II. Mylord im White Hart

»Sir Anthony Ferndale« saß vor dem Toilettentisch in seinem Zimmer im White Hart und polierte müßig seine Nägel. Ein prachtvoller seidener Schlafrock hing über der Lehne seines Stuhles, und hinter ihm legte Jim letzte Hand an die Perücke seines Herrn, wobei er gleichzeitig mit prüfenden Blicken über Rock und Weste wachte, die für Mylord bereitlagen.

Carstares ließ von seinen Nägeln ab und lehnte sich gähnend zurück – eine schlanke, geschmeidige Gestalt in Batisthemd und Kniehosen aus aprikosenfarbenem Satin. Er musterte prüfend seine Krawatte im Spiegel und hob langsam die Hand. Salter hielt den Atem an. Mit äußerster Behutsamkeit rückten die Fingerspitzen eine mit Diamanten und Smaragden besetzte Nadel eine Spur nach rechts, dann sank der Arm wieder lässig herab. Salter lenkte durch sein erleichtertes Seufzen die Aufmerksamkeit seines Gebieters auf sich.

»Alles glatt gegangen, Jim?«

»Sozusagen wie geschmiert, Sir.«

»Bei mir auch. Es war geradezu läppisch einfach. Die Burschen hatten überhaupt keinen Mumm in den Knochen. Zwei Männer in einer Kutsche – der eine ein aufgeblasener Schuft von einem Kaufmann, der andere sein Schreiber. Gott im Himmel! Der hat mir leid getan!« Er hielt inne, griff nach dem Rougetöpfchen.

Salter sah ihn fragend an.

»Ja«, nickte Carstares, »ehrlich leid. Der Fettwanst schien ihn nämlich gewaltig zu tyrannisieren, wie es solche Leute mit ihren Bediensteten gern tun. Gab sogar ihm die Schuld an meinem Erscheinen, der feiste Kerl! Ja, Jim, du hast recht – er war mir unangenehm, dieser ›Monsieur‹ Fudby. Also –« ergänzte er freimütig – »erleichterte ich ihn um seine Geldschatulle und zweihundert Guineen. Eine milde Gabe an die Armen von Lewes.«

Jim zuckte mürrisch die Schultern.

»Wenn Sie alles verschenken, warum tun Sie sich die ganze Arbeit dann überhaupt an, Sir?«, fragte er unverblümt.

Über Mylords Antlitz huschte sein wunderliches kleines Lächeln.

»Weil es meinem Leben einen Sinn gibt, du Dummkopf. Ich weihe es gewissermaßen einem edlen Zweck. Außerdem amüsiert es mich, den Robin Hood zu spielen – den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben«, fügte er Salter zu Gefallen hinzu. »Aber um zu meinen Opfern zurückzukehren – wenn ich mir vorstelle, wie du gelacht hättest, als der kleine Mann aus der Kutsche fiel!«

»Fiel, Sir? Warum sollte er fallen?«

»Es bereitete ihm selbst Mühe, das zu erklären. Offensichtlich hatte ihm der Dicke befohlen, die Klinke festzuhalten, um mein Eindringen zu verhindern – daher plumpste er, als ich den Schlag aufriss, lieber auf die Straße, bevor er losgelassen hätte. Natürlich entschuldigte ich mich überaus höflich, und wir unterhielten uns ein wenig. Wirklich ein netter kleiner Kerl ... Trotzdem musste ich lachen, als er wie ein Käfer im Staub herumkrabbelte!«

»Ach, da wär ich gern dabei gewesen, Euer Gnaden!« Jim schaute mit beträchtlichem Stolz auf seinen eleganten Herrn nieder. »Ich würde einiges dafür geben, wenn ich mal sehen könnte, wie Sie 'ne Kutsche überfallen, Sir!«

Die Hasenpfote in der Hand, fing John im Spiegel seinen bewundernden Blick auf und lachte.

»Das glaub ich dir, mein Alter! Ich hab mir übrigens eine großartige Stimme dafür zugelegt – leicht heiser und versoffen, und etwas laut, vielleicht – ah, aber grade richtig, um nachts davon zu träumen! Ich zweifle zwar, ob sie's tun«, fügte er grüblerisch hinzu, während er das Schönheitspflästerchen neben seinem Mundwinkel anbrachte.

»Was meinst du? Ein wenig tief? Na, es wird genügen – was ist denn da los?«

Unten auf der Straße herrschte plötzlich großer Lärm und aufgeregtes Durcheinander. Man hörte Pferdegetrappel, die Rufe der Stallknechte und das Rattern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster. Jim trat ans Fenster und reckte den Hals, um über den Balkon zu sehen.

»Eine Kutsche ist angekommen, Sir.«

»So viel hab ich auch bemerkt«, antwortete Mylord trocken aus einer Puderwolke.

»Ja, Sir. O Gott, Sir!« Er schüttelte sich vor Lachen.

»Was gibt's?«

»Hach, es ist zu komisch, Sir! Zwei Männer steigen aus – ein dicker und ein kleiner, dürrer! Der Kleine schaut ganz verschrumpelt aus, wie eine Spinne, und der andere erinnert mich fast –«

»An ein Nilpferd, vor allem im Gesicht?«

»Nun ja, Sir. So ziemlich. Und er hat lauter rote Sachen an.«

»Himmel, ja! Und zu der Purpursymphonie trägt er eine orangefarbene Weste!«

Jim spähte noch einmal.

»In der Tat, Sir! Aber woher wissen Sie das?« Noch während er die Frage aussprach, blitzte Verstehen in seinen Augen auf.

»Ich glaube fast, dass ich die Ehre hatte, diesen Herren bereits zu begegnen«, erwiderte Mylord gelassen. »Meine Schnalle, Jim ... Ist es eine auffallend große Kutsche mit gelbgestrichenen Rädern?«

»Ja, Euer Gnaden. Die Reisenden wirken ein wenig derangiert.«

»Das ist durchaus möglich. Ist die Kleidung des kleineren Herrn – äh – nicht ganz sauber?«

»Ich kann's nicht sehen, Sir, er steht hinter dem Dicken.«

»Mr. Bumble Bee ... Jim!«

»Sir?« Jim fuhr herum, so scharf hatte die Stimme geklungen.

Mylord hatte sich erhoben und hielt mit spitzen Fingern eine Weste, die ein erbsengrünes Muster auf gallgelbem Grund zeigte. Vor seinem strengen Blick schlug Jim die Augen nieder wie ein zerknirschter Schuljunge.

»Du hast diese – diese Monstrosität – für mich bereitgelegt?«, fragte sein Herr im Tonfall eines Inquisitors.

Jim sah auf die Weste mit düsterem Blick und nickte.

»Ja, Sir.«

»Hab ich nicht cremefarben gesagt?«

»Ja, Sir. Ich dachte – ich dachte, es wäre creme.«

»Mein lieber Freund, es ist – es ist – ich kann nicht sagen, was es ist. Und erbsengrün!« Er schauderte.

Jim griff hastig nach dem Kleidungsstück und schaffte es fort.

»Und bring mir den bestickten Satin. Ja, die ist richtig – eine Augenweide!«

»Ja, Sir«, stimmte der beschämte Jim zu.

»Dieses eine Mal will ich dir verzeihen«, meinte Mylord zwinkernd. »Was tun unsere beiden Freunde?«

Salter beugte sich aus dem Fenster.

»Sie sind ins Haus gegangen, Sir. Nein, da kommt grade der kleine Weberknecht! Er scheint's eilig zu haben, Euer Gnaden!«

»Ah!«, murmelte Seine Lordschaft. »Da – hilf mir in diesen Rock. Danke.«

Es dauerte geraume Zeit, bis Mylord in das Prunkstück aus Satin gekleidet war, das sich wie eine zweite Haut über seinen Rücken spannte. Er schüttelte die Handkrausen aus und streifte stirnrunzelnd den Smaragdring über seinen Finger.

»Ich glaube, ich werde ein paar Tage hierbleiben«, sagte er plötzlich. »Um – äh – jeglichen Verdacht zu zerstreuen.« Er warf Jim unter gesenkten Wimpern einen Blick zu.

Es war nicht Salters Art, seinem Herrn unnötige Fragen zu stellen oder sich über irgendeinen seiner Entschlüsse zu wundern. Es genügte ihm, seine Befehle zu empfangen und prompt auszuführen und ihn im Übrigen mit rührender Ergebenheit zu verehren. Er folgte ihm blindlings, treu wie ein Hund, und war glücklich, ihm dienen zu dürfen.

Carstares hatte ihn – heruntergekommen und arbeitslos – in Frankreich aufgelesen und als Kammerdiener engagiert. Seitdem begleitete er Mylord auf Schritt und Tritt und erwies sich bald als unschätzbarer Begleiter, denn trotz seines dämlichen Gesichtsausdrucks war er keineswegs auf den Kopf gefallen, was ihn dazu befähigte, Lord John im Zuge seiner unrühmlichen und tollkühnen Laufbahn als Straßenräuber aus mehr als einer Klemme zu helfen. Vielleicht beruhte das gute Einvernehmen zwischen den beiden auch darauf, dass Jim seinen unberechenbaren Herrn besser verstand als jeder andere. Auch jetzt erriet er dessen Absicht und erwiderte den Blick mit einem listigen Zwinkern.

»Die zwei haben Sie sich also heute vorgeknöpft, Sir?«, fragte er, indem er mit dem Daumen zum Fenster hin deutete.

»Mhm, es scheint fast so – Mr. Bumble Bee und Gefährten. Ich glaube, ich weiß den ersteren nicht so recht zu schätzen. Aber bitte – vielleicht denkt er von mir dasselbe. Ich sehe schon, ich muss diese Bekanntschaft fördern.«

Jim grunzte verächtlich, was ihm einen forschenden Blick eintrug.

»Du bist von unserem Freund nicht begeistert? Ich bitte dich – du darfst ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilen. Wer weiß, vielleicht besitzt er eine schöne Seele. Aber ich kann's mir nicht vorstellen, nein, ich kann's mir beim besten Willen nicht vorstellen!« Mylord lachte leise. »Weißt du was, Jim? Ich habe das Gefühl, ich werde mich heute Abend köstlich amüsieren!«

»Ganz bestimmt sogar, Euer Gnaden. Es wär für Sie ein Kinderspiel, den Dicken an der Nase herumzuführen.«

»Höchstwahrscheinlich. Aber mit ihm habe ich's voraussichtlich nicht zu tun, sondern mit den erlauchten Amtspersonen dieser reizenden Stadt. Kommt da nicht gerade der kleine Weberknecht zurück?«

Salter schaute aus dem Fenster.

»Ja, Sir – mit drei anderen.«

»Aha. Sei so gut und gib mir meine Schnupftabakdose. Und meinen Stock. Danke. Es wird Zeit, dass ich in Erscheinung trete. Und bitte denk daran, dass ich direkt aus Frankreich komme und mit häufigen Unterbrechungen nach London reise. Jetzt tu mir noch den Gefallen und mach ein besonders einfältiges Gesicht. Ja, so ist es ausgezeichnet.«

Jim grinste entzückt. Er riss mit Grandezza die Tür auf und blickte »Sir Anthony« nach, wie dieser durch den Gang zur Treppe stolzierte.

Im Kaffeesalon erzählte der reiche Geschäftsmann namens Fudby mit viel Pathos und so mancher eindrucksvollen Pause dem Bürgermeister, dem Stadtsyndikus und dem Gerichtsdiener von Lewes die Geschichte seines Missgeschicks. Alle drei waren von Mr. Chilter, seinem Schreiber, herbeigeholt worden, denn je größer die Zuhörerschaft, desto besser wurde Mr. Fudbys Laune, so dass sich ihm, trotz des Verlustes seiner kostbaren Geldschatulle, Gelegenheit bot, die Situation auf seine Weise zu genießen.

Auf Mr. Hedges, den Bürgermeister, traf das nicht zu. Er war ein zappeliger kleiner Mann, der an Verdauungsstörungen litt und den die Angelegenheit schon aus dem Grund nicht interessierte, weil er viel zu hungrig war. Dieser Mensch hatte ihn nämlich vom Dinner aufgescheucht – möglicherweise fand er ihn deshalb so wenig sympathisch und sah keine Möglichkeit, etwas für ihn zu tun. Andererseits war ein Straßenraub allerdings eine ernste Sache, die sich nicht einfach ignorieren ließ. Also lauschte er mit geheuchelter Anteilnahme der epischen Schilderung des Ereignisses, bemühte sich um einen möglichst klugen Gesichtsausdruck und stieß gelegentlich mitfühlende Laute aus.

Je mehr er von dem Dicken sah und hörte, umso weniger konnte er ihn leiden. Auch der Stadtsyndikus teilte diese Ansicht, denn Mr. Fudby hatte ohne jeden Zweifel etwas an sich, was ihn bei seinen Mitmenschen nicht gerade beliebt machte, besonders wenn sie einem niedrigeren gesellschaftlichen Rang angehörten. Der Gerichtsdiener machte sich keine großen Gedanken. Nachdem er – völlig zu Recht – beschlossen hatte, dass ihn der Tatbestand nicht das Geringste anging, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und starrte gelangweilt zur Decke empor.

Mr. Fudbys Vortrag besaß überraschend wenig Ähnlichkeit mit der wahren Begebenheit, sondern war eine auf der Reise nach Lewes entstandene, fantasievoll ausgeschmückte Version seines Abenteuers, in der er sich durch bewundernswürdige Tapferkeit auszeichnete.

Er redete noch immer, als Mylord den Raum betrat. Carstares hob träge sein Monokel, um die versammelte Gesellschaft zu mustern, verbeugte sich leicht und ging zum Kamin hinüber, wo er sich in einen Lehnstuhl setzte, ohne die Anwesenden zu beachten.

Mr. Hedges hatte auf den ersten Blick erkannt, dass es sich hier um einen Grandseigneur handelte, und wünschte, Mr. Fudby würde seine Stimme etwas dämpfen. Aber dieser war so begeistert über den neuen Zuhörer, dass er noch um einen Grad lauter und mit viel Genuss das bereits ausführlich erörterte Thema weiter breittrat.

Mylord gähnte graziös und nahm eine Prise Schnupftabak.

»Ja doch, ja«, sagte Mr. Hedges leicht gereizt, »man kann die Runners aus London kommen lassen, aber sonst wüsste ich wirklich nicht, wie ich Ihnen behilflich sein könnte. Bitte – wenn Sie damit einverstanden sind? Es muss natürlich auf Ihre Kosten gehen, Sir.«

Mr. Fudby fuhr auf.

»Auf meine Kosten? Sagten Sie, auf meine Kosten? Ich bin überrascht! Ich wiederhole – ich bin überrascht!«

»Tatsächlich, Sir? Ich kann natürlich auch dem Ausrufer befehlen, die Runde zu machen. Er könnte das Pferd beschreiben und – äh – eine Belohnung für die Ergreifung eines jeden anbieten, der ein solches Tier besitzt. Aber« – er zuckte die Achseln und blickte zum Stadtsyndikus hinüber – »ich verspreche mir davon keinen großen Erfolg. Was meinen Sie, Mr. Brand?«

Der Beamte spitzte die Lippen und hob bedauernd die Hände.

»Ich fürchte, Sie haben recht, ja ich bin sogar überzeugt, dass Ihre Vermutung stimmt. Ich würde Mr. Fudby raten, überall in der Umgebung eine Proklamation anschlagen zu lassen.« Er lehnte sich mit der Miene eines Mannes zurück, der seinen Teil zur Arbeit beigetragen hat und nicht beabsichtigt, noch weitere Hilfe anzubieten.

»Ho!«, schnaufte Fudby und blies die Wangen auf. »Diese Ausgabe wird mich zwar empfindlich treffen, aber ich glaube, man muss sie riskieren. Allerdings kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass es dem Schurken nie gelungen wäre, mir meine zweihundert Guineen zu rauben, wenn Sie, Chilter, sich nicht so erbärmlich feige benommen hätten – ja, erbärmlich feige, sage ich!«

Er schnüffelte ein bisschen und bedachte seinen heftig errötenden, aber schweigenden Sekretär mit einem vorwurfsvoll verächtlichen Blick. »Mein Kutscher wenigstens versichert mir, er würde das Pferd sofort wiedererkennen. Von dem Mann selbst hat er leider nicht viel gesehen. Chilter! Wie hat er den Gaul beschrieben?«

»Oh – äh – eine Fuchsstute, Mr. Fudby, braun, mit einer weißen, halbmondförmigen Blesse und einem weißen Vorderfuß.«

John beschloss, dass es Zeit war, in das Spiel einzugreifen. Er drehte sich in seinem Stuhl um und richtete sein Monokel auf Mr. Chilter.

»Wie war das bitte?«, fragte er affektiert.

Mr. Fudbys Augen strahlten auf. Endlich bekundete der feine Herr doch noch ein wenig Interesse! Er begann eilig, seine Geschichte noch einmal hervorzusprudeln. Carstares musterte ihn kalt, worauf Mr. Hedges, der das bemerkte, den Redefluss hastig unterbrach.

»Äh – ja, Mr. Fudby – schon gut. Verzeihen Sie, Sir, aber ich habe nicht die Ehre, Ihren Namen zu kennen?«

»Ferndale«, sagte John. »Sir Anthony Ferndale.«

»Äh – ja –« Mr. Hedges verneigte sich. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen mit unseren Belangen zur Last falle –«

»Aber keineswegs«, erwiderte Mylord liebenswürdig.

»Oh – äh – es ist – die Sache ist nämlich die – diese – äh – Herren hatten das Pech, vor kurzem auf offener Straße überfallen zu werden.«

Sir Anthony betrachtete die ganze Runde durch sein Monokel. Auf seinen Zügen malte sich gelindes Erstaunen.

»Alle diese Herren?«, fragte er höflich.

»Oh, nein, nein, nein, Sir! Nicht alle! Nur Mr. – äh –«

»Fudby«, ergänzte dieser patzig und stellte fest, dass sich Sir Anthony frostig verneigte. Sofort stemmte er sich von seinem Stuhl hoch, stützte die Hände auf den Tisch und beugte langsam und mit sichtlicher Mühe sein Rückgrat. Sir Anthony neigte den Kopf, worauf Mr. Fudby die anstrengende Übung ein zweites Mal und mit noch größerer Würde als zuvor auf sich nahm. Mr. Hedges beobachtete ein krampfhaftes Zucken um Sir Anthonys Lippen. Er wartete, bis Mr. Fudby sich setzte, und fuhr dann fort: »Ja – Mr. Fudby und Mr. –«

»Mein Schreiber!«, schnappte der Dicke.

Sir Anthony bedachte Mr. Chilter mit einem besonders reizenden Lächeln und wandte sich dann wieder Mr. Hedges zu.

»Ach so. Ein Überfall bei Tag, sagen Sie?«

»Am helllichten Tag!«, trompetete Mr. Fudby.

»Ah – ja, ja«, bremste ihn der Bürgermeister, der einen neuerlichen Ausbruch befürchtete. »Vielleicht haben Sie zufällig so ein Tier gesehen, wie es Mr. – äh – Chilter beschrieben hat?«

»Tja, das ist in der Tat höchst merkwürdig«, sagte Carstares gedehnt, »aber ich habe gerade heute ein solches Pferd gekauft.« Er zog eine Augenbraue hoch und blickte mit einem forschenden Lächeln auf die verblüfften Gesichter.

»Na bitte!«, japste Mr. Fudby. »Na bitte!«

»Lieber Himmel, Sir, was für eine Fügung des Schicksals! Darf ich fragen, wo und von wem Sie es erworben haben?«

»Die Stute ist noch keine zwei Stunden in meinem Besitz. Ich habe sie auf dem Weg hierher einem schäbig aussehenden Landstreicher abgekauft. Dabei fand ich es noch eigenartig, wie der Kerl zu einem Vollblut kam, und wunderte mich, warum er es so eilig hatte, das Tier loszuwerden.«

»Wohl deshalb, weil er wusste, dass er auf einem lebenden Beweisstück saß«, erklärte Mr. Fudby zuvorkommend.

»Ach, natürlich. Vielleicht möchten Sie das Pferd gern sehen? Ich werde meinem Diener sofort –«

»Oh, nein, ich bitte Sie!«, rief der Bürgermeister. »Wir würden uns nicht im Traum einfallen lassen, Ihnen eine solche Mühe –«

»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte John mit einer Verbeugung, wobei er inständig hoffte, Mr. Fudby möge nicht verlangen, Jenny zu besichtigen, denn er war sicher, sie würde ihn durch ihre unverkennbare Zuneigung verraten.

»Nein, nein, Sir Anthony, das ist wirklich nicht nötig. Ich danke Ihnen vielmals. Mr. Fudby, wenn Sie nun die Güte haben wollen, auch den Mann zu beschreiben, damit ich die Verlautbarung aufsetzen kann.«

»Beschreiben Sie ihn, Chilter!«, befahl Mr. Fudby verdrießlich. Der kleine Schreiber lächelte plötzlich.

»Aber gern, Sir!«, antwortete er bereitwillig. »Es war ein richtig wüster Bursche, ungeheuer groß –«

»Wie groß?«, unterbrach ihn der Stadtsyndikus. »Sechs Fuß?«

»Mindestens!«, log Mr. Chilter. »Und dick.«

Johns Schultern zuckten.

»Dick, sagen Sie?«, fragte er sanft.

»Sehr«, versicherte Mr. Chilter. »Und ungehobelt! Diese derbe Sprache – lauter Flüche!«

»Sein Gesicht konnten Sie vermutlich nicht sehen?«

Mr. Chilter zögerte.

»Nur Mund und Kinn«, sagte er, »und da fiel mir eine lange Narbe auf, die sich von der Unterlippe zum – äh – Hals hinzog.«

Unwillkürlich streichelte Carstares sein makelloses Kinn. Entweder war der Kleine ein geborener Aufschneider, oder er wollte aus irgendeinem Grund verhindern, dass man den Räuber fasste.

»Nun, Sir Anthony?«, fragte der Bürgermeister. »Passt diese Beschreibung auf Ihren Mann?«

Mylord runzelte nachdenklich die Stirn.

»Groß«, überlegte er bedächtig, »und dick – Sie sagten doch dick, nicht wahr, Mr. Chilter?«

Eifrig bekräftigte dieser seine Behauptung.

»Ah! Und mit einer langen Narbe – ja, das ist er bestimmt. Außerdem«, fügte er hinzu, »schielt er auf dem linken Auge. Alles in allem ein ausgesprochen hässlicher Gesell.«

»Es scheint so, Sir Anthony«, warf der Bürgermeister trocken ein. Er glaubte kein Wort von dieser letzten Bemerkung, sondern nahm an, dass der noble Herr sich auf ihre Kosten amüsierte. Trotzdem hütete er sich, die lästige Sitzung auch nur durch einen Mucks zu verzögern, und schrieb fein säuberlich die ganzen lächerlichen Einzelheiten nieder. Dann erklärte er noch, es könne nicht allzu schwierig sein, den Mann zu finden, und machte sich zum Aufbruch bereit.

Der Stadtsyndikus erhob sich ebenfalls und klopfte dem Gerichtsdiener auf die Schulter, worauf dieser folgsam hinter dem Bürgermeister aus dem Zimmer trottete.

Mr. Fudby stand auf.

»Ich bezweifle sehr, dass ich mein Geld jemals wiedersehen werde«, sagte er bissig. »Chilter, wenn Sie nicht so –«

»Darf ich Ihnen eine Prise Schnupftabak offerieren, Mr. Chilter«, fragte Mylord freundlich und bot dem Sekretär seine mit Juwelen besetzte Dose an. »Sicher möchten Sie jetzt gern meine Stute sehen, Sir?«

»Ich verstehe nichts von Pferden«, schnaubte Mr. Fudby. »Es ist ja mein Schreiber, der anscheinend sämtliche Details behalten hat«, ergänzte er spitz.

»Dann erweisen Sie mir bitte die Ehre, mich zu den Stallungen zu begleiten, Mr. Chilter. Es wäre gut, in diesem Punkt Gewissheit zu haben. Mr. – äh – Fudby – Ihr ergebener Diener.«

»Und nun habe ich ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, mein Lieber«, sagte Carstares, während sie durch den kleinen Garten gingen.

»Mit mir, Sir? Oh – äh – wirklich, Sir Anthony?«

Chilter blickte auf und sah, dass der fremde Herr lachte.

»Ja, ein ausgesprochen kapitales Huhn sogar! Sie haben mich als Fettwanst beschrieben!«

Chilter fiel beinahe in Ohnmacht.

»Sie, Sir?«, fragte er atemlos. Er war starr vor Staunen.

»Von meinen ungehobelten Flüchen und der langen Narbe ganz zu schweigen!«

Mr. Chilter blieb mitten auf dem Weg stehen.

»Sie waren das, Sir – die ganze Zeit über? Sie haben uns überfallen? Waren Sie der Mann, der den Schlag aufriss?«

»Ja, dieser Schurke bin ich, und ich möchte mich hiermit gleich noch einmal für seine unverzeihliche Unachtsamkeit entschuldigen. Aber jetzt erklären Sie mir, warum Sie sich solche Mühe gaben, diesen Siebenschläfern Sand in die Augen zu streuen!«

Sie gingen langsam weiter.

»Ich – ich weiß nicht, Sir«, stotterte der kleine Schreiber errötend. »Ich fand Sie einfach so sympathisch, und – und –«

»Verstehe. Sie haben mir wirklich sehr geholfen, Mr. Chilter. Haben Sie irgendeinen Wunsch, den ich Ihnen als Zeichen meiner Dankbarkeit erfüllen könnte?«

Wieder stieg dem kleinen Mann das Blut in die Wangen, und er hob stolz den Kopf.

»Ich danke Ihnen, Sir, aber das ist nicht nötig.«

Mittlerweile hatten sie den Stall erreicht. Carstares schob die Tür auf, und sie traten ein.

»Dann machen Sie mir die Freude, dies als Beweis meiner Hochachtung anzunehmen.«

Mr. Chilter starrte auf den Smaragdring, der ihm von der Handfläche Mylords entgegenglühte. Er hob den Blick zu den blauen Augen empor und stammelte: »Wirklich, Sir, ich – ich –«

»Er ist ehrlich erworben«, drängte John. »Kommen Sie, Mr. Chilter, Sie wollen mich doch nicht kränken! Behalten Sie ihn als Andenken an einen dicken Mann, der Sie rücksichtslos auf die Straße stieß.«

Der Schreiber nahm den Ring mit zitternden Fingern.

»Ich danke Ihnen ganz –«

»Aber nein, mein Lieber, ich habe Ihnen für Ihre Hilfe zu danken ... Und nun schauen Sie sich meine Jenny an! Na, mein Mädchen?« Die Stute hatte ihm, als sie seine Stimme hörte, sofort den Kopf zugewandt und wieherte und scharrte ungeduldig in ihrer Box.

»Ich begreife überhaupt nichts, Sir – weder dass Sie ein Straßenräuber sind, noch warum Sie gerade mich durch Ihr Vertrauen geehrt haben –, aber – ich danke Ihnen.«

Mit diesen Worten legte Mr. Chilter seine Hand in die Mylords und fühlte zum zweiten Mal in seinem Leben den festen, freundschaftlichen Druck dieser warmen Finger.

»Um Gottes willen, Euer Gnaden! Sie haben Ihren Smaragd verloren!«

»Nein, Jim. Verschenkt.«

»Sir!«

»Mhm. Dem kleinen Weberknecht.«

»A-aber –«

»Und dick hat er mich auch noch genannt.«

»Wie hat er Sie genannt, Sir?«, fragte Salter verwundert.

»Ja, sogar ausgesprochen fett. Übrigens, damit du Bescheid weißt, ich habe Jenny heute in Fittering dem frechen Kerl abgekauft, der Mr. Bumble Bee überfallen hat.« Er schilderte Jim kurz, was sich unten ereignet hatte. Als er fertig war, schüttelte der Diener streng den Kopf.

»Aber Sir!«

»Was hab ich denn getan?«

»Warum haben Sie dem Weberknecht reinen Wein eingeschenkt? So eine Unvorsichtigkeit! Wahrscheinlich wird er's dem Dicken verraten, und dann haben wir die ganze Stadt auf dem Hals!«

»Da kennst du unsern Mr. Chilter aber schlecht«, sagte sein Herr gelassen. »Reich mir den Puder.«