Charlie in Hamburg | Samstag, den 02. September
„St. Peter-Ording?! Chef, das kannst du nicht machen! Ich bin eine Stadtpflanze. Du willst mich aufs platte Land an die Nordsee versetzen? Und was soll ich da? Die Touristen davon abhalten, die Schafe zu piesacken
? Ich bin Kommissarin! Ein Mitglied der Mordkommission. Ich habe jahrelang großartige Arbeit geleistet. Das kannst du mir nicht antun!“
Charlotte Wiesinger redete sich so in Rage, dass ihre dunklen Locken in alle Richtungen tanzten. Von dem Stuhl aufgesprungen rannte sie aufgeregt vor dem Schreibtisch ihres Vorgesetzten hin und her. Ihr herzförmiges gebräuntes Gesicht war puterrot angelaufen, aus den dunkelbraunen Augen schossen Blitze. Um ihre Empörung zu unterstreichen, fuchtelte sie mit den Armen herum, als sie ihre Rede fortsetzte: „Es war nur ein Fehler - ein einziger Fehler in zehn Jahren. Ich kann jetzt nicht weg aus Hamburg … bitte tu
´ mir das nicht an!“ Als sie abrupt stehenblieb, guckte sie Hauptkommissar Matthias Bartsch direkt in die Augen.
„Charlie, bitte reg´ dich nicht so auf. Ich bin auf deiner ...“
„Ich soll mich nicht aufregen? Mein ganzes Leben bricht gerade zusammen! Und du sagst, ich soll mich nicht aufregen! Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!“ Charlie setzte ihren Marsch durch das Büro weiter fort. Trotz ihrer schlanken Figur bei einer Körpergröße von lediglich 1,58m erzeugte sie Energie wie ein Wirbelsturm. Sie tobte weiter: „Weißt du, wie viele Überstunden ich in den letzten Jahren angesammelt habe? Wie viele Abende ich für den Job hier geopfert habe? Glaubst du, das hat meiner Beziehung gutgetan?“
Wieder blieb sie abrupt stehen, schaute aber dieses Mal zu Boden. So schnell wie der Ausbruch begonnen hatte, endete er nun. Über den Rauswurf ihres Verlobten Andreas vor zwei Monaten, hatte sie im Revier bisher mit niemanden geredet. Ihre Hochzeit war längst für den kommenden Mai geplant, als sie an jenem Tag einmal früh nach Hause kam.
Zu früh.
Und ihn mit einer anderen erwischte. Der Klassiker. Es lief alles ab wie in einem miserablen Film. Es hätte nichts zu bedeuten, es sei nur Sex gewesen. Er betrunken und einsam. Sie dafür so biegsam – eine Yoga-Trainerin. Sie war nicht einmal hübsch. Das hatte Charlie umso mehr verletzt.
Sie war erstmal abgerauscht, hatte sich bei ihrer Freundin ausgeheult. Am nächsten Tag stellte sie ihm die Koffer vor die Tür.
Er war auf den Hund gekommen – so viel zum Thema Yoga.
Aber sie hatte gelitten. Mit einem solchen Verhalten hätte sie bei Andreas nie gerechnet. Wahrscheinlich war sie deshalb an dem verhängnisvollen Tag im letzten Monat unkonzentriert gewesen. Zu schnell zog sie ihre Waffe.
Und schoss.
Weil sie eine präzise Schützin war, traf sie ihn mitten ins Herz. Hinterher stellte sich heraus: er war unbewaffnet!
Da nützte es nichts, dass er außerdem ein absolutes Schwein war, Abschaum der Gesellschaft, der blutjunge Mädchen aus Osteuropa köderte, mit Heroin versorgte und darüber hinaus auf den Strich schickte. Er war dafür bekannt, immer eine Pistole bei sich zu führen und keine Skrupel zu haben, sie zu benutzen.
An diesem Tag war alles anders. Das wurde ihr zum Verhängnis.
Ein Kollege sagte vor der Untersuchungskommission aus.
Die Situation sei nicht kritisch gewesen. Lächerlich!
Vielen Dank, Kollege!
Als Charlie sich wortlos wieder auf den Besucherstuhl vor dem ordentlichen Schreibtisch setzte, ließ sie abwesend den Blick darüber schweifen. Wie man im Polizeidienst so akribisch Ordnung hielt, war ihr schon immer schleierhaft gewesen. Ihr Schreibtisch war gewöhnlich das pure Chaos, die Farbe der Tischplatte meistens nicht erkennbar. Sie schaute ihn an.
„Was ist die Alternative?“
Matthias hatte sie immer unterstützt. Es musste einen Ausweg geben. Er nahm den Blickkontakt auf, schien abzuwägen, wie er das Gespräch fortsetzen sollte, ohne Anlass zu geben, den Sturm noch einmal durch sein Büro wirbeln zu lassen.
„Charlie, ich bin auf deiner Seite! St. Peter ist deine Chance einer Suspendierung zu entgehen. Außerdem sollst du dort keine Schafe hüten. Heute Morgen ist ein Toter an den Strand gespült worden. Alles weist auf ein Gewaltverbrechen hin. Die Polizei vor Ort hat Unterstützung angefordert, weil sie nicht nur unterbesetzt, sondern auch nicht entsprechend ausgebildet sind – geschweige denn über die Erfahrung verfügen.“
„Ein Mord?“ Charlies Interesse war
sofort geweckt.
„Ja, ein Mord.“
„Würde ich die Ermittlungen leiten?“
„Ja, so sieht es aus. Ist die schöne kleine Stadt an der Nordsee, die jedes Jahr Tausende Urlauber an ihren außerordentlich breiten Strand lockt, vielleicht doch nicht so unattraktiv?“
Charlie zog eine Grimasse. „Verarsch´ mich nicht, sonst muss ich wieder wütend werden. Vielleicht geht dann etwas in deinem schönen Büro zu Bruch.“
„Ah, ich sehe, du hast schon wieder Oberwasser. Was ein Mord doch alles bewirken kann.“
Charlie ignorierte sein Gefrotzel. „Hast du noch mehr Informationen für mich?“
„Du nimmst die Versetzung bis auf weiteres also an?“ Matthias hakte lieber noch einmal nach, bevor sie einen Rückzieher machte.
„Bis auf weiteres klingt irgendwie bedrohlich, aber scheinbar habe ich ja sowieso keine Wahl. Vielleicht ist ein Ortswechsel im Moment gar nicht so schlecht. Berlin oder Frankfurt wären mir allerdings lieber gewesen.“
„Tja, nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung! Sieh es einmal positiv. An der Küste bist du die Queen der Mordkommission, in einer anderen Großstadt wärst du lediglich die Neue.“
„Jaja, das stimmt so auch nicht. Ich bin eine wirklich gute Ermittlerin. Aber lass´ uns zum Punkt kommen. Hast du schon weitere Fakten?“ Charlie wurde ungeduldig, den Ärger über die Versetzung hatte sie schon fast vergessen.
„Es ist ein bisschen ungewöhnlich. Der Leiter der Schutzstation Wattenmeer wurde nach ersten Erkenntnissen gestern Nacht bei einer Wanderung ins Watt erschlagen. Er ist erst vor einem Jahr nach Eiderstedt gekommen und hat sehr zurückgezogen gelebt. Ein Naturfreak, auf den ersten Blick ohne offensichtliche Konflikte oder Feinde. Fahr´ also nach Hause, pack´ ein paar Klamotten und ab auf die Halbinsel.
“
„Danke, Chef. Ich werde dich nicht blamieren – und wenn ich den Fall löse … kann ich dann wieder nach Hamburg kommen?“
„Das sehen wir später. Erst einmal muss Gras über die Angelegenheit wachsen. Tu einfach dein Bestes. Vielleicht gefällt es dir dort am Ende so gut, dass du gar nicht mehr zurückwillst.“
Charlie wiegte skeptisch den Kopf. Wieder kam Bewegung in ihre lockige Mähne.
„Komm, das war nicht so ernst gemeint. Jetzt ist es die beste Alternative. Quasi ein Glücksfall – auch wenn sich das ein bisschen respektlos anhört. Immerhin ist der arme
Kerl tot.“
Sie nickte.
„Gut, ich gehe dann packen. Berichte ich dir?“
„Ja, melde dich ab und zu. Halte mich auf dem Laufenden.“
„Geht klar.“
Mit einem konzentrierten Nicken war sie aus
der Tür.