Marina in SPO | Samstag, den 02. September
Wenn sie gewusst hätte, wie mies der Tag werden würde, wäre sie vermutlich gar nicht aufgestanden. Sie hatte heute Morgen beim Frühstück schon so ein ungutes Gefühl gehabt. Ihr Kopf schmerzte, doch das war natürlich kein Grund, nicht ins Büro zu gehen. Sie war immer noch fassungslos über den Mord an ihrem Strand. Da es sich dabei ausgerechnet um Michael Schwertfeger handelte, war sie entsprechend schockiert. Sie hatte hier noch keine Freundschaften geschlossen. Das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden, begleitete sie bei den meisten ihrer Zusammentreffen. Der Leiter der Schutzstation, der aus Liebe zum Meer auch die Urlauber der Weißen Düne
durch das Watt führte, war ihr dagegen immer mit Respekt sowie Freundlichkeit begegnet. Obwohl sie mittlerweile nicht mehr als die Absprachen über die Wattwanderungen gemeinsam hatten und sich darüber hinaus nicht sahen, spürte sie einen irrationalen
Verlust.
Was für ein absoluter Scheißtag!
Der Blick zur Uhr bestätigte ihr: 21.30 Uhr, es war Zeit, Feierabend zu machen. Greta Petersen hatte sie längst nach Hause geschickt. Durch den stechenden Schmerz in ihrer linken Schläfe ließ ihre Konzentration zu wünschen übrig. Gerade als sie beschloss, ihren Computer herunter zu fahren, klopfte es an der Tür.
Ohne abzuwarten, wurde die Tür aufgerissen. Eine kleine Frau mit wilden braunen Locken betrat den Raum, dicht gefolgt von Knud Petersen. Bevor Marina sich ärgern konnte, ihren Arbeitsplatz nicht zehn Minuten früher verlassen zu haben, stand die Frau direkt vor Ihrem Schreibtisch, um ihr die Hand zu reichen.
„Kommissarin Charlotte Wiesinger aus Hamburg. Ich denke, ich bin Ihnen bereits angekündigt worden. Sie sind die Managerin der Ferienanlage?“
„Marina Lessing. Ja, Ihr Vorgesetzter hat mir eine Mail geschickt und angefragt, ob wir einen Bungalow für Sie frei haben. Leider kann ich Ihnen nur einen sehr Kleinen in der dritten Wasserlinie zu Verfügung stellen. Wir sind immer noch gut gebucht.“
„Jaja, damit komme ich schon klar.“
„Wollen Sie das Domizil erst einmal beziehen? Dann können wir uns morgen früh treffen. Vielleicht kann ich Sie mit Informationen unterstützen. Ich habe Michael Schwertfeger sehr geschätzt und es kommt mir unwirklich vor, ihn als Opfer eines Verbrechen zu sehen.“
Marina musterte die Frau, um einen Eindruck zu erhalten. Sie schätzte sie ungefähr zehn Jahre älter, als sie selbst war. Die Kommissarin war klein. Ihre wilden Locken tanzten, wenn sie beim Zuhören entweder nickte oder mit dem Kopf schüttelte. Sie hoffte, sie schnell wieder loszuwerden. Für heute reichte es wirklich. Sie brauchte jetzt dringend eine heiße Wanne und ein Glas Wein – vielleicht auch zwei - um sich zu entspannen. Die Befürchtung einer
langen Nacht, die ihr bevorstand, wenn sie nicht schleunigst verschwand, wurde plötzlich übermächtig. Schon kam die befürchtete Antwort.
„Ja, offensichtlich sind hier alle schockiert über Schwertfegers Tod. Umso wichtiger sind schnelle Informationen. Der Mord ist vermutlich bereits länger als 20 Stunden her und es wird Zeit, die Ermittlungen aufzunehmen. Sie kannten den Toten. Was können Sie mir über ihn berichten?“ Marina warf einen Blick zu Petersen. Der schien sich mit der Rolle in der zweiten Reihe ganz wohl zu fühlen. Von ihm war offensichtlich keine Unterstützung bezüglich der Vertagung auf den nächsten Tag zu erwarten. Seufzend fügte sie sich in ihr Schicksal.
Wie schon gesagt: Was für ein Scheißtag!
„Was wollen Sie denn wissen? Ich kann Ihnen nicht viel über Michael Schwertfeger sagen. Er hat hier in erster Linie die Schutzstation in Westerhever geleitet und sich sehr für Umwelt- sowie Tierschutz eingesetzt. Er liebte das Meer so sehr, dass er Spaß daran hatte, es anderen Menschen nahe zu bringen. Naja, genau genommen ist Spaß ein zu fröhlicher Ausdruck. Befriedigung oder Zufriedenheit würden den Punkt wohl eher treffen. Er war nicht nur stets freundlich, sondern auch reserviert. Ein Einzelgänger. Hatte weder ausgeprägt gute, aber auch nie schlechte Laune. Er war eben immer sehr zurückhaltend. Manchmal wirkte er ein wenig traurig – insbesondere, wenn er sich unbeobachtet fühlte.“
Die Kommissarin schien ihr mit wachsendem Interesse zuzuhören. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
„Sie haben ihn ja sehr ausführlich analysiert. Fühlten Sie sich zu ihm hingezogen?“
Marina fühlte, wie sie errötete. Die Direktheit der Kommissarin gefiel ihr ganz und gar nicht. Was bildete die sich ein? Kam hier abends um halb zehn in ihr Büro gestürmt und forderte Kooperation. Immerhin war Schwertfeger ja nicht einmal ein fester Mitarbeiter gewesen. Im Grunde hatte sie
keinerlei Veranlassung die Polizei bei ihren Ermittlungen zu unterstützen.
Ein weiterer Blick zu Petersen zeigte ihr sein ebenfalls gewecktes Interesse.
„Nein ... nein!“ Ihr Gestotter verschlimmerte die Lage. Das war auch ihr bewusst und am liebsten wäre sie aus dem Raum gestürzt, um sich die nächste Zigarette anzuzünden. Je länger ihr Schweigen dauerte, desto interessierter schaute das ungleiche Duo sie an.
Sie musste sich zusammennehmen. Noch ein paar Fragen möglichst etwas souveräner beantworten und dann endlich nach Hause. Sich straffend versuchte sie eine professionelle Miene aufzusetzen.
„Nein, ich fühlte mich nicht zu ihm hingezogen. Ich kannte ihn ja kaum. Wir haben meist einmal im Monat zusammengesessen, um die Wanderungen zu planen. Natürlich haben wir auch ein paar persönliche Worte gewechselt. Aber mehr war da nicht. Mehr weiß ich auch nicht über ihn. Wahrscheinlich können seine Mitarbeiter in der Schutzstation Ihnen viel umfangreichere Auskunft geben.“
Damit gab sich die Polizistin zufrieden. Marina hoffte, sie würde das Thema nicht vertiefen. Auch ihr hiesiger Kollege nickte zustimmend.
„Gut! Wann hat die letzte Wanderung unter seiner Führung für Ihre Gäste stattgefunden?“
„Das weiß ich nicht aus dem Kopf, das müsste ich nachschauen.“
„Ja, dann tun Sie das. Wir brauchen eine Liste der Teilnehmer. Am besten für ... wie lange bleiben Ihre Gäste durchschnittlich hier, oder noch besser maximal?“
„Warum?“
Die Gegenfrage schien sie etwas zu irritieren. Offensichtlich war die kleine Frau gewöhnt, ihre Bitten oder Befehle ohne große Widerworte ausgeführt zu
sehen.
„Warum? Weil ich hier in einem Mordfall ermittle und diese Informationen benötige.“ Ihr Ton wurde sowohl schärfer als auch fordernder.
„Die meisten bleiben im Sommer sieben oder vierzehn Tage“, gab Marina nach. „Im Juli und August müssen unsere Gäste ganze Wochen buchen. Heute sind viele abgereist. Samstag ist Bettenwechsel. Jetzt ab September wird es flexibler.“
„Heute sind viele abgereist?“, hakte Charlie nach.
„Ja.“
„Das ist ungünstig. Ich brauche also die Daten aller Wattwanderungen aus den Monaten Juli sowie August. Außerdem die Liste der Gäste verbunden mit der Info, in welchem Bungalow sie wohnen, bzw. gewohnt haben – für den Anfang nur für August bis in den September hinein. Sagen wir, bis Ende der Woche.“
„Das ist nicht möglich.“ Marina ging auf Konfrontation.
„Wie bitte?“
„Das fällt alles in den Bereich Datenschutz. Keiner meiner Gäste steht unter Mordverdacht. Sie können nicht einfach hier hereinspazieren und all diese Angaben fordern.“ Marina war sich sicher, mit dieser Einschätzung richtig zu liegen. Die forsche Kommissarin stellte die Krönung des anstrengenden Tages dar. „Sie benötigen dafür einen Durchsuchungsbefehl“, ergänzte sie, nicht ohne einen kurzen Seitenblick auf Petersen zu werfen, doch seine Miene verriet ihr nicht, ob sie auf dem Holzweg war.
„Das ist ja wohl nicht ihr Ernst, oder? Sie sind dazu verpflichtet, die Polizei zu unterstützen. Was soll es bringen, wenn wir eine Nacht verlieren während Sie meine Zeit verschwenden, indem Sie mich dazu zwingen, morgen den Beschluss zu besorgen?“
Marina war klar, dass es sich um ein Kräftemessen handelte. Dieses Mal würde sie nicht klein beigeben! Die Kommissarin war ihr völlig egal und Michael wurde nicht wieder lebendig, auch nicht, wenn die Arbeit der forschen
Frau schneller voranging. Marina hatte es satt, ständig nach der Pfeife anderer zu tanzen. Insgesamt, aber heute ganz besonders.
„Wir sind hier zum Datenschutz unserer Gäste verpflichtet. Ich mache meinen Job. Machen Sie Ihren. Da ich bereits seit Stunden Feierabend habe, werde ich jetzt nach Hause gehen. Wenn Sie morgen einen richterlichen Beschluss bringen, bekommen Sie Ihre Listen. Bitte verlassen Sie nun mein Büro.“
In dem Versuch den grimmigen Blick der Kommissarin zu ignorieren, wandte sie sich ihrem Computer zu, um die Programme zu beenden und den Rechner herunterzufahren. Als sie wieder aufblickte, hatten die Polizeibeamten den Raum verlassen. Die gewünschte Genugtuung, die Kraftprobe gewonnen zu haben, blieb aus. Erschöpft fuhr sie den kurzen Weg
nach Hause.