Charlie in SPO | Samstag, den 02. September
Charlie rieb sich die brennenden Augen. Sie hatte das Gefühl bereits seit Stunden auf den Bildschirm zu starren, doch ein Blick auf die Uhr verriet ihr: es waren gerade einmal 60 Minuten vergangen, seit sie ihre Recherche begonnen hatte. Frustriert über das magere Ergebnis schlich sie mit dem Kaffeebecher in die Küche. Unschlüssig stand sie vor der Maschine. Die Müdigkeit ließ die Fakten des Tages in ihr Bewusstsein sickern, die sie bisher erfolgreich ausgeblendet hatte.
Sie war quasi suspendiert. Zumindest strafversetzt. Nachdem sie jahrelang fast nur für die Karriere gelebt hatte, war sie nun in diesem Kaff gelandet. Die Managerin der Ferienanlage ließ sie bei ihren ersten Ermittlungsversuchen abblitzen. Ihre Internetrecherche hatte nichts wirklich Brauchbares für den Fall ergeben. Der schräge Hausmeister – oder nannte er sich Facility Manager? – Torge Trulsen war bei Facebook sehr aktiv. Er wohnte in einer alten Reetkate anno 1704, die anscheinend sein ganzer Stolz war. Ständig postete er Fotos von dem Haus, dem Garten und seinen handwerklichen Aktivitäten. Wenn er irgendetwas verschönerte, ließ er die Welt daran teilhaben. Außerdem nutzte er seinen Account, um die Urlauber der Halbinsel mit Tipps rund um das Wetter, Veranstaltungen sowie Kurioses zu informieren. Charlie musste zugeben, es handelte sich nicht nur um ein lebendiges, sondern auch interessantes Profil. Außerdem war Torge ein wirklich guter Hobbyfotograf – vorausgesetzt er hatte die Aufnahmen selbst geschossen. Auf jeden Fall würde sie ihn auf diesem Wege im Auge behalten, auch wenn das die Ermittlungen nicht vorantrieb. 
Dagegen schien ihr neuer Kollege Knud Petersen nichts von den sozialen Netzwerken zu halten. Es gab lediglich ein paar Zeitungsartikel über die Männer, die von Festen sowie Ereignissen auf der Halbinsel berichteten, zusätzlich waren beide bei der freiwilligen Feuerwehr. 
Insgesamt belanglos.
Das Xing-Profil von Marina Lessing gab Auskunft über ihren Lebenslauf: geboren vor 26 Jahren in Hamburg, Abitur, Hotelmanagement an der Uni ebenfalls in der Hansestadt an der Elbe. Abschluss nicht nur in Rekordzeit, sondern mit Auszeichnung. Danach einige Praktika unter anderem im Hotel Atlantik.
Auch auf Facebook war die Lessing vertreten, allerdings nicht so aktiv wie ihr Mitarbeiter. Angeblich war sie in einer Beziehung. Das sprach gegen eine Schwärmerei für den Toten. Oder war sie vielleicht sogar mit ihm liiert gewesen? Michael Schwertfeger wiederum war in keinem der sozialen Netzwerke vertreten. Wieder eine Sackgasse.
Sie hatte noch einmal zu der Managerin geklickt. Ergiebig waren die Infos nicht. Sie mochte Frauenromane mit starken Heldinnen, Klavierkonzerte und Saxophon, außerdem französische Küche.
Toll! Das brachte Charlie auch nicht weiter.
Kurz hatte sie noch die Bewertungen der Ferienanlage gecheckt. Es gab wie bereits vermutet überwiegend positive Kommentare sowie eine gute Auslastung trotz des gehobenen Preisniveaus.
Müde hatte sie den Laptop zusammengeklappt. Unschlüssig stand sie in der Küche, nicht fähig sich zu entscheiden, ob sie noch einen Kaffee trinken wollte oder nicht.
Der Komfort, verbunden mit der angenehmen Atmosphäre des Bungalows, trösteten sie nicht länger, als die Welle der Einsamkeit über ihr zusammenschwappte. Immerhin passte die Metapher zu der Landschaft, dachte sie mit Galgenhumor.
Den Becher auf den Tresen knallend, schalt sie sich selbst. Ins Loch der Depression zu fallen, half ihr auch nicht weiter. Aber sie musste hier raus. Vielleicht würde ihr die vielgepriesene Nordseeluft guttun. Kurz entschlossen griff sie nach ihrer Jacke und verließ den Bungalow. Wenn sie Glück hatte, würde das Rauschen der Wellen bei Hochwasser ihre trüben Gedanken vertreiben. Ein Versuch war es wert. Hier kam sie im Moment nicht weiter. Der Weg zum Strand wurde ihr von kleinen dezenten Schildern gewiesen. Schon hörte sie das Tosen des Wassers. Kräftiger Wind zerrte an der Kapuze des Anoraks, die Charlie zum Schutz schnell übergezogen hatte. Der fast volle Mond spiegelte sich auf der Nordsee, die in wilden Wellen an das Ufer spülte.
Fast augenblicklich wich die Erschöpfung einem irrationalen Gefühl von Freiheit. Fasziniert blieb sie stehen und schaute sich um. Im Licht des Mondscheins erkannte sie die berühmten Pfahlbauten. Wenn sie sich richtig erinnerte, war in einem sogar ein Restaurant untergebracht. Eine ihrer Freundinnen war ein echter Fan von St. Peter sowie der Nordsee. Charlie wusste nicht mehr, wie oft diese versucht hatte, sie zu einem Wellness-Wochenende an der Küste zu überreden. Therme, schönes Hotel, einfach einmal Abstand von Job, Mann und Alltag. Sonja kultivierte ihr spezielles Lebensmodell, ließ sich nicht einschränken. Stattdessen machte sie fast immer, was ihr gerade in den Sinn kam. Doch Charlie ließ sich von der Fixierung auf ihre Karriere nicht abbringen, weswegen sie irgendwann nicht mehr gefragt wurde. Hatten sich diese Opfer gelohnt? Wieder schlich sich das Monster der Depression an sie heran. Nein! Die Anwandlung abschüttelnd, konzentrierte sie sich wieder auf die Umgebung. Den kräftigen Wind empfand sie als angenehm. Sie sah von hier sogar das Licht des Leuchtturms von Westerhever. Sein rhythmisches Blinken durch die Nacht ließ Charlies Gedanken wieder zu dem Fall des toten Michael Schwertfeger wandern.
Was für ein Mensch war er gewesen? Warum war er umgebracht worden? Bisher wusste sie fast nichts über ihn. Mitte vierzig, erst vor circa einem Jahr hierher nach Eiderstedt gekommen, um die Leitung der Schutzstation Wattenmeer zu übernehmen. Sie war gespannt, ob seine beiden Mitarbeiter – ein Mann und eine Frau – etwas zur Lösung des Rätsels beitragen konnten. Und was genau war eigentlich die Aufgabe dieser Organisation? Charlie beschloss, dies entweder im Internet oder vor Ort in Westerhever in Erfahrung zu bringen.
Die Details der Umgebung nahm sie an diesem Abend nicht wahr, die Schönheit der Landschaft würde sie später noch mehr in ihren Bann ziehen. Doch Charlie entspannte sich zusehends. Dazu trug nicht nur das Rauschen der Wellen und des Windes, sondern auch die Aufgabe bei, die sie hier übernommen hatte. Als fähige Kriminalkommissarin war sie wild entschlossen, den Fall aufzuklären! Bevor sie umkehrte, warf sie einen letzten Blick auf die hochgestellten Häuser sowie den Turm in der Ferne. Ein bisschen Schlaf würde ihr bestimmt neue Energie für den nächsten Tag geben. Außerdem machte sich der Kaffee bemerkbar.
Eingehüllt in die besondere Stimmung und ihre Gedanken an den ihr unbekannten Toten, war sie ohne es zu merken ein ganzes Stück auf dem Strand entlangspaziert. In erheblicher Entfernung von der Ferienanlage wusste sie nicht, welcher Aufgang sie am schnellsten zu ihrem Domizil führte. Der Mond versteckte sich hinter einem Wolkenfeld. Weil die Abschnitte in der Dunkelheit so ähnlich aussahen, nahm sie prompt den falschen Weg. Inmitten der fast identischen aussehenden Ferienhäuser verlor sie schnell die Orientierung. Den Weg zu ihrem eigenen Bungalow fand sie nicht wieder. Als ihr Blick auf ein Schild mit der Aufschrift Rezeption fiel, folgte sie seufzend dem Wegweiser. Dort angekommen war ihr menschliches Bedürfnis so groß geworden, dass sie beschloss, die Toiletten in der Lobby zu nutzen. Beim Einchecken war ihr der Hinweis aufgefallen. Ihr Gang wurde schneller, der Tunnelblick verschwand erst wieder, als sie sich erleichtert hatte.
Beim Verlassen des WCs fiel ihr das kleine Büro auf, welches schräg gegenüber lag. Trotz der späten Stunde brannte dort noch Licht, das ihren Ermittlerinstinkt sofort erwachen ließ. Sie war gespannt, wen sie in dieser wenig exponierten Lage vorfinden würde. Erwartungsvoll blickte sie hinein – doch der winzige fensterlose Arbeitsraum war leer. Ein Computer surrte, der Schreibtisch sah so aus, als sei sein Besitzer nur einmal kurz verschwunden. Vielleicht würde ein Türschild Aufschluss darüber geben, wer hier arbeitete. Ihre Ahnung wurde wenig später bestätigt: Torge Trulsen.
Natürlich!
Unwillkürlich musste sie grinsen, als sie den Titel las, der darunter gedruckt war: Facility Manager. Was war nur aus den guten alten deutschen Bezeichnungen geworden? Fühlten sich die Leute tatsächlich wichtiger, wenn sie sich als Manager von irgendwas bezeichneten? Vermutlich.
Vielleicht sollte sie sich Criminal Manager nennen.
Erhöhte sich dann automatisch ihre Aufklärungsrate?
Charlie schüttelte die idiotischen Gedanken ab und schaute sich um.
Niemand zu sehen. Sollte sie es wagen, sich an den Schreibtisch des Hausmeisters zu setzen? Im Zögern fragte sie sich, woran er wohl arbeitete – noch dazu so spät. Er war bestimmt nicht mit Bestellungen oder der Planung für den kommenden Tag beschäftigt gewesen, als er hier weggelockt wurde. Ob er Zugriff auf die Listen der Teilnehmer der Wattwanderungen sowie die Gästedatei hatte? Waren die für seinen Job relevant? Ihr Zögern war untypisch, aber um auf den Bildschirm blicken zu können und eine Suche zu starten, musste sie um den Schreibtisch herumgehen. Wenn Trulsen in dem Moment zurückkehrte, saß sie in der
Falle.
Doch was konnte schon passieren? Vielleicht ließ er sich besser überrumpeln als seine renitente Chefin. Wenn sie ganz viel Glück hatte, war er sogar zur Kooperation bereit und ließ sie Einblick in die Daten nehmen - wenn er sie überhaupt von seinem Arbeitsplatz aus erreichte. Egal! 
Den Skrupel beiseite schiebend umrundete die Kommissarin den Tisch. Sie ließ sich in den Sessel plumpsen, wunderte sich am Rande, wie superbequem er war und erfasste es dann mit einem Blick: Auf dem Bildschirm war genau das zu sehen, was sie begehrte. 
Volltreffer!
Gerade wollte sie sich in die Daten vertiefen, da hörte sie ein Räuspern von der Tür. Trulsen war zurück. Auf den ersten Blick konnte sie nicht einschätzen, was er gerade dachte.