Alexander in Lindau | 13. Mai, sieben Jahre früher
Zum gefühlt hundertsten Mal schaute Alexander Blumenthal auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand, doch die Zeiger schlichen über das weiße Zifferblatt. Das Kribbeln in seiner Magengegend war eindeutig eine ganze Horde Schmetterlinge, die schon mit dem Feiern des fünften Hochzeitstages begonnen hatten. Er fühlte sich verliebt wie am ersten Tag. Wenn er an das Essen dachte, welches er als Überraschung für sie plante, bekam er trotz sorgfältiger Vorbereitung feuchte Hände sowie Hitzewallungen. Heimlich war Alexander zu dem Kochkurs gegangen, der an sechs Abenden stattfand, um ihn in die Zubereitung von französischen Köstlichkeiten einzuweihen. Dabei schützte er sechs Mal Überstunden vor und fühlte sich schlecht dabei, obwohl er es für sie tat.
Heimlichkeiten und Lügen waren einfach nicht seine Welt, passten weder zu ihm noch zu der Ehe, die sie fü
hrten.
Lisa-Marie war das Beste, das ihm je passiert war. Aus diesem Grund plante er für den heutigen Tag ein Drei-GängeMenü, in der Hoffnung auf eine gelungene Überraschung. Die Lebensmittel ebenso wie die Blumen waren bestellt und warteten auf Abholung. Wenn es doch nur endlich drei wurde, er konnte es nicht mehr abwarten.
Ein weiterer Blick zur Uhr: noch 10 Minuten. Ungeduldig räumte er seinen Schreibtisch auf, fuhr den Rechner herunter, stellte schließlich sein Telefon auf seine Kollegin um. Jetzt bloß keine Anrufe mehr! Alles war perfekt vorbereitet. Ihr fünfter Hochzeitstag!
Unwillkürlich dachte er an den Moment zurück, als er am Altar auf sie gewartet hatte. Das Kribbeln im Bauch war heute noch genauso intensiv wie an diesem unvergesslichen Tag. Damals konnte er sein Glück nicht fassen. Die Jahre davor waren kompliziert gewesen – bis zu dem Tag als Lisa-Marie in sein Leben tanzte. Und ihn mitriss. Er verliebte sich im ersten Augenblick und ließ sie nicht mehr los. Ihre Fröhlichkeit steckte ihn an, machte alles einfach. Sie beschlossen bereits ein halbes Jahr später zu heiraten und setzten kurzfristig einen Termin fest.
Sie sah so wunderschön in ihrem langen, weißen, mit Perlen bestickten Kleid aus. Ihr rotes lockiges Haar trug sie offen, statt eines Schleiers wählte sie einen Blütenkranz. Als ihr Vater sie zum Altar führte, schwoll sein Herz über vor Glück. Mit Tränen der Rührung in den Augen nahm er sie in Empfang. Sie gaben sich individuelle Ehegelübde, versprachen sich Liebe, Treue und aufeinander aufzupassen - außerdem nie in langweiliger Routine zu versinken. Und blieben einfach glücklich.
Mit ihr an seiner Seite schaffte er alles, was er sich vornahm. Sie zog von Hamburg zu ihm in die Berge, fand einen Job und lebte sich ein. Er forcierte seine Karriere, während sie ein Nest baute.
Es gab nur einen einzigen Wermutstropfen: So sehr sie sich eine Familie wünschten, sie wurde
nicht schwanger. Nach zwei Jahren ließen sie sich untersuchen. Die Diagnose war niederschmetternd: Er konnte keine Kinder zeugen. Die Alternativen wie künstliche Befruchtung oder Adoption diskutierten sie nächtelang und entschieden sich schließlich dagegen. Danach war das Thema gestorben, sie konzentrierten sich auf ihre Zweisamkeit, unternahmen Reisen in exotische Länder, von denen sie kitschige Souvenirs mitbrachten. Es gelang ihnen, das Glück festzuhalten. Eine Zeitlang kämpfte er mit der unterschwelligen Angst, verlassen zu werden. Doch diese Befürchtung war unbegründet, dafür liebte er sie umso mehr.
Die Überlegung, den heutigen Tag größer zu feiern, verwarfen sie nach kurzem Hin und Her. Es war ihr Tag. Seine Eltern lebten nicht mehr, ihre in Hamburg. Mit einigen engen Freunden planten sie für das Wochenende ein Essen in einem noblen Steakrestaurant in Friedrichshafen, aber heute gab es nur sie beide.
Erschrocken blickte Alexander auf die Uhr: zehn nach drei. Nun aber los! Endlich! Er musste sich beherrschen, um nicht aus seinem Büro zu rennen.
Schnell fuhr er in die Innenstadt. Beim Delikatessengeschäft fand er keinen Parkplatz, schaltete einfach die Warnblinkleuchten ein und ließ den Wagen auf der rechten Spur stehen. Er brauchte ja nicht lange. Seine Lieblingsverkäuferin, die ihn bereits entdeckt hatte, winkte ihm zu. Lächelnd betrat er den Laden.
„Grüß Gott, Herr Blumenthal. Ich gratuliere herzlich zu Ihrem Hochzeitstag! Die Freude ist Ihnen anzusehen. Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute für die nächsten fünf Jahre, ach was sag´ ich, für den Rest Ihres Lebens. Aber erstmal für heute viel Spaß sowie Erfolg beim Kochen als auch beim Feiern.“
„Ich danke Ihnen. Sind meine Taschen schon fertig gepackt? Ich habe es eilig.“
„Alles vorbereitet.“ Schwungvoll reichte sie Alexander zwei große Leinenbeutel über
den Tresen.
„Großartig! Nochmals vielen Dank. Ich werde beim nächsten Mal berichten.“ Lächelnd setzte er seinen Weg fort, um die Blumen abzuholen.
Er liebte diese Kleinstadt. Lauter freundliche Menschen, die sowohl den See als auch die Berge mochten und nett miteinander umgingen.
Auch der Strauß Blumen – zehn rote sowie zehn weiße langstielige Rosen - wartete schon auf ihn. Fünf Minuten später saß er wieder im Wagen. Schnell fuhr er nach Hause. Das Kribbeln in seiner Magengegend wurde intensiver, auch wenn ihm die Albernheit dieses Gefühls bewusst war, denn die offizielle Version lautete: Gemeinsames Essen in ihrem Lieblingsrestaurant. Treffen in der Wohnung um achtzehn Uhr.
Sein Plan umfasste zweieinhalb Stunden Vorbereitungszeit, es sei denn, Lisa kam ebenfalls früher nach Hause. Obwohl er es gar nicht abwarten konnte, sie in seine Arme zu schließen, hoffte er heute auf ihr nicht zu pünktliches Kommen.
Er war durch den Wind. Wenn er sich nicht langsam ein wenig beruhigte, würde er sich mit einem vermasselten Menü furchtbar blamieren. Dann bräuchte er doch die Reservierung im Restaurant, die es in Wirklichkeit ja nicht gab. Er blieb im Treppenhaus kurz stehen, um tief Luft zu holen. Nach drei Atemzügen spürte er, wie sich sein Herzschlag wieder normalisierte. Schon besser. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend erreichte er in Windeseile den dritten Stock. Aus dem lichtdurchfluteten geräumigen Wohnzimmer hatten sie einen herrlichen Blick über den Bodensee. Es war das Highlight der Wohnung, dort würde er den Tisch festlich decken – mit Kerzen, echten Servietten sowie den Kristallgläsern von seiner Großmutter, aus denen sie sonst nie tranken
.
Voller Vorfreude öffnete er die Tür und stutzte bereits am Eingang. Hatte Lisa nicht heute Morgen diese Schuhe getragen? Ein Verdacht beschlich ihn. Plante sie etwa die gleiche Überraschung wie er? Das war ihr zuzutrauen, es wäre geradezu typisch für sie beide. Obwohl das für sie sprach und er sich darüber freuen sollte, spürte er eine leichte Enttäuschung. Sein Aufwand, samt der ungewohnten Notlügen, war nicht unerheblich gewesen.
War das alles umsonst? Wie gerne wollte er sie bekochen, den Tisch decken, eine festliche Atmosphäre schaffen, bevor sie die Wohnung betrat. Er hatte es sich immer wieder ausgemalt, ihren Gesichtsausdruck, ihr Lächeln, erst Überraschung dann Freude.
Da hing ihr Schlüsselbund. Sie war bereits da! Alexander versuchte seine Enttäuschung beiseite zu schieben.
Naja, also gemeinsames Kochen. Vermutlich hatte sie auch eingekauft, dann würden es wohl sechs Gänge werden. Darüber musste er nun doch schmunzeln.
Er stellte die Taschen erst einmal im Flur ab, um das Papier von dem Blumenstrauß abzunehmen. Lisa liebte weiße Blumen. Für ihn mussten es an diesem Tag einfach rote Rosen sein. Das Lächeln erschien automatisch auf seinen Lippen, während er zum Wohnzimmer ging.
Es erstarb unmittelbar, als er den Raum betrat und Lisa dort am Tisch sitzen sah.