Charlie in SPO | Samstag, den 02. September
Äußerlich war Charlie ruhig geblieben, als sie wortlos das Büro der Feriendorf-Managerin verließ, aber innerlich kochte sie. Mit großer Selbstbeherrschung freundlich lächelnd holte sie ihren Schlüssel an der Rezeption ab. Zum zweiten Mal an diesem Tag bekam sie einen Lageplan mit einer Wegbeschreibung. Doch der Bungalow interessierte sie noch nicht.
Knud Petersen hatte sich im Hintergrund gehalten, um auf sie zu warten. Anscheinend wollte er sich noch für den nächsten Tag abstimmen. Auch darauf hatte Charlie jetzt keine Lust mehr. Am besten delegierte sie ein paar Aufgaben an ihn, bevor sie ihren PC aus dem Auto holte. Dann konnte sie ihre Internetrecherche beginnen, wobei sie so viel wie möglich über Petersen, Marina Lessing sowie den Ruf des Feriendorfes herausbekommen wollte. Über den schrägen neugierigen Hausmeister gab es vermutlich
keine Infos im Netz, aber vielleicht war er auf Facebook aktiv.
Die meisten Menschen waren so herrlich auskunftsfreudig, ohne sich einen Kopf zu machen, was Fremde dadurch alles über sie erfuhren.
Petersen holte sie aus ihren Gedanken.
„Womit wollen wir denn morgen in den Tag starten?“
„Besorgen Sie bitte als erstes den Beschluss, damit wir Zugriff auf die Daten der Feriengäste bekommen. Das wird eine Menge Fleißarbeit. Je früher wir damit beginnen desto besser. Vor allem ist wichtig, zu wissen, welche an den Wanderungen beteiligten Gäste immer noch hier sind, aber bald abreisen. Lassen Sie eine Anfrage durch den Computer laufen, ob es bereits solche Todesfälle an den umliegenden Küsten gegeben hat. Außerdem fahren wir auf jeden Fall nach Westerhever, um die Mitarbeiter zu befragen. Die wissen im Zweifel am meisten über ihren Chef. War er eigentlich verheiratet oder in einer festen Beziehung?“
„Nein. Es gab keine Partnerin in seinem Leben. Ob er sich ab und zu mit Frauen getroffen hat ...“, Petersen zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Erzählt hat er nix, aber was heißt das schon?“
„Gut. Vielleicht wissen seine Mitarbeiter etwas. Oder die
Nachbarn. Wo hat er denn gewohnt?“
„Auch in Westerhever. Die Schutzstation ist in den Häusern beim Leuchtturm untergebracht. Michael hat sich im Turm niedergelassen. Das war bisher nicht üblich, aber er hat es zur Bedingung seiner Einstellung gemacht. Er hatte also keine Nachbarn. Der Turm steht allein auf weiter Flur. Aber das werden Sie morgen sehen.“
„Sie wissen ja doch einiges über ihn. Wo hat er denn vorher gearbeitet?“
„Ich glaube, er war in Cuxhaven, bevor er nach Eiderstedt kam, aber er hat nie viel von der Vergangenheit geredet. Und wenn einer nicht schnacken
will, dann hat er seine
Gründe. Dann muss er auch nicht schnacken
. Meiner Meinung nach wird sowieso zu viel geredet auf dieser Welt. Besonders zu viel dumm Tüch.“
Charlie nahm Knuds philosophische Ausführungen nur am Rande wahr. Sie plante bereits den nächsten Tag.
„Kommen Sie morgen hierher, nachdem sie den Beschluss besorgt haben. Wo sitzt der zuständige Richter?“
„In Husum.“
„Versuchen Sie, es telefonisch zu erledigen. Er soll das Papier faxen. Umso früher können wir mit den Listen starten. Wenn es dauert, bis sie zusammengestellt sind, nutzen wir die Zeit, um zu dem Leuchtturm zu fahren.“
Charlie hatte den Eindruck, Knud war froh, als er sich auf den Heimweg machen konnte. So lange Arbeitstage war er vermutlich nicht gewohnt.
Sie dagegen fühlte sich zu aufgekratzt, um jetzt zu schlafen. Zu viele Fragen warteten darauf, beantwortet zu werden. Außerdem störte sie das unkooperative Verhalten dieser kleinen Managerin. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Es schien ganz so, als sei sie in Michael Schwertfeger verliebt gewesen. Warum verweigerte sie die Informationen, die bei der Aufklärung des Verbrechens hilfreich waren? Hatte sie etwas zu verbergen oder war sie einfach auf Krawall gebürstet? Dummheit konnte es eigentlich nicht sein, denn immerhin hatte sie sich diesen Job geangelt. War ja bestimmt nicht ganz einfach. Vielleicht war sie etwas aggressiv, weil sie notorisch überfordert war. Charlie war nach dem ersten Eindruck noch nicht in der Lage, sie richtig einzuschätzen.
Doch das traf letztlich auf alle bisher Beteiligten zu. Ihr neuer Kollege Knud Petersen wirkte ein wenig unbedarft und harmlos, aber vielleicht tat sie ihm auch Unrecht damit. Das würde sich in den nächsten Tagen zeigen. Bisher war er sehr ruhig als auch zurückhaltend aufgetreten. Das führte leicht zur Unterschätzung.
Blieb der schrullige Hausmeister: Torge Trulsen
.
Sie musste zugeben, dass dieser Name sie seltsam faszinierte. Wo war er eigentlich abgeblieben? Erst wollte er am Strand unbedingt dabei sein. Als es verhieß interessant zu werden, war er plötzlich verschwunden. Naja, vermutlich hätte seine Chefin ihn bei dem Gespräch nicht geduldet – auch wenn er bereits Feierabend gemacht hatte. Sie war gespannt, ob sie über ihn etwas herausfinden würde.
Nachdem sie das Gepäck aus dem Auto geholt hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihrem Bungalow. Wie sich zeigte, war die Beschreibung der Rezeptionistin präzise, wodurch sie das Domizil auf Anhieb fand. Im Grunde war ihr die Unterbringung nicht besonders wichtig, da die Ferienanlage jedoch Teil des Falles war, interessierte sie sich für die Details. Beim Eintreten stand sie unmittelbar in dem kombinierten Wohn-Essraum, der scheinbar den größten Teil des kleinen Hauses einnahm. Er wurde durch eine Küchenzeile ergänzt, die durch einen Tresen abgetrennt war. Charlie ließ ihren Koffer sowie die beiden Taschen direkt an der Tür stehen, um erst einmal ihr neues vorübergehendes Zuhause zu inspizieren. Voller Freude entdeckte sie den Kaminofen, neben dem sogar ein Stapel Holz samt Anzünder stand. Einen Moment vergaß sie ihre Arbeit. Der Bungalow schien von professioneller Hand gestaltet, warme Töne gaben dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Die modernen Möbel waren perfekt aufeinander abgestimmt. Nordische Accessoires rundeten das Bild ab. Der Bereich der Küche bot allen Komfort, den der anspruchsvolle Feriengast erwartete: Geschirrspüler und Mikrowelle ließen neben der Standardausstattung keine Wünsche offen. Zu ihrer großen Freude nahm sie die Kapselmaschine zur Kenntnis. Frischer Kaffee jederzeit auf Knopfdruck. Herrlich!
Durch eine Tür im hinteren Teil des Zimmers betrat Charlie einen kleinen fensterlosen Flur, von dem drei weitere Räume abgingen. Es handelte sich um
zwei kleine Schlafräume mit Doppelbetten – außerdem ein modernes komfortables Duschbad mit Tageslicht, Handtuchwärmer sowie flauschigen, weißen Handtüchern wie in einem Luxushotel.
So ließ es sich aushalten.
Offensichtlich wurde hier die gehobene Klientel angesprochen. Sie war gespannt, was ihre Recherche im Internet zu dieser Ferienanlage ergeben würde.
Sie kehrte zu ihrem Gepäck zurück, brachte es in eins der Schlafzimmer, ohne sich um das Auspacken zu kümmern. Ihre geplante Recherche war wichtiger.
Sie stellte ihr Notebook auf den Esstisch und konnte nicht widerstehen, sich noch schnell einen Kaffee zu brühen. Im Schrank hatte sie ein Paket mit den dazugehörigen Kapseln entdeckt. Der Duft des Gebräus vertrieb den Anflug von Müdigkeit, der gerade von Ihr Besitz nehmen wollte. Der Stuhl war bequemer, als er aussah. Entspannt klappte sie den tragbaren Computer auf und schaltete ihn ein.