Charlie in SPO | Sonntag, den 03. September
Als sie die Polizeistation von St. Peter betraten, war Charlie erstaunt über deren moderne Einrichtung. Insgeheim hatte sie mit antiquiertem Mobiliar sowie ebensolcher technischen Ausstattung gerechnet. Etwas irritiert stellte sie außerdem fest, dass sie unbesetzt war. Was geschah, wenn es einen Notfall gab? War die Gegend so friedlich und ungefährlich? Als sie Petersen darauf ansprach, reagierte dieser gelassen: „In der Tat passiert hier nur wenig Dramatisches. Allerdings haben wir schon länger eine vakante Stelle. Eine Zeitlang gab es außerdem eine Halbtagskraft für den bürokratischen Kram, aber das Geld ist immer knapp. Im Moment ist das Telefon auf mein Handy umgeleitet. Nachts gibt es eine Bereitschaft in Heide. Nicht optimal, aber so ist es halt.“
Damit gab sich Charlie zufrieden. Nebenbei schaute sie sich weiter um. Drei Schreibtische standen in dem geräumigen Büro, das hell und freundlich wirkte. Alle Arbeitsplätze waren mit modernen PCs sowie großen Displays ausgestattet.
Ein digitaler Kopierer stand in einer Ecke.
„Lassen Sie uns mit den Ergebnissen der Anfrage beginnen, ob es bereits einen ähnlichen Fall entlang der Küste gegeben hat“, forderte sie ihren Kollegen auf. „Welchen Arbeitsplatz kann ich nutzen?“
Zwei Schreibtische standen sich gegenüber, der Dritte quer zu den kurzen Seiten. Auf diesen deutete Petersen. Charlie nickte, setzte sich, um sofort den PC einzuschalten.
„Haben Sie einen Gast-Zugang, unter dem ich mich anmelden kann?“
„Am besten nutzen Sie die Kennung von Fiete, bis er wieder da ist. Er hat umfangreichere Rechte als der Gastzugang.“
Zufrieden nickend nahm Charlie den Zettel mit den Zugangsdaten entgegen. Nachdem sie sich in die Datenbank eingeloggt hatte, konnte sie die Ergebnisse von Petersens Anfrage einsehen. Zu ihrer Überraschung hatte es tatsächlich im Frühjahr einen Todesfall gegeben.
„Schauen Sie mal hier. Es gibt ein positives Ergebnis.“
Auch Petersen hatte nicht damit gerechnet. Er umrundete den Tisch, um ihr über die Schulter zu schauen. Charlie hatte indessen bereits einige Details zu dem Fall gelesen. „Im April gab es einen Toten im Watt zwischen den Inseln Amrum und Föhr. Er kam ebenfalls auf einer nächtlichen Wanderung ums Leben. Es ist nie geklärt worden, ob es sich um einen Unfall oder einen Mord handelte.“ Nachdenklich betrachtete sie den Bildschirm. Auch er schien sprachlos zu sein.
„Zwischen Amrum und Föhr“, murmelte sie. „Wie weit liegen die Inseln auseinander?“ 
Petersen brauchte einen Moment, bis Charlies Frage in sein Bewusstsein sickerte. „Wie bitte?“
„Wie weit liegen die Inseln Amrum und Föhr auseinander?“, wiederholte sie ihr Anliegen. 
„Von der Nordspitze von Amrum bis nach Utersum auf Föhr sind es nur ungefähr zwei Kilometer. Durchs Watt ist es aber nicht möglich, diesen direkten Weg zu nehmen. Beim Starten auf Amrum müssen Sie unmittelbar durch einen Priel, der relativ flach ist, das geht noch. Wenn Sie allerdings nach Föhr kommen, treffen Sie auf einen großen bzw. tiefen Wasserlauf vor Utersum, der nicht durchwatbar ist. Der Weg durchs Watt führt eine Weile parallel zur Küste bis Sie auf der Höhe von Dunsum an Land gehen.“
Während der Ausführungen rief Charlie sich die Karte im Internet auf, um einen Eindruck von den Entfernungen zu bekommen. Sie schätzte dadurch eine Verdoppelung des  Weges. Der Mann, der im April sein Leben verlor, war eindeutig ertrunken. Da er keine weiteren Verletzungen aufwies, wurde die Ursache, die zu seinem Tod geführt hatte, nicht weiter geklärt. Gegen einen Unfall sprach, dass es sich um einen erfahrenen Wattwanderer handelte. Er war sowohl mit der Gegend als auch dieser Tour vertraut, war sie schon oft gelaufen – auch bei Nacht. Er kannte die gefährlichen Stellen, insbesondere den tiefen Priel, der nicht einfach überquert werden konnte. Aber für einen Mord gab es kein Motiv. 
Wie bei Schwertfeger, dachte Charlie. Gedankenversunken starrte sie auf den Bildschirm, klickte zwischen der Landkarte sowie den Informationen zu dem Toten hin und her. Petersen hatte sich mittlerweile an seinen eigenen Schreibtisch gesetzt, um den Bericht der Kollegen ebenfalls aufzurufen. 
Hatten sie es mit einem Irren zu tun, der nachts erfahrene Wattwanderer umbrachte? Bei dem Toten aus dem Frühjahr, einem Mann namens Harald Burchardt, handelte es sich um einen Touristen, einen Mittsechziger, der mehrmals im Jahr aus dem Ruhrpott an die Küste kam. Er war hier aufgewachsen, wodurch er die Nordsee, ihre Gesetzmäßigkeiten sowie Tücken kannte. Da es aber kein Motiv gab, war der Fall als Unfall eingestuft worden, die Ermittlungen wurden eingestellt .
Charlie gähnte. Der Fall war nicht im Mindesten so simpel und eindeutig, wie sie gehofft hatte. Es war erst 12 Uhr mittags, aber sie sehnte sich nach ihrem flauschigen Bett in der Ferienanlage, um sich die kuschelige, wohlduftende Decke über den Kopf zu ziehen. Gab es bereits zwei Tote, über die sie den Background recherchieren sollten oder handelte es sich bei dem im April Ertrunkenen um einen Holzweg, einen Fall, der mit ihrem gar nichts zu tun hatte? Charlie rieb sich die brennenden Augen. Ein Becher Kaffee wäre jetzt toll!
Sie löste den Blick vom Bildschirm. Ihr Kollege schien mit ähnlichen Gedanken und Ermüdungserscheinungen zu kämpfen.
„Gibt es in Ihrer topmodernen Polizeistation einen Kaffeevollautomaten? Ich brauche dringend eine Dosis Koffein“, fügte sie erklärend hinzu.
Petersen nickte. „Das ist eine gute Idee! Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen unsere Küche. Der Weg lohnt sich“, fügte er aufmunternd hinzu.
Nachdem Charlie ihm in den hinteren Bereich des Polizeireviers gefolgt war, stieß sie einen anerkennenden Pfiff aus. Es gab tatsächlich frischen Kaffee auf Knopfdruck. Petersen füllte zwei Becher und reichte ihr einen.
„Was halten Sie von dem zweiten Toten, Kommissarin? Glauben Sie an einen Zusammenhang mit unserem Fall?“ „Schwer zu sagen. Für eine bessere Einschätzung sollten wir den ganzen Bericht lesen, auch den der Rechtsmedizin. Außerdem befragen wir den Pathologen, wenn wir ihn treffen. Ansgar Johannsen hat auch ihn obduziert. Wie schätzen Sie den Fall ein, Petersen?“
„Ich sehe es so wie Sie.“ 
Mit dem Kaffee kehrten sie in das Büro zurück. Er warf einen Blick auf den Bildschirm. „Oh, da ist eine eMail von Ansgar. Er bittet uns, morgen um zehn Uhr zu ihm nach Husum zu kommen. Dann hat er ausführliche Informationen.“
Charlie nickte. „Dann bleibt uns für heute nur Recherchieren. Ich werde mir den Bericht über den Toten von Föhr ausdrucken, um ihn in meinem Bungalow zu lesen. Außerdem höre ich mich in der Ferienanlage noch ein bisschen um. Es gibt eine Familie, die mit Schwertfeger die letzte Wanderung unternommen hat. Vielleicht ist denen etwas aufgefallen. Unwahrscheinlich, aber was soll´s. Wir müssen alles versuchen.“
„Sie sind doch an die Daten der Gäste gekommen?“ Petersen war verblüfft. „Wie haben Sie das geschafft?“
„Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte nur einen kurzen Einblick. Den Zugang über die Lessing besorgen wir uns spätestens morgen. Sagen Sie, kann man hier in der Nähe etwas Typisches essen?“ 
„Mögen Sie Fisch?“, stellte er als Gegenfrage.
„Unbedingt! Aber bitte schicken Sie mich nicht zu Gosch .“
„Hatte ich nicht vor“, grinste er. „Da wir jetzt bereits im September sind, kann ich Ihnen die Restaurants auf den Pfahlbauten auf dem Strand empfehlen. Die große Touristenwelle ist weg, damit steigt die Qualität. Ansonsten gibt es den einen oder anderen Geheimtipp ein wenig abseits. Ich empfehle Ihnen allerdings: Probieren Sie es heute erst einmal auf dem Strand von St. Peter aus. Das Wetter ist gut. Sie können draußen sitzen, das Meer beobachten, wie es sich zurückzieht und weiter Atmosphäre aufnehmen. Nach dem Essen laufen Sie ein paar Schritte durchs Watt. Dann lernen Sie es lieben.“ Er grinste. „Haben Sie alte Socken mit?“
„Alte Socken?“
„Ja, gehen Sie bei diesem Wetter statt barfuß mit zwei Paar alten Socken übereinander. Es gibt im Watt ´ne Menge Muscheln, an denen Sie sich die Füße aufschneiden, wenn Sie darauf verzichten. Ist ein Insidertipp.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Gefällt mir, Sie hier zu haben. Wäre schön, wenn es so bleibt.“
„Danke für die Blumen ... und den Insidertipp. Also gut, dann Pfahlbauten und alte Socken.“
„Ich setze Sie an der Weißen Düne ab, wenn der Ausdruck fertig ist. Wenn sich zwischenzeitlich etwas ergibt, melde ich mich. Ansonsten sehen wir uns morgen früh um acht im Frühstücksraum“, übernahm er zum ersten Mal die Führung, seit Charlie in SPO angekommen war.
„Oder vor meinem Bungalow, wenn Sie es nicht aushalten“, frotzelte sie. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, anzukommen.
„Das kann natürlich passieren“, stimmte er zu, bevor er sich auf die Berichte zu dem Toten vor Föhr konzentrierte.
Bei einer unvergleichlichen Aussicht genoss Charlie wenig später eine köstliche Mahlzeit. Oben vor dem Pfahlbau auf der Terrasse sitzend, entschied sie sich für eine Scholle mit Krabben, dazu ein kleines Bier. Eine Umrandung aus Plexiglas schützte nicht nur vor dem Wind, sondern ließ gleichzeitig den freien Blick auf das Wasser bzw. das Watt zu. Wie Knud prophezeit hatte, war bereits Ebbe. Der niedrigste Stand des Wassers würde um 17.50 Uhr erreicht sein. Sie hatte sich schnell einen Tidekalender ausgedruckt, bevor sie das Büro verließen.
Nun beobachtete sie satt und zufrieden das Naturschauspiel. Möwen kreisten über dem Strand, auf dem sich etliche Touristen tummelten. Seit langem einmal wieder entspannte sie sich bis in die Tiefe. Sie beobachtete, wie bunte Drachen über den Strand flatterten, Sandburgen gebaut wurden und die Urlauber einfach ihre freie Zeit in der Sonne genossen. Angesteckt durch so viel Ferienaktivität, bestellte Charlie sich ein zweites Bier, streckte die Beine lang aus sowie das Gesicht in die Sonne. Eine Stunde Pause mehr schadete bestimmt nicht. Sie sollte sich angewöhnen, die Dinge etwas gelassener anzugehen. Heute wollte sie das einmal ausprobieren !
Charlie saß tatsächlich noch eine Stunde in der Sonne und beobachtete das Treiben am Strand, während sie über den Fall nachdachte. Wirklich rätselhaft. Nach der Auszeit verließ sie die innere Ruhe wieder, weswegen sie den Plan, durch das Watt zu laufen, verwarf. Das musste warten.  Sie wollte den Rest des Tages nutzen, um nach Möglichkeit die Familie zu befragen und sich schließlich durch die ausgedruckten Papiere zu kämpfen. Vielleicht erwischte sie ja die Managerin der Ferienanlage. Hoffentlich führte die nächste Begegnung nicht wieder zu einer Konfrontation. Das war einfach Energieverschwendung! 
Nach dem Bezahlen warf Charlie einen letzten Blick auf das Panorama, bevor sie die Stufen hinunterging. Unten angekommen versank sie mit den mittlerweile nackten Füßen im warmen Sand und begann zu verstehen, warum jeden Sommer zahlreiche Touristen hierherkamen. 
Das Urlaubsgefühl abschüttelnd stapfte sie barfuß bis zu der kürzlich restaurierten Holzbrücke, die weit in den breiten Strand hereinreichte. Dort angekommen klopfte sie den feinen, hellen Sand von den Füßen, um wieder in ihre Socken sowie Schuhe zu schlüpfen.
An der Rezeption fragte Charlie nach der Familie, die die letzte Wattwanderung mit Schwertfeger unternommen hatte, doch die war in ihrem Bungalow nicht zu erreichen. Die sonst immer hilfsbereite Dame verweigerte sowohl einen Anruf auf deren Handy, noch gab sie die Nummer preis. Resigniert schlenderte Charlie zu ihrem Ferienhäuschen. Lustlos blätterte sie in den Ausdrucken herum. Dieser Tag war nicht ergiebig gewesen. Obwohl Tag zwei nach dem Mord sich dem Ende zuneigte, waren die Ergebnisse mager. Das Hochgefühl vom Strand wich der Anspannung. Nun lag hier quasi ein zweiter Toter ohne Mordmotiv auf ihrem Tisch. War gerade das System? War der harte Schlag auf Schwertfegers Schädel ein Versehen gewesen? Hätte der Mord wie ein Unfall aussehen sollen?
Es half nichts. Charlie vertiefte sich in die Berichte, um zu prüfen, was die Kollegen bereits herausbekommen hatten.
Außerdem traf sie morgen den Rechtsmediziner beider Fälle. Gute Vorbereitung half sicherlich weiter. 
Ein Blick zur Uhr zeigte ihr, dass es bereits 16.30 Uhr war. Wo war der Nachmittag geblieben? Offensichtlich hatte sie eine ganze Weile vertrödelt. Entschlossen, diesem Tag zumindest noch einen kleinen Fortschritt in der Ermittlung abzuringen, bereitete sie sich in der Küche einen doppelten Espresso, um die Müdigkeit zu vertreiben. Sie hoffte, die Berichte in möglichst kurzer Zeit durchzuarbeiten. Als ihr Handy um kurz nach sechs klingelte, zuckte sie regelrecht zusammen, weil sie so in die Unterlagen vertieft war. 
„Matthias, das ist ja eine Überraschung. Was verschafft mir die Ehre?“
„Charlie, schalte den Fernseher ein – sofort! Drittes Programm. Ruf´ mich umgehend zurück, wenn der Bericht vorbei ist!“ Und schon war die Leitung wieder tot. 
Was sollte das denn? Schalte sofort das Dritte ein! Woher soll ich wissen, auf welchem Kanal das hier zu finden ist? Warum kommandierte Matthias sie in dieser Form herum? Gab es etwa noch einen Toten? Warum sagte er ihr nicht direkt, was passiert war, statt sie zum Fernseher zu hetzen? Mit jagenden Gedanken, griff sie nach der Fernbedienung, wobei sie instinktiv auf die Taste mit der drei drückte. Einen Moment später saß Charlie wie vom Donner gerührt vor der Mattscheibe, auf der kein Geringerer als Torge Trulsen in die Kamera lächelte.
Heilige Mutter!
Die Presse hatte nicht nur von dem Fall Wind bekommen, sondern mit dem Hausmeister ein Interview geführt. Der zeigte gerade mit wichtigem Gesichtsausdruck auf die Stelle, an der er den Toten gefunden hatte.
Kein Wunder, dass Matthias sauer war. Wie war es dazu gekommen ?
Gebannt starrte sie auf den Bildschirm, ohne sich rühren zu können. Doch es kam noch schlimmer. Er plauderte nicht nur über den Fundort, sondern hatte Hinnerk Liesenfeld gesprochen – was ihnen, der Polizei, nicht gelungen war – und erzählte nun den Zuschauern von N3 aktuell für die Küste von Schwertfegers Qualifikation, seinem Auslandsaufenthalt inklusive der Forschung. Über Letztere schien er keine Details zu wissen, doch war sie wohl entscheidend für die Einstellung gewesen.
Sie stand wie eine Idiotin da!
Der Hausmeister der Ferienanlage war ihr um Nasenlängen voraus.
Matthias – ihr Chef – würde toben.
Daneben sah sie bereits den spöttischen Blick von Thomas Hentschel.
Verdammt! Während sie sich mit einem Fall beschäftigte, der nicht nur fast ein halbes Jahr zurücklag, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit ein tragischer Unfall war, traf Torge Trulsen einen wichtigen Zeugen für die Backgroundrecherche. Als krönenden Abschluss gab er dann ein Interview im Fernsehen – wenn auch nur regional. Großartig!
Sie verspürte das kaum unterdrückbare Bedürfnis, Matthias mit einem ausgeschalteten Handy zu ignorieren. Sollte er sie doch suspendieren. Der nächste Flug in die Karibik war ihrer!
Zu spät. Kaum war Torge von dem Bildschirm verschwunden, klingelte ihr Mobiltelefon. Sie brauchte gar nicht nach der Nummer zu gucken.
„Hallo Matthias“, begrüßte sie ihn ergeben.
Moin , Kommissarin“, meldete sich eine bereits vertraut werdende Stimme. „Wer ist Matthias?“
„Petersen ..., mit Ihnen habe ich gerade nicht gerechnet“, kam die lahme Antwort.
„Ja, das habe ich gemerkt.
„Matthias ist mein Chef“, entgegnete sie aufgebracht. „Und der wird mir gleich die Hölle heiß machen.“
Knud sinnierte offensichtlich über die ursprüngliche Frage. „War mir nicht bewusst, dass Sie überhaupt einen Chef haben.“
„Ja, glauben Sie, ich wäre der Polizeipräsident?“, fuhr sie ihn an. Noch bevor sie den Satz ganz ausgesprochen hatte, tat es ihr bereits leid. „Entschuldigen Sie, Petersen.“
Es brachte nichts, ihre auf den Nullpunkt gesunkene Laune an ihm auszulassen. Es entwickelte sich gerade gut zwischen ihnen. Das jetzt kaputt zu schlagen, weil Matthias sauer war, brachte sie nicht weiter.
„Schon gut“, antwortete er entspannt. „Dann nehme ich mal an, Sie haben Torge gesehen?“
„Schlimmer! Ich wurde von meinem Vorgesetzten auf den Bericht gestoßen. Ich muss Schluss machen, Petersen. Er erwartet einen Rückruf. Wir sehen uns morgen.“
„Bis morgen, Kommissarin.“
Ihre Mailbox piepte sofort, als sie aufgelegt hatte. Also fügte sie sich in ihr Schicksal und rief zurück. Besser es gleich hinter sich zu bringen. Statt einer Begrüßung polterte Matthias sofort los: „Sag mal, Charlie, was ist da eigentlich los bei dir? Machst du Urlaub, während ein selbst ernannter Hilfssheriff nicht nur deine Ermittlungen leitet, sondern die Ergebnisse dann auch noch der Presse mitteilt?“
Sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Während sie ein, zwei Stunden auf der Terrasse des Pfahlbaus die Sonne genossen hatte, war der Hausmeister fleißig gewesen. Offensichtlich stand sie mit Freizeit auf Kriegsfuß. Das letzte Mal als sie sich einen Nachmittag freigenommen hatte und früh nach Hause kam ...
„Charlie!“, holte Matthias sie zurück. 
„Ja, ich bin dran“, antworte sie erschöpft. Sie fühlte sich in der Defensive. Nach zwei Tagen hatte sie nichts vorzuweisen. Natürlich war er sauer, wenn er dann so etwas sah.
„Es läuft hier noch nicht so gut“, fügte sie wenig geistreich hinzu.
„Ahh, es läuft noch nicht so gut“, wiederholte er gereizt. „Darauf wäre ich jetzt gar nicht gekommen. Erinnerst du dich, dass das deine Bewährung sein soll?“
Wie konnte sie diese Tatsache vergessen! 
„Matthias, gib mir etwas Zeit. Es sind erst zwei Tage. Ich bin zusammen mit dem Polizisten hier vor Ort an einigen Spuren dran ...“ Die Aussage war ziemlich übertrieben, ihr aber im Moment egal. Sie wollte ihn so schnell wie möglich loswerden.
„Ich brauche dir ja wohl nicht zu sagen, wie wichtig die ersten 48 Stunden sind.“
Ja, und die sind jetzt so gut wie um! Statt einer Antwort, gab sie nur einen Seufzer von sich.
„Was ist mit diesem Hausmeister los? Wieso sehe ich den in den Nachrichten?“ Matthias war noch nicht fertig. „Dazu mit Informationen, die besser nicht an die Öffentlichkeit geraten sollten?!“
„Der Vorsitzende des Vereins Wattenmeer war für uns nicht erreichbar, Trulsen kennt hier scheinbar jeden. Er hat ihn wohl privat aufgesucht.“
„Wieso ist er dann der Ansprechpartner für die Presse?“
„Das weiß ich nicht, weder bei Petersen noch bei mir haben sie sich gemeldet. Vielleicht ist das Team direkt zu der Ferienanlage gefahren - in der Hoffnung, dort jemanden anzutreffen, der ein Interview gibt.“
„Das hat ja auch wunderbar geklappt“, setzte er nach.
„Ja, ist dumm gelaufen, was ich jetzt nicht mehr ändern kann.“ 
Wie hätte sie es verhindern sollen? Heute setzte ihr der Fall mächtig zu. Eine Standpauke von Matthias war das Letzte, was sie jetzt brauchte.
Aber er war noch nicht fertig: „Was ist mit dem Haus und dem Büro des Toten? Hast du dort etwas gefunden?
In der Tat lag ihr seit ihrer Ankunft quer, sich nicht selbst darum gekümmert zu haben. 
„Petersen hat die Untersuchung mit einem Team von der Kriminaltechnik aus Heide übernommen, bevor ich hier angekommen bin. Es gibt nur einen Laptop, den haben sie mitgenommen. Ich rechne morgen mit Ergebnissen ...“
„Hast du dir wenigstens heute ein eigenes Bild von dem Lebens- und Arbeitsumfeld des Ermordeten gemacht?“
Als sie schwieg, deutete Matthias die Stille in der Leitung richtig. 
„Okay, Charlie. Das geht besser ... oder willst du doch lieber suspendiert werden? Dann kannst du ausgiebig in den Urlaub fahren! Wenn du bleibst, will ich den Arbeitseinsatz und die Ergebnisse, die ich von dir gewohnt bin. Schwing deinen Hintern nach Westerhever. Jetzt! Ich höre von dir.“ Damit knallte er den Hörer auf die Gabel.
Wie gern hätte sie nach dieser Standpauke die Minibar geplündert! Doch daraus wurde nichts. Eine Suspendierung kam nicht in Frage. Das ließ ihr Stolz nicht zu. Also rief sie Petersen zurück, um in Erfahrung zu bringen, wo sie den Schlüssel für den Leuchtturm herbekam und wie es mit Schwertfegers Büro in der Schutzstation aussah.
Sie hoffte, er würde sie begleiten.