Alexander in Lindau | 13. Mai, sieben Jahre früher
Als er erwartungsvoll die Tür öffnete, rechnete Alexander mit einer gut gelaunten, glücklichen Lisa, die Blumen und Kerzen im Zimmer verteilte, ihre Lieblings-CD heraussuchte oder schon nach der Musik von Phil Collins verträumt durch den Raum tanzte. Er sah es geradezu vor dem inneren Auge: Seine zierliche kleine Frau mit den widerspenstigen roten Locken, die sie so liebend gerne gegen eine blonde Mähne eintauschen würde. Doch sie gehörten zu ihr wie die Sommersprossen und die grünen Augen, die vor Lebensfreude sprühten wie sie selbst, wenn sie sich immer wieder für neue Ideen begeisterte und nie müde wurde, anderen zu helfen.
Doch in diesem Moment, zusammengesunken an dem Ess-
tisch sitzend, starrte sie einfach nur vor sich hin. Als sie das Rascheln des Papiers vernahm, hob sie langsam den Kopf, um in seine Richtung zu blicken. Tränen liefen über ihre Wangen, eine schwarze Spur hinter sich herziehend. Einen Moment stand Alexander starr im Türrahmen, ohne sich rühren zu können. Angst schnürte ihm die Kehle zusammen. Es musste etwas wirklich Schlimmes passiert sein, wenn seine immer fröhliche Lisa ihn mit solcher Trauer empfing. 
„Lisa, Liebes, was ist passiert?“ Durch die Worte löste sich die Starre. Er stürzte zu ihr, doch sie rührte sich nicht. Die Blumen achtlos auf den Tisch werfend zog er sie in seine Arme.
„Meine Liebste, was ist denn passiert?“, wiederholte er. „Ist etwas mit deinen Eltern? Bitte sag mir, was los ist.“
Statt einer Antwort bekam er lediglich ein Wimmern zu hören. Die Tränen liefen weiter. Sie hob den Kopf, doch er bezweifelte, dass sie ihn sah. Ihre Augen schwammen und es sah aus als seien sie hinter einem Schleier verborgen. Sie sanft küssend strich er zärtlich über ihre Wangen. 
„Lisa ..., mein Liebling.“
Sie schluchzte noch einmal auf, dann atmete sie einige Male tief durch. 
„Hast du ein Taschentuch?“, fragte sie nüchtern. Er ließ sie los, wühlte in seinen Hosentaschen, um schließlich eine zerknüllte Packung hervorzuziehen. Er holte eins heraus, schüttelte es auseinander, bevor er es ihr reichte. 
„Danke“, murmelte sie, strich sich erst über die Augen, um danach einmal kräftig zu schnäuzen. „Danke ... endlich bist du da!“
„Ja, ich habe für heute Abend eingekauft“, antwortete er automatisch, als ob das jetzt noch eine Bedeutung hätte. Sie nickte abwesend, dann schienen die Worte sie zu erreichen und für einen Moment lenkte es sie von ihrer Trauer ab. Dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie den Gedanken verscheuchen.
„Alexander, ich ...“, weiter kam sie nicht, wieder sackte sie in sich zusammen, kauerte auf dem Stuhl wie das heulende Elend, ohne noch ein Wort herauszubringen. Er rückte näher an sie heran, um sie wieder in seine Arme zu ziehen.
Kraftlos ließ sie sich gegen ihn sinken. Minutenlang saßen sie so zusammen. Fieberhaft überlegte Alexander, was sie wohl quälte und wie er sie zum Reden brachte. Da ihm nichts einfiel, wartete er einfach ab und gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Er spürte, dass ihr Atem ruhiger wurde. Sein Arm begann zu kribbeln, aber er wagte es nicht, sich zu bewegen, weil sie sich gerade etwas entspannt hatte.
„Krebs“, obwohl sie es nur flüsterte, schrak er zusammen.
„Was?“
„Krebs“, wiederholte sie ein bisschen lauter. „Es ist Krebs.“
„Krebs? Lisa, wer hat Krebs? Einer von deinen Eltern? Das tut mir so leid.“
„Nein, nicht meine Eltern.“ Sie hob den Kopf, drehte sich zu ihm und schaute ihm direkt in die Augen: „Alexander, ich habe Krebs.“
Das musste ein Irrtum sein! Er konnte es nicht glauben. Nein! Doch nicht seine Lisa. Sie war gerade erst 33 Jahre alt.
Schweigend schauten sie sich an.
„Das kann ich nicht glauben. Bist du sicher?“
Sie nickte. „Ja. Ich war doch letzten Monat bei meiner Gyn. Weil sie einen Knoten entdeckt hatte, überwies sie mich zur Mammographie. Heute sind die Ergebnisse gekommen. Es sieht nicht gut aus.“
„Mammographie? Davon hast du mir gar nichts erzählt ...“
„Ich wollte dich nicht beunruhigen.“
„Lisa! Aber kann es nicht auch ein gutartiges Irgendwas sein?“
„Das ist sehr unwahrscheinlich.“ Sie hatte sich beruhigt. Da die Tränen versiegt waren, sprach sie nun fast sachlich. „Ich muss noch zur Biopsie, aber ich bin mir sicher, dass es nichts Harmloses ist. Ich spüre das. Die Ärzte sind nach den bisherigen Ergebnissen auch nicht optimistisch.“
„Das kann nicht sein.“ Jetzt starrte Alexander vor sich auf den Boden. Zu viele Gedankenfetzen stürmten auf ihn ein.
„Warum hast du eingekauft?
„Was?“
„Wir haben doch eine Tischreservierung!“
„Ich wollte für dich kochen“, sagte er mechanisch.
„Du wolltest was? Du kannst überhaupt nicht kochen. Willst du mich an unserem 5. Hochzeitstag hungern lassen?“ Der Themenwechsel schien sie weiter zu entspannen. Jetzt da sie ihn eingeweiht hatte, konnte sie über das Abendessen nachdenken, statt sich mit der schlechten Nachricht zu beschäftigen.
Alexander war noch nicht so weit, aber er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Neuigkeit schockierte.
„Ich habe einen Kochkurs belegt – sechs Abende  französische Küche. Ich wollte dich überraschen.“
„Du veräppelst mich.“
„Das würde ich nie wagen. Ich habe ein dreigängiges Menü geplant, wofür ich bereits eingekauft habe.“
Einen Moment vergaßen sie die Hiobsbotschaft, um in den Augen des Gegenübers zu versinken. Nach fünf Jahren Ehe waren sie noch genauso verliebt wie am ersten Tag. Sie mussten kämpfen, dachte er. 
„Na, dann lass uns kochen.“, forderte sie ihn auf und nahm mit einem zaghaften Lächeln die Blumen vom Tisch, um sie endlich ins Wasser zu stellen. Ihre Nase in die Blüten drückend murmelte sie: „Wunderschö n – danke!“