Marina in Garding | Samstag, den 02. September
Schon auf dem kurzen Weg zu ihrer Wohnung in Garding hatte Marina alle Mühe die Tränen zurückzuhalten, dort angekommen brach ihre Trauer sturzbachartig aus ihr heraus. Endlich konnte sie ihre Gefühle zulassen, die sie den ganzen langen Tag hinter der Maske verstecken musste. Ja, sie hatte sich zu Michael hingezogen gefühlt. Das Bedauern, nicht herausfinden zu dürfen, ob sich vielleicht die große Liebe hätte entwickeln können, brachte sie um den Verstand. Kraftlos ließ sie sich in ihren Lieblingssessel sinken. Hier lauschte sie sonst genussvoll Klavierkonzerten oder versank in romantischen Romanen, in denen knallharte Karrierefrauen ihre große Liebe fanden. 
Sie war so hoffnungsvoll, als sie Michael im März zum ersten Mal begegnete. Trotz des Altersunterschiedes von fast zwanzig Jahren fühlte sie ein belebendes Kribbeln in seiner Nähe. Er war groß und schlank, ansonsten optisch eher durchschnittlich. Die braunen Haare wirkten immer so, als hätte er einen Friseurtermin verpasst. Sie wellten sich sowohl um die Ohren herum als auch im Nacken, doch er schien dem keine Bedeutung beizumessen. Er trug stets einen Drei-Tage-Bart. Sein Äußeres konnte wohlwollend als lässig bezeichnet werden, böse Zungen hätten den Ausdruck nachlässig bevorzugt.
Bereits bei ihrer ersten Begegnung war es um Marina geschehen. Sie erinnerte sich noch an den durchdringenden Blick, mit dem er sie musterte. Sie trafen sich in ihrem Büro, um über eine mögliche Kooperation bezüglich der Wattwanderungen für die Feriengäste der Weißen Düne zu sprechen. Obwohl sie sich auf ihrem Terrain befand, wo er ihr lediglich Vorschläge zu den Touren unterbreitete, hatte er sie durch diese selbstsichere Ausstrahlung enorm verunsichert.
Schnell erkannte Marina jedoch, wie sensibel Michael war. Mit seiner zurückhaltenden Art gewann er im Nu ihr Vertrauen. Sie war nicht nur von seinem Wissen, sondern insbesondere von der Leidenschaft inspiriert, mit der er von dem Wattenmeer sprach. Was für sie selbst nur eine langweilige schmutzige Schlickfläche war, sah Michael als Wunder der Natur, das einen spannenden Lebensraum für zahlreiche Organismen bot. Er konnte sich für Wattwürmer ebenso begeistern wie für Miesmuscheln oder Prielkrebse. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er ihr aufgeregt von einer Wanderung erzählt hatte, bei der er Kindern die Baumkronen der Bäumchenröhrenwürmer zeigte. Obwohl sie sehr häufig im küstennahen Bereich vorkommen, werden die ein bis zwei Zentimeter aus dem Watt ragenden Kronen leicht übersehen. Begeistert waren die beiden Mädchen zu ihren Eltern gelaufen, um sich deren Handys für die Aufnahme von Erinnerungsfotos auszuleihen. Ihre kindliche Freude hatten sie auf Michael übertragen. Selbst als er Marina davon erzählte, glühten seine Wangen vor Begeisterung. Er wurde nicht müde ihr weitere Details zu erzählen, so dass sie außerdem erfuhr, dass diese Würmer binnen Stunden ihre Röhren reparieren, wenn sie übersandet oder freigespült werden.
Marina erinnerte sich an jedes Detail. Weil sie bei Michaels Ausführungen so fassungslos war, rauschte sein Redeschwall komplett an ihr vorbei. Später hatte sie es noch einmal nachgelesen, um gegebenenfalls gewappnet zu sein. Sie hatten allerdings nie wieder über diesen speziellen Wurm gesprochen.
Unwillkürlich bildeten Marinas Lippen bei der Erinnerung an seine enthusiastischen Ausführungen ein zaghaftes Lächeln. Viele Gäste waren nach einer Wattwanderung unter seiner Führung zu ihr gekommen, um sich für den großartigen Ausflug sowie die spannenden Informationen über die kleinsten Meeresbewohner zu bedanken. Manche waren so hingerissen, dass sie die Tour gleich noch einmal zu einer anderen Tageszeit buchten.
So hatte es angefangen. Für eine kurze Zeit war sie einfach glücklich gewesen. Sie verabredeten sich zu Ausflügen in die Umgebung, erkundeten Städte wie Friedrichstadt mit den Häusern der niederländischen Backsteinrenaissance an den Grachten, auf denen sie eine Bootstour genossen. Marina fühlte sich dabei in einer anderen Welt. So ein Tag mit Michael war erholsam wie ein ganzer Urlaub. Sie erinnerte sich genau an diese Stunden. Meist beschlossen sie den Abend mit einem herrlichen Mahl bestehend aus regionalem Fisch mit einer Flasche Wein. Zusammen waren sie so unbeschwert. Gern wäre Marina ihm noch näher gekommen, doch das ließ Michael nicht zu. Ihre Gespräche drehten sich meist um die Arbeit. Er berichtete nicht nur von seinen Herausforderungen, sondern auch von Visionen, sie von ihren Träumen sowie Plänen.
Michael bewies Ausdauer als guter Zuhörer, der ihr wertvolle Ratschläge gab. Ihr Selbstbewusstsein wuchs. Allein über Persönliches sprach er nie. Marina sah die Traurigkeit in seinen Augen, insbesondere in Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlte. Ihre Vermutung, er brauchte Zeit, um Vertrauen aufzubauen, paarte sich mit der Zuversicht, er würde sich öffnen, wenn sie sich erst näher kannten. 
Doch es kam anders: Mitte Mai zog er sich plötzlich zurück. Den Kontakt beschränkte er auf die Absprachen bezüglich der Wattwanderungen für die Feriengäste. Es gab kein Gespräch, geschweige denn eine Begründung für den Rückzug. Obwohl sie nur freundschaftlich miteinander umgegangen waren, ohne dass er ihr etwas versprochen hatte, fühlte sie sich in ihrer Enttäuschung zurückgewiesen. Es verunsicherte sie zu sehr, um eine Aussprache zu fordern. Obwohl sie sich ebenfalls distanzierte, blieb die Hoffnung, er würde seine Meinung ändern, sich ihr offenbaren, entschuldigen, was auch immer. Nichts davon passierte – und nun war er tot. Das raubte ihr die Fassung.
Als das Telefon klingelte, blickte sie auf, um festzustellen, wie spät es war. Sie nahm ihre Umgebung nur schemenhaft durch den Schleier der Tränen wahr. Um die Zeiger der Wanduhr zu erkennen, rieb sie sich, in dem Versuch den Anflug der Verzweiflung abzuschütteln, die Augen. 
Es war kurz nach 23 Uhr. 
Bei dem Anrufer konnte es sich nur um Christian handeln – ihren Freund in Hamburg. Ihr fehlte die Kraft, jetzt mit ihm zu sprechen. Es lief schon lange nicht besonders zwischen ihnen. Wenn Michael ihre Gefühle erwidert hätte, wären sie schon längst kein Paar mehr. Nach allem was geschehen war, brachte sie es nicht fertig, sich ganz von ihm zu trennen, obwohl sie sich lediglich selten sahen. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Marina wartete ab, ob der Anrufer ihr etwas draufsprach.
Klick. Keine Nachricht. Auch egal.
Sie wollte jetzt ohnehin mit ihrer Trauer allein sein. Kraftlos schleppte sie sich ins Badezimmer, um Wasser in die Wanne einzulassen. Ein heißes Bad und einige Gläser Rotwein würden ihr hoffentlich die nö tige Bettschwere sowie einen tiefen Schlaf bescheren, möglichst traumlos. Notfalls musste sie die ganze Flasche austrinken! Bevor sie sich schwerfällig in die kleine Küche begab, um den Wein zu entkorken, kippte sie eine großzügig bemessene Menge von dem Lavendel-Badeschaum hinzu. Der raumfüllende Blütenduft entspannte sie ein wenig. Die Wanne war erst halb voll, genug Zeit, um noch einmal zu schauen, ob der späte Anrufer tatsächlich ihr ferner Freund gewesen war.
Ja, Christian!
Sicher war die Beziehung in absehbarer Zeit zum Sterben verurteilt. Im Grunde war sie bereits tot. Der Gedanke löste keinerlei Emotionen aus.
Als die Wanne gut gefüllt war, zog sie sich langsam aus und ließ sich ins heiße Wasser gleiten. Es erschreckte sie selbst, wie sehr der Tod von Michael sie mitnahm. Das wohltuende Nass umhüllte sie wie ein warmer Mantel, der sie vor Kälte sowie Grausamkeit schützte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie den ganzen Abend gefroren hatte.  Sie nahm einen großen Schluck von dem Wein. Kurz zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Wann hatte sie eigentlich zuletzt etwas gegessen? Vermutlich war das Brötchen zum Frühstück ihre letzte Mahlzeit gewesen. Schon bald darauf hatte sie von dem Mord an Michael erfahren. Um die Traurigkeit vorerst abzuschütteln, lenkte sie ihre Gedanken zu der Begegnung mit der Kommissarin, auch wenn ihr die Erinnerung die Schamesröte ins Gesicht trieb. Sie kam sich im Nachhinein ziemlich albern vor. Die trotzige Verweigerung der Herausgabe der Daten basierte einzig und allein auf dem selbstbewussten Verhalten der Polizistin. Insgeheim beneidete Marina die Frau. Sie schien keine Skrupel zu haben, Forderungen zu stellen. Als sie Marina direkt fragte, ob sie mit Michael liiert war, wurde es ihr einfach zu viel. Unbewusst hatte die andere den Daumen in die Wunde gelegt. Es war beschämend genug. Um keinen Preis wollte Marina darüber reden – schon gar nicht mit dieser souveränen Frau, die ihr Leben bestimmt besser im Griff hatte als sie selbst. 
Marina spürte Wut. Heiße Wut, die ihr auf jeden Fall willkommener war, als die tiefe Trauer um eine Liebe, die eigentlich gar keine war.
Doch wie sollte sie der Kommissarin am nächsten Tag begegnen?