Torge in SPO | Samstag, den 02. September
Ohne sich großartig zu verabschieden war Torge in seinem Kabuff verschwunden als Charlie und Knud den Weg in die Richtung von Marinas Büro einschlugen. Sein eigenes Büro verdiente diesen Namen eigentlich nicht. Es handelte sich um einen fensterlosen Raum von nur sechs Quadratmetern mit einem Regal, einem Aktenschrank sowie einem kleinen Schreibtisch mit PC. Dahinter befand sich ein bequemer Bürostuhl mit Armlehnen, der im Managerbüro bei einem Personalwechsel ausgemustert worden war. Torge hatte sich das Möbel sofort unter den Nagel gerissen, bevor jemand anders Ansprüche geltend machen konnte. Das war eindeutig der Vorteil, wenn man alles mitbekam, was in der Ferienanlage passierte - und wenn man behilflich war. Es gab nicht nur zahlreiche Mitarbeiter, sondern auch Stammgäste, die sich bei Torge im Gegenzuge gern revanchierten. Vor dem Schreibtisch stand ein kleiner, recht unbequemer Stuhl. Auch das war System.
Weder im Stehen noch auf diesem Stuhl hielt jemand es lange aus. Da die meisten Besucher des Kabuffs Gäste waren, die irgendwelche Beschwerden oder sonstige Anliegen vorbrachten, war das sehr erwünscht.
Während die Kommissarin vergeblich um die Listen gekämpft hatte, war Torge bereits seit einer halben Stunde in dieselben vertieft. Auf die Gästelisten brauchte er Zugriff, da er sonst die Sonderwünsche weder schnell noch unkompliziert abwickeln konnte. Niemand sah darin ein Sicherheitsrisiko. Auf die Daten der Wattwanderer hätte er normalerweise keinen Einblick benötigt, aber der Administrator war seit langem ein guter Kumpel, der seine Rechte nicht sonderlich beschränkte. Lediglich die Buchhaltung war für ihn gesperrt.
Auch Torge begann seine Recherche mit der letzten Wanderung, die Michael geführt hatte. Das war am Donnerstag gewesen, also vorgestern. Die Gruppe umfasste fünfzehn Gäste, die circa um zwölf aufgebrochen waren. Gegen vierzehn Uhr zeigte der Tidekalender den niedrigsten Wasserstand. Nach Torges Vermutung waren sie spätestens um halb vier zurückgekehrt, darüber gab es jedoch keine Bestätigung. Als Nächstes schaute er, wer von den fünfzehn Beteiligten noch in der Anlage weilte. Erst danach wollte er nach den persönlichen Daten sehen sowie analysieren, wer von den Wattwanderern zusammengehörte. Interessant war natürlich auch, wie viele Kinder mitgekommen waren. Doch wie wahrscheinlich war es, dass der Mörder so kurz vor der Tat an einer solchen Tour teilgenommen hatte? War der Täter überhaupt jemals mit Michael ins Watt gelaufen? Wenn ja, dann eher bei einer Nachtwanderung, um sowohl die Stimmung als auch die Lichtverhältnisse zu checken. Wenn er darauf abzielte, musste er zusätzlich den Mondkalender zu Rate ziehen. Der Mond war fast voll. In der Mordnacht war es mittelprä
chtig bewölkt gewesen – wenn er das richtig erinnerte. Als nächstes benötigte er den Wetterbericht. Das Puzzle wurde schon jetzt immer größer und ein Motiv war noch nicht zu erkennen.
Torge raufte sich die blonden Locken. Was war sinnvoll für den Start der Recherche? Die Luft war hier eindeutig zu dick. Gegen seine Gewohnheit hatte er die Tür des Kabuffs geschlossen und verriegelt. Störungen wollte er auf jeden Fall ausschließen - insbesondere von der Kommissarin. Sein Ziel war, sie mit einer Recherche zu beeindrucken, statt sie daran zu beteiligen. Die Lüftung lief, aber stickig war es trotzdem.
Hin- und hergerissen überlegte Torge, ob er sich die Listen der Wattwanderungen ausdrucken sollte. Doch wieweit zurück? Was war mit dem Abgleich der Gästedaten? Er konnte unmöglich alle Daten dieses Sommers auf Papier bannen, um sie zu Hause bei besserem Klima zu studieren, oder? Er befürchtete, dass ihm bei aller Sorgfalt am Ende Daten fehlten. Andererseits war er morgen ja sowieso wieder hier. Er musste entscheiden, welche Recherche vorrangig war.
Bah, es war nicht mehr auszuhalten! Er brauchte Luft, sonst konnte er nicht klar denken. Ein Becher Kaffee wäre jetzt nicht verkehrt. Schwungvoll erhob er sich. Der Stuhl knallte hinter ihm an die Wand. Der Automat in der Lobby verwöhnte die Koffein-Junkies nach Schließen der Cafeteria mit genießbaren Kreationen. Schnell war er um den Schreibtisch herum und riss die Tür auf, um sowohl den Raum als auch sein Gehirn zu lüften.
Torges kleines Büro lag am Ende eines Ganges, der von der Lobby abging. Der geräumige Vorraum wurde von dem Rezeptionstresen dominiert, der zu Stoßzeiten mit mindestens fünf Mitarbeitern besetzt war und den die Gäste gleich rechter Hand sahen, wenn Sie den Empfangsbereich der Ferienanlage betraten. Die Mitte des imposanten Raums beherrschte ein Springbrunnen in einem runden
Bassin, das die Urlauber regelmäßig mit Cent-Stücken fütterten – in Erwartung auf ein kleines Stück vom Glück.
Torge fragte sich immer wieder, ob das wirklich auch mit Cent-Münzen funktionierte. Vielleicht brauchte man dazu einfach noch den guten alten Pfennig. Er steuerte den modernen Kaffeeautomaten gegenüber des gewaltigen Tresens an, in der Hoffnung, dieser würde heute einwandfrei funktionieren. Schon auf dem Weg holte er eine Handvoll Münzen aus der Hosentasche. Mit einem flüchtigen Blick prüfte er, ob die passenden Geldstücke für das begehrte Getränk dabei waren. Drei einzelne Cent-Münzen forderten ihn heraus, sein Glück doch auch einmal zu versuchen. Schaden konnte es ja wohl nicht.
Er blickte sich verstohlen um. Die große Uhr gegenüber des Eingangs zeigte bereits 23.40 Uhr, die Halle war bis auf den Nachtportier wie ausgestorben. Keinesfalls wollte er riskieren, dabei beobachtet zu werden, wie er Fortuna mit Glückstalern im Brunnen zu bestechen versuchte! Da niemand zu sehen war, sammelte er die Münzen von seiner linken Hand, um sie in das Wasser zu schnippen. Einen Moment blieb er mit einem Anflug von Sentimentalität stehen, den Münzen hinterherblickend, wie sie langsam auf den Grund des Beckens schwebten.
Sie mussten den Mörder von Michael Schwertfeger finden! Das waren sie ihm einfach schuldig. Noch immer war er fassungslos über den Tod des Naturliebhabers. Den ganzen Tag bis in die Nacht hinein war er mit seiner Arbeit sowie dem Beginn der Recherche abgelenkt gewesen. Doch als er jetzt auf all die mit Wünschen verknüpften kleinen braunen Kupferkreise im Wasser starrte, brach plötzlich das Entsetzen durch. In dem Bewusstsein, kaum etwas über
Michael Schwertfeger zu wissen, bekam er frierend eine Gänsehaut. Sie waren in unregelmäßigen Abständen in einer Runde gemeinsam im Lütt Matten
oder im Café
Köm
einen trinken gewesen. Dabei war es oft feuchtfröhlich zugegangen, aber Michael war immer zurückhaltend. Er hatte - selbst wenn die Lampe einmal hell leuchtete – nie Streit angefangen oder war auch nur ansatzweise aggressiv gewesen. Wie sollte einer wie er, Feinde auf diesem Erdball haben?
Handelte es sich vielleicht um eine Verwechslung? Galt der Schlag auf den Kopf gar nicht ihm, sondern einem anderen? War es ein simpler Raubmord? Getrieben von Aggressionen oder krimineller Energie eines Bekloppten? Klang auf Anhieb nicht so wahrscheinlich, aber vielleicht war ihm jemand gefolgt, als er ins Watt ging. Der Täter witterte eine Chance, seine Reisekasse aufzubessern. Immerhin waren Brieftasche, Smartphone sowie Schlüsselbund des Toten verschwunden ...
Die Schlüssel waren weg! Zusammen mit den Papieren! Heilige Sanddüne, vielleicht räumte der Täter gerade die Bude aus! Hatte das jemand überprüft?
Ein erneuter Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er schon fast eine geschlagene Viertelstunde den Gedanken nachhängend hier am Springbrunnen stand. Offensichtlich war nun wieder genug Sauerstoff in seinem Kopp
, um klar zu denken. Er warf den Rest der Münzen im hohen Bogen in den Brunnen und zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Schnell suchte er Knuds Nummer heraus. Hoffentlich schnarchte der Polizist nicht schon selig! Nach dem achten Klingeln sprang die Mailbox an. Schiet
!
Nachdem Torge aufgelegt hatte, versuchte er es gleich noch einmal.
Wieder die Mailbox. Fieberhaft überlegte der Hausmeister der Ferienanlage, wer ihn sonst unterstützen würde. Fiete? Nein, das konnte er vergessen. Der hätte kein Verständnis für Torges Einmischung in die Ermittlungen. Die Kommissarin aus Hamburg? Sie wohnte hier in einem der Bungalows. Diese Information war ihm leicht zugänglich. Doch vermutlich würde sie ihn weder ernst nehmen
noch mit ihm zusammen zu dem Leuchtturm in Westerhever fahren, um zu schauen, ob der Täter sich dort zu schaffen machte.
Nochmal Schiet
!
Knud war die einzige Möglichkeit! Zum dritten Mal wählte er die Nummer. Wenn er wieder nicht heranging, würde er entweder zu Knud fahren, um ihn aus dem Bett zu werfen oder direkt nach Westerhever. Dann eben allein.
„Hhm, was gib´s denn?“
„Na endlich! Hast du etwa schon geschlafen?“
„Hhm ..., wer´sn dran?“
„Knud, nun wach schon auf! Ich bin´s ... Torge.“
„Torge ....?“ Ein Seufzen ertönte im Hörer. Dann nichts mehr. Torge lief ungeduldig um den Brunnen herum.
„Was ist los? Hast du wieder jemanden im Watt gefunden?“ Nun schien Knud Herr über seine Sinne zu sein.
„Haha. Ein Toter reicht ja wohl. Aber immerhin scheinst du langsam wach zu werden. Hast du nichts Wichtigeres zu tun als zu schlafen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, redete Torge bereits weiter auf seinen Freund ein. „Mir ist gerade etwas eingefallen. Michael Schwertfegers Wertsachen sind nicht bei ihm gefunden worden. Auch kein Schlüssel. Habt ihr mal darüber nachgedacht, ob der Täter nun vielleicht den Turm ausräumt?“
„Deswegen rufst du an?“ Knuds Stimmung war noch nicht zu erkennen. Statt weiter mit Torge zu sprechen, hörte dieser schließlich ein lautes Gepolter, gefolgt von einem gedämpften aber deutlichen Fluchen.
„Bist du noch dran? Torge?“
„Ja, ich bin noch dran! Was ist denn da bei dir los?“
„Ich bin aus dem Bett gefallen ...“
„Ist nicht dein Ernst! Nun reiß dich mal zusammen. Was ist nun mit dem Turm und der Station?“ Torge hörte weitere undefinierbare Geräusche, dann war Knud
wieder am Apparat.
„Du rufst mich an, weil dir mitten in der Nacht einfällt, dass der Mörder Michaels Schlüssel hat und nun dort einbricht? Bist du bekloppt?“
„Es ist nicht mitten in der Nacht, es ist gerade mal kurz vor
Zwölf. Außerdem ist es ja wohl wichtig. Wieso schläfst du jetzt eigentlich, statt zu ermitteln?“ Torge ging lieber in die Offensive.
„Anscheinend hältst du mich für einen dummen Dorfpolizisten, der die Sache nicht im Griff hat. Glaubst du das, weil sie die toughe Hamburgerin hergeschickt haben? Ich habe heute Nachmittag auch ohne sie bereits die Ermittlungen aufgenommen, wenn du es genau wissen willst.“
„Schon gut.“ Torge wollte Knud nicht gegen sich aufbringen. Er war im Moment die Tür zu den Informationen der Polizeiarbeit. „Tut mir leid. Und ja, ich würde es gerne genau wissen. Heißt das, du warst schon in Westerhever?“ „Ja, das heißt es.“ Knud war schnell zu besänftigen. Gern weihte er seinen Freund in die Ergebnisse ein. „Ich war mit einem Team aus Heide dort, um mit seinen Mitarbeitern zu sprechen und zu gucken, ob es etwas zu entdecken gibt, das auf den Mord hinweist. Es war niemand da. Thomas Hentschel ist mit Katharina Schumacher bis morgen Vormittag auf einer Exkursion. Ich habe vorsorglich die Schlösser sowohl für die Station als auch für den Turm austauschen lassen. Da kommt niemand ´rein. Beruhigt dich das?“
Das beruhigte Torge in der Tat. Trotzdem hatte er noch eine Frage: „Wer gibt den Mitarbeitern die neuen Schlüssel?“
„Na, du machst dir ja weitreichende Gedanken. Sie kommen morgen vor der Arbeit bei Fiete vorbei, um sie dort abzuholen. Zufrieden?“
Insgeheim war Torge sogar beeindruckt. Knud hatte nicht nur an alles gedacht, sondern die gesamte Organisation übernommen, obwohl er praktisch auf sich allein gestellt war
.
„Gibst du mir nun Feierabend, damit ich morgen entsprechend ausgeschlafen bin, wenn mir die Kommissarin aus
Hamburg auf die Finger schaut?“
Torge griente
. So kannte er seinen Kumpel. „Klar, hau dich aufs Ohr. Ich schau mal, ob ich auch noch was Wichtiges herausbekomme, womit ich dich morgen überraschen kann. Also Moin
.“
Kurz überlegte Torge, trotzdem nach Westerhever zu fahren, um zu überprüfen, ob sich dort jemand herumtrieb. Schnell verwarf er den Gedanken zugunsten seiner bereits begonnenen Recherche. Sehr wahrscheinlich war es nicht, dass der Mörder so leichtsinnig war, sich am Wohnort seines Opfers zu zeigen. Das hätte er dann vermutlich bereits in der Mordnacht erledigt.
Also doch Kaffee! Beim Automaten angekommen, griff er in seine Hosentasche und stutzte. Nichts! Wo war sein Kleingeld abgeblieben? Einen Moment starrte er ratlos auf die Auswahl der Getränke, die die Maschine zu bieten hatte, dann fiel es ihm wieder ein.
Verdammt! Vor lauter Aufregung über seinen vermeintlich großartigen Gedanken hatte er nicht nur die Cent-Münzen, sondern alle Geldstücke in den Brunnen geschmissen.
Blöd!
Die Geldbörse mit den Scheinen lag im Schreibtisch in seinem Kabuff.
Unverrichteter Dinge drehte er sich um und eilte zu seinem Büro. Auf dem Weg durch die Eingangshalle warf er einen grimmigen Blick in den Brunnen, der sein Kaffeegeld verschlungen hatte. Das würde ihm hoffentlich eine große Portion Glück bringen. Die kleine Ladenpassage im hinteren Teil bestand aus fünf Geschäften, in denen die Touristen Souvenirs, Klamotten sowie Snacks kaufen konnten. Da sie seit 22 Uhr geschlossen waren, lag alles verlassen da
.
An ihnen vorbei gelangte Torge in den sich anschließenden Gang, an dessen Ende sich sein Arbeitszimmer befand. Anfangs störten ihn die schräg gegenüber befindlichen Toiletten, aber im Laufe der Zeit hatte sich das als praktisch erwiesen.
Als er sein Büro betrat, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. An seinem Schreibtisch saß die Kommissarin
aus Hamburg.