Torge in Tating | 02. und 03. September
Hochzufrieden war Torge nach Hause gefahren. Die kleine Reetkate in Tating war seit Generationen in Familienbesitz. Seit er sie vor zwanzig Jahren von seinen Eltern geerbt hatte, wohnte er dort mit seiner Frau Annegret. Vormittags arbeitete sie in Tönning als Schneiderin, aber den Rest des Tages kümmerte sie sich sowohl um das Heim als auch den Garten, den ein Meer aus Heckenrosen umgab. Nicht nur die typische nordfriesische Küche, sondern auch das Backen gehörte zu ihren Leidenschaften. Sie war Mitglied bei den Landfrauen und einfach seine bessere Hälfte.
Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, ihn zu kritisieren, weil er erst in der Nacht nach Hause kam. All das schätzte Torge an ihr, während er sich freute, in eine so heimelige Umgebung zurückzukehren. Im Kühlschrank stand ein Teller mit seinem Abendessen. Doch statt die Mahlzeit in die Mikrowelle zu stellen, ging er mit einem Bier in den
Garten. Sich in dem Strandkorb niederlassend, blickte er zum Sternenhimmel.
Es herrschte absolute Stille. Keiner der gut tausend Einwohner des Ortes im Herzen von Eiderstedt schien noch wach zu sein.
Stille und Dunkelheit. Hier konnte er das Rauschen des Meeres nicht hören – trotzdem hätte er um keinen Preis dieses kleine Haus gegen ein anderes an der Wasserkante eingetauscht. Annegret hatte daraus ein Paradies geschaffen, es war zu seinem Ruhepunkt geworden, was er sehr genoss.
Einen tiefen Schluck aus der Flasche nehmend ließ er den Tag Revue passieren. Michael war tot. Darüber war er nach wie vor fassungslos. Welches Geheimnis umgab diesen schweigsamen Mann, in dessen Blick immer ein bisschen Traurigkeit lag? Konnte es etwas mit der kurzen Affäre mit der Lessing zu tun haben? Torge bezweifelte es.
Er warf noch einen letzten Blick in den grandiosen Sternenhimmel, leerte die halbvolle Flasche in einem Zug und erhob sich aus dem typischen nordischen Sitzmöbel, das er bei einer Versteigerung der ausgemusterten Originalstücke vom Ordinger Strand ergattert hatte. Auf dem Weg ins Haus dachte er noch einmal an die neue Kommissarin aus der Stadt. Das war heute Abend gar nicht so schlecht gelaufen. Sie schien wirklich stark zu sein. Vermutlich war die Annahme seiner Hilfe lediglich widerwillig geschehen, aber sie war über ihren Schatten gesprungen.
Er wurde dadurch Teil der Ermittlung, dabei hatte sie ihm anvertraut, wie sie weiter vorgehen würde – wenn auch anscheinend nur versehentlich. Mal abwarten, was er dazu herausfand. Heute war er ihr sogar einen Schritt voraus gewesen.
Gelang ihm das morgen noch einmal?
Vielleicht wusste Annegret etwas über Schwertfeger, das nicht allgemein bekannt war. Frauen tratschten gerne. Am
liebsten hätte er sie sofort geweckt, doch bei allem Verständnis für ihn sowie seine Ambitionen würde sie ihm das bestimmt übelnehmen. Er musste sich bis zum Frühstück gedulden.
Als Torge die Augen aufschlug, wanderten die ersten Sonnenstrahlen gerade durch das Schlafzimmer. Während Annegret bereits unten in der Küche rumorte, lag er hier immer noch herum. Schnell stand er auf, um in Windeseile zu duschen. Heute war sein freier Tag, aber natürlich kein Grund zu faulenzen. Die Ereignisse des gestrigen Tages erforderten seinen Einsatz. Beim Frühstück mit Annegret hoffte er, einiges über Schwertfeger herauszufinden. Wenn sie nichts wusste, würde er sie bitten, sich für ihn ein bisschen umzuhören. Ihr Gefrotzel, er spiele sich als Amateur-Ermittler auf, musste er über sich ergehen lassen. Das war ihr Spaß dabei. Am Ende würde sie ihn dann doch unterstützen. Je nachdem, welche Informationen sie für ihn hatte, plante er anschließend den Tag. Außerdem sollte es ihm gelingen, Knud und die Kommissarin zu treffen, um mitzubekommen, wie es in dem Fall weiterging.
Kaffeeduft empfing ihn in der Friesenküche, die in Weiß und Friesenblau eingerichtet war. Im Sonnenlicht wirkte sie nicht nur frisch, sondern gleichzeitig gemütlich. Am Herd stehend brutzelte Annegret Eier mit Speckstreifen. Sein Arzt hatte ihm empfohlen, morgens auf Müsli sowie mageren Joghurt umzusteigen. Aber das verweigerte er konsequent.
Annegret hatte ihm das eine Woche lang serviert, woraufhin er sie mit Schweigen strafte. Als er drohte, in der Ferienanlage zu frühstücken, wenn sie ihm weiterhin dieses Vogelfutter vorsetzte, hatte sie aufgegeben. Seitdem setzten sie wieder ihr harmonisches Frühstücksritual fort, für das Torge sich immer Zeit nahm. Annegret kochte dafür das Abendessen etwas magerer und er versprach
einmal pro Woche Brokkoli zu essen, auch wenn er es im Grunde als sinnlos erachtete.
Sie von hinten umarmend, drückte er ihr einen Kuss auf den langen geflochtenen Zopf. „Moin
meine Liebe.“
„Moin
mein Seebär. Du bist spät dran. Konntest du gestern wieder kein Ende finden?“
„Hast du es noch nicht gehört? Michael Schwertfeger ist im Watt erschlagen worden – in der Nacht von Freitag auf Samstag.“
Annegret ließ den Bratenwender fallen und drehte sich abrupt um.
„Ist nicht dein Ernst! Der Micha? Was hat der denn verbrochen?“
„Das fragen sich alle. Hhm. Ich dachte, du wüsstest vielleicht etwas über ihn, was sich noch nicht herumgesprochen hat. Ihr Frauen wisst doch immer etwas mehr als wir“, schmeichelte er.
Den Bratenwender wieder aufhebend drohte Annegret ihrem Mann damit.
„Was heißt das denn? Wir Landfrauen klatschen und tratschen?“
„Neeeiiiinn! Natürlich nicht. Ich dachte nur ..., ja, so ähnlich. Komm, du weißt, wie ich es meine ...“ Torge setzte den schuldbewussten Blick auf, der bei ihr fast immer wirkte. „Ja, ich weiß genau, wie du es meinst!“ Noch einmal hob sie, begleitet von einem gespielten grimmigen Blick, das Küchenutensil.
Torge ignorierte sie. „Es ist wirklich wichtig. Knud hat eine Kommissarin aus Hamburg an seine Seite bekommen. Es würde ihm helfen, wenn wir ihn mit Informationen unterstützen, an die sie nicht so einfach kommt.“
„Knud – soso. Du willst nur Knud unterstützen, ja? Du bist überhaupt nicht scharf darauf, selbst ein bisschen zu ermitteln.“
Sie kannte ihn einfach.
„Weißt du etwas?“, versuchte er abzulenken, ohne auf das Geplänkel einzugehen.
Annegret spülte in aller Gemütsruhe den Bratenwender ab, um sich dann wieder dem Rührei mit Speck zu widmen. Sie spannte ihn also auf die Folter. Das wertete Torge als gutes Zeichen. Wenn sie ahnungslos wäre, hätte sie vermutlich gleich verneint. Obwohl er vor Ungeduld fast platzte, nahm er sich einen Pott Kaffee und ließ drei Löffel Zucker hineinrieseln. Genüsslich umrührend tat er so, als ob ihn das Thema gar nicht mehr interessierte. Wenn er sie jetzt drängte, ließ sie ihn noch länger zappeln – dann lieber erst einmal den Morgenkaffee genießen.
Nur wenig später türmte sie die kalorienreiche Mahlzeit auf einen Teller, den sie vor Torge auf den Tisch stellte. Sie selbst bevorzugte ein Rundstück
mit Marmelade – dazu einen großen Becher Kaffee mit ein wenig Milch.
„Danke. Lass es dir schmecken.“
Ihr zunickend machte sich Torge über das üppige Frühstück her.
„Also“, nahm Annegret den Faden wieder auf, „die Juliane ist Landfrau bei uns. Sie ist mit Hinnerk, dem Vorsitzenden des Vereins Naturschutzgesellschaft Wattenmeer verheiratet.“
Torge hatte den Mund zu voll genommen, um antworten zu können. Also nickte er nur.
„Hinnerk hat Michael im letzten Sommer eingestellt. Ich weiß von Juliane, dass die Gespräche zum Teil auf der Kippe standen, weil Schwertfeger Sonderwünsche hatte, die der Verein erst nicht erfüllen wollte. Warte mal ... ich weiß nicht mehr genau, wobei es dabei ging. Ich glaube, es ging auch um das Wohnen im Turm von Westerhever.“
Torge hatte mittlerweile den großen Bissen bewältigt, wodurch er wieder in der Lage war, sich an dem Gespräch zu beteiligen: „Ja, Hinnerk habe ich vor zwei Jahren auf dem Fest der Freiwilligen Feuerwehren kennen gelernt.
Wir haben eine ganze Weile zusammen geschnackt
“, sinnierte er, dann war er wieder beim Thema. „Hat Juliane auch etwas darüber gesagt, wo Michael eigentlich herkam? Ich glaube, das weiß hier keiner so genau. Was hat er vorher gemacht?“
Annegret schüttelte zu Torges Bedauern den Kopf. Einen Moment vergaß er, weiter zu essen. „Und was ist mit seinem Techtelmechtel mit der Lessing?“
„Mit der Lessing? Michael war mit Marina Lessing zusammen? Bist du sicher? Die ist doch gerade einmal halb so alt wie er!“
„Du triffst dich doch Mittwoch wieder mit den Landfrauen. Versuch bitte etwas herauszubekommen. Ach, ruf´ Juliane am besten schon heute oder morgen an, um ein bisschen mit ihr zu schnacken
.“
„Ah, du spannst mich also in deine Ermittlungen ein. Werde ich offiziell zum Hilfssheriff ernannt? Was springt für mich dabei heraus?“
Irritiert ließ Torge die Gabel sinken, auf die er gerade ein Tomatenviertel gespießt hatte, das ebenfalls Teil des gesünderen Ernährungsplanes war.
„Seit wann forderst du denn Gegenleistungen für dein Wissen?“ Schon sah er, dass seine Frau das Schmunzeln nicht unterdrücken konnte.
„Ja, ärgere mich nur. Mit mir kann man es ja machen“, antwortete er gut gelaunt, während er die Gabel zum Mund führte.
„Ich weiß tatsächlich etwas, das dich sicherlich interessiert. Versprichst du, heute Nachmittag rechtzeitig zurück zu kommen?“
Torge versuchte, sich zu erinnern, was geplant war. Meist bestand Annegret nur auf seine Anwesenheit, wenn die Familie kam oder sie einen Ausflug machen wollten.
„Maria, Jens und die Kinder kommen um drei zum Kaffee. Lukas und Lena freuen sich bestimmt, wenn sie mit ihrem
Opa im Garten herumtollen können“, half sie ihm auf die Sprünge.
Natürlich, wie konnte er das vergessen!
Ihre Tochter wohnte seit acht Jahren in Bremen. Seitdem kam sie nicht mehr sehr oft zu ihnen. Der Besuch war bereits eine Weile geplant und alle freuten sich auf das Wiedersehen.
„Ich verspreche, pünktlich wieder hier zu sein ... nun erzähl mir bitte, was du weißt! Du hast mich lange genug auf die Folter gespannt.“
„Hinnerks Segelboot liegt im Hafen von Büsum. Juliane hat am Mittwoch erzählt, dass er dieses Wochenende dort sein wird, um Reparaturen vorzunehmen. Eine gute Gelegenheit, oder? Juliane begleitet ihn vielleicht, das stand noch nicht fest, als sie es mir erzählt hat. Die Chancen stehen gut, die beiden dort anzutreffen. Dann kannst du umfassend ermitteln“, fügte sie amüsiert hinzu.
Torge war sofort begeistert. Das war eine Information, über die die Kommissarin ganz bestimmt nicht verfügte. Mit etwas Glück war Hinnerks Handy ausgeschaltet, weil er ungestört sein Boot reparieren wollte. Das würde ihm wieder einen Vorsprung verschaffen. Unter der Voraussetzung etwas Wichtiges herauszubekommen, konnte er bei Knud und der Wiesinger punkten. Wenn ihm das mehr Respekt verschaffte, blieb er Teil der Ermittlung.
Nun war es mit seiner Ruhe vorbei. Er schob den Teller beiseite, obwohl er noch nicht ganz leer gegessen war. „Kennst du den Namen von der Segelyacht? Ist es überhaupt eine Yacht oder nur ein kleines Boot?“
„Das weiß ich nicht.“ Annegret zuckte mit den Schultern.
Torge nickte ergeben. „Ja, Frauen und Segelboote. Da treffen zwei Welten aufeinander. Kein Problem, ich finde es schon heraus. Der Hafenmeister wird ja auch dort sein. Der kann mir bestimmt weiterhelfen.“
Er nahm noch einen großen Schluck
Kaffee.
„Ich danke dir für das Frühstück, min seute Deern
. Nun muss ich aber los, damit ich pünktlich wieder zum Kaffee zurück bin.“
„Ist schon klar. Bring doch Krabben aus Büsum mit, wenn die Kutter in den Hafen kommen. Mindestens ein Kilo. Die Kinder freuen sich bestimmt, wenn sie pulen dürfen.“
„Mach ich.“ Torge stellte sein Geschirr auf die Spüle. Den Rest überließ er seiner Frau. Noch einmal küsste er sie an diesem Morgen, dann war er aus
der Tür.