Chefin, als wäre sie das Sauerstoffgerät, von dem mein Leben abhing.

»So, nun geh schon. Ich bin es leid, hier herumzustehen.«

Ich drehte mich um und sah sie an. War das meine Mutter, die mich verlassen hatte? Oder meine Großmutter, die sich um mich gekümmert hatte und nun nicht mehr lebte? Wer war es? Ich umarmte sie und sagte leise:

»Ich hätte sterben sollen, aber … Sie haben mich gerettet. Und auch wenn … ich mich dafür schäme … ich werde weiterleben.«

Ohne etwas zu sagen, hielt sie mich fest und klopfte mir mit ihrer kleinen Hand auf den Rücken.

Sobald ich die Ticketschranke passiert hatte, schaute ich mich nicht mehr um, sondern stapfte weiter zum Bahnsteig. Als ich in den Zug einstieg und mich auf meinen reservierten Sitzplatz setzte, begannen die Tränen zu fließen. Ich konnte es kaum erwarten loszufahren. Ich wollte, dass der Zug schnell genug fuhr, um meine Tränen wegzublasen, und mich in einem Atemzug nach Daegu beförderte. Und als spürte er meine Ungeduld, setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Als wir aus dem Hauptbahnhof herausfuhren, glaubte ich, durch das Fenster die Straße zum Laden erkennen zu können. Und auch den kleinen Laden, in dem es so unbeschreiblich unbequem zuging, dort im Viertel Cheongpa-dong, auf dem »Blauen Hügel«.

Der Zug fuhr auf die Brücke über den Fluss Han. Das morgendliche Sonnenlicht tanzte glitzernd auf der Wasseroberfläche.

Ich habe gesagt, dass ich den Seouler Hauptbahnhof und seine Umgebung nicht mehr verlassen hätte, seit ich dort als Obdachloser lebte. Einmal aber habe ich mich hierher an den Fluss begeben. Ich war auf die Brücke geklettert und wollte mich in den Fluss stürzen. Ich habe es nicht geschafft. Mein Plan war gewesen, den Winter im 24-Stunden-Laden zu verbringen und dann von der Mapo-Brücke oder der Wonhyo-Brücke zu springen. Aber ich glaube, jetzt weiß ich es:

Flüsse sind nicht dazu da, dass man in ihnen ertrinkt, sondern dazu, dass man sie überquert.

Und auch Brücken sind zum Überqueren da, nicht zum Hinunterspringen.

Die Tränen wollten nicht aufhören. Ich schämte mich, aber ich habe mich für das Leben entschieden. Ich habe mich entschieden, mit meiner Sündhaftigkeit zu leben. Ich würde helfen, wo ich helfen konnte, würde teilen, was ich teilen konnte, und ich würde nicht nach meinem Anteil gieren. Ich würde mich bemühen, andere mit den Fähigkeiten zu retten, mit denen ich mich selbst gerettet habe. Ich würde meine Familie aufsuchen, um mich zu entschuldigen. Wenn sie mich nicht sehen wollten, würde ich reumütig umkehren. Ich würde mich daran erinnern, dass das Leben einen Sinn hat und immer weitergeht, und ich würde es annehmen.

Der Zug überquerte den Fluss. Die Tränen hörten auf.