Torge in SPO | Samstag, den 02. September
Schwungvoll die Werkzeugkiste schließend beeilte sich Torge, zur Tür zu kommen. Er hatte während der Reparaturarbeiten das Gespräch zwischen Knud und der Kommissarin genau verfolgt. Nun war er wild entschlossen, bei der Begehung des Fundortes dabei zu sein.
Die Kommissarin aus Hamburg schien recht tough zu sein. Um keinen Preis wollte er seine Beteiligung an dem Fall aufgeben. Polizeiarbeit faszinierte ihn schon lange, doch bisher war hier noch nichts Spannendes passiert. Knuds bisherige Fälle beschränkten sich auf Diebstahl, Ruhestörung sowie Verkehrsdelikte – nicht selten von Touristen.  Nun gab es ein richtiges Verbrechen und er war es Michael Schwertfeger schuldig, seinen Teil zu der Aufklärung des Mordes beizutragen. Es würde ihn nicht wundern, wenn der Mörder nicht aus dieser Gegend kam. Wer von hier sollte den Leiter der Schutzstation in Westerhever umbringen? Und wie beunruhigend war der Gedanke, einen Mörder in ihrer Mitte zu haben. Das konnte einfach nicht sein.
Knud und die Wiesinger verließen gerade den Bungalow.
Torge beeilte sich, ihnen zu folgen, um die Führung zu dem Teil des Strandes zu übernehmen, an dem er den Toten gefunden hatte. War das wirklich erst heute Morgen gewesen?
Die Kommissarin gefiel Torge auf Anhieb. Sie wirkte nicht nur sympathisch, sie strahlte Energie und Selbstbewusstsein aus. Er musste sie einfach überzeugen, dass er in der Lage war, die Ermittlungen zu bereichern. Fiete würde bestimmt nächste Woche noch nicht wieder im Dienst erscheinen. Außerdem kam er seit Monaten nicht mehr von seinem Schreibtisch weg. Ein Mordfall mit Befragungen nicht nur im Ferienpark, sondern auf der gesamten Halbinsel, würde er nicht schaffen. Knud brauchte auf jeden Fall Unterstützung, die Frau – so gut sie auch in ihrem Job war – kannte sich hier nicht aus. Auf keinen Fall kam sie so schnell an alle Informationen heran wie er.
Als sie die Rezeption erreichten, verschwand Torge kurz hinter dem Tresen im Personalraum, um auszustempeln. Mittlerweile fast 21 Uhr erhellte nur noch ein Rest des Tageslichtes den Strand, als sie diesen kurz darauf erreichten. Der fast volle Mond hatte sich über die Kante des Horizontes geschoben und spiegelte sich auf dem Wasser der Nordsee, welches sich dem Strand von St. Peter-Ording immer weiter näherte. Torge beobachtete Knuds neue Kollegin genau. Es war für seinen Plan bestimmt hilfreich, sie so schnell wie möglich gut einschätzen zu können. Einen Moment lang starrte sie versunken auf das Naturschauspiel, das jedes Jahr Tausende an den langen, breiten Strand lockte. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Es war still geworden. Die Tagestouristen befanden sich auf dem Heimweg, die Urlauber hatten sich in ihre Quartiere zurückgezogen. Nur ein paar einsame Spaziergänger waren unterwegs. Im hellen Mondlicht kamen sie erst einmal ohne Lampe aus. 
Torge sah, wie die Kommissarin sich von dem Anblick des auflaufenden Wassers losriss, um sich an Knud zu wenden. Obwohl sie wusste, wer den Toten gefunden hatte, ignorierte sie Torge konsequent und stellte ihre Fragen ausschließlich dem Kollegen.
„Wo genau haben Sie Schwertfeger denn nun gefunden? Ist es noch weit?“
Der Hausmeister spürte ihre Ungeduld. Trotzdem überließ er erst einmal Knud das Antworten. Er wollte sie weder reizen noch gegen sich aufbringen. Schon entstand ein Plan, sie von dem Nutzen seiner Mitwirkung zu überzeugen. 
„Es ist gleich da vorne. Wir haben einen der Absperrstäbe mit dem rot-weißen Band stehen gelassen, damit wir die Stelle leicht wiederfinden können. Sehen Sie, da ist es schon.“
Kommissarin Wiesinger folgte mit ihrem Blick Knuds ausgestreckten Arm. Ihr Schritt beschleunigte sich. Torge bewunderte das Tempo, dass sie mit ihren kurzen Beinen bewältigte. Außerdem war sie mit Jeans, Turnschuhen sowie einem wetterfesten Anorak bestens für den Ausflug gekleidet.
An dem Stab angekommen, stoppte sie ihren forschen Schritt, um sich umzusehen. Die Wasserkante befand sich circa zwei Meter entfernt.
„Haben wir immer noch auflaufendes Wasser?“
„Ja, der Höhepunkt wird gegen 23 Uhr erreicht. Dann ist auch diese Stelle hier überspült.“
„Können Sie mir bitte die Lampe geben? Wo genau hat der Tote gelegen?“
Wieder richtete sich die Frage an Knud, doch dieses Mal antwortete er nicht, sondern wandte sich an Torge. Als er den Blick auffing, ergriff er das Wort.
„Ich war heute Morgen gegen 10 Uhr hier am Strand unterwegs...“
„Warum?“ Die Hamburgerin unterbrach ihn sofort. 
„Ich habe einen Spaziergang gemacht“, kam die prompte Antwort .
„Sie haben einen Spaziergang gemacht?“ Es lag so viel Ungläubigkeit in der Frage der Kommissarin, dass Torge sich nun doch zu ärgern begann.
„Ich war am Strand. Warum ist ja letzten Endes egal. Das Hochwasser hat den Leichnam von Michael Schwertfeger aus dem Watt mitgebracht. Er hat letzte Nacht dort eine Wanderung unternommen. Vermutlich allein. Das scheint er häufiger gemacht zu haben. Außerdem war er auch Naturführer für die Weiße Düne . Ein- bis zweimal pro Woche ist er mit Urlaubern ins Watt gegangen. Zumindest im Sommer.“
Noch einmal nickte Wiesinger abwesend. Offensichtlich war sie mit ihren Gedanken woanders. „Haben Sie seine Wertsachen sichergestellt? Handy, Brieftasche?“
Nun schaltete Knud sich wieder ein. „Nein, er hatte nichts dabei, nicht einmal einen Schlüssel.“
„Für einen Raubmord ein eher ungewöhnlicher Ort.“
Torge hatte den Eindruck, sie spräche mehr mit sich selbst als mit ihren Begleitern. 
„Gab es hier in der Vergangenheit schon einmal einen ähnlichen Fall?“
„Hier in SPO nicht. Das wüsste ich. Vielleicht auf Sylt. Ich kann morgen mal eine Anfrage an die Kollegen der Küste senden.“
„Ja, machen Sie das gleich morgen früh. Und der Strand ist sorgfältig abgesucht worden?“
Torge schluckte seinen Ärger hinunter. Die Kommissarin begann zu arbeiten und er war dabei.
„Wir haben heute Morgen alles abgesucht, also geschaut, was das Wasser ans Ufer gespült hat, aber wir haben nichts gefunden. Der Strand war allerdings voll mit Schaulustigen. Also hat es ein bisschen gedauert, bis die Absperrung stand. Möglicherweise hat jemand ein Fundstück als Souvenir mitgenommen.“
„Habseligkeiten eines Toten als Erinnerung an den Nordsee-Urlaub?
Die Männer zuckten als Antwort nur mit den Schultern. „Und als das Wasser wieder abgelaufen war, haben Sie noch einmal im Watt gesucht?“
Das bestätigten beide. Wiesinger hatte mittlerweile die Lampe eingeschaltet und ging nun an der Wasserkante den Strand entlang. Den Kopf geneigt blickte sie forschend auf den Boden, vermutlich hoffte sie, noch irgendetwas zu finden, was die Männer übersehen oder nicht als relevant erachtet hatten. Eine Spur, die der Täter hinterlassen hatte und die das Meer nun wieder freigab. Nach Torges Wissen bezüglich Ermittlungsarbeit waren die Gegebenheiten mehr als unbefriedigend. Vermutlich knapp 24 Stunden waren seit der Tat vergangen. Morgen früh würde die Kommissarin sicherlich mit dem Rechtsmediziner Kontakt aufnehmen. 
Torge beobachtete, wie sie den Strand in beide Richtungen erkundete. Manchmal bückte sie sich und begutachtete etwas aus der Nähe. Doch alles, was sie aufhob, ließ sie kurz danach wieder fallen. Zu gerne hätte er in ihren Kopf geschaut, um ihre Gedanken zu lesen. Wie konnte er sie dazu bringen, ihre Überlegungen mit ihm zu teilen? Dazu hatte er noch keine Idee. Vermutlich würde der Informationsstrom nur über Knud bei ihm ankommen, es sei denn, er war in der Lage, etwas herauszubekommen, was der Kommissarin nützlich war. Er musste schneller sein als sie.  „Okay, hier ist heute nichts mehr zu sehen. Wir können jetzt zurück in die Ferienanlage gehen.“ Sie schaute auf die Uhr. „Es ist bereits nach halb zehn. Ist die Managerin der Weißen Düne jetzt noch im Büro?“
„Finden wir es heraus. Ist gut möglich, dass sie an so einem Tag nicht pünktlich Feierabend macht. Immerhin war der Tote ja durch die Wattwanderungen mit dem Feriendorf verbunden. Ob sie viel über Michael Schwertfeger gewusst hat, weiß ich nicht. Viel hat scheinbar niemand über ihn gewusst. Er hat sehr zurückgezogen gelebt und auch nicht viel geredet. Besonders nicht über sich selbst. Morgen sollten wir auf jeden Fall zur Schutzstation fahren, um seine beiden Mitarbeiter zu befragen. Sie waren sehr schockiert, als sie von seinem Tod erfuhren. Immerhin arbeiteten sie schon über ein Jahr zusammen.“ Für Knud war das eine ausgesprochen lange Rede, doch er freute sich offensichtlich, auch einige Informationen beizusteuern.
Wie zum Einverständnis nickend marschierte die Kommissarin daraufhin los. Torge fragte sich unwillkürlich, was sie nun noch für den Abend plante. Womit setzte sie ihre Ermittlungen jetzt fort?