Alexander in Lindau | Mitte Juni, sieben Jahre früher
Alexander beschloss, die Psychologin erst einmal alleine aufzusuchen. Lisa hatte sich zurückgezogen. Ihre höfliche sowie distanzierte Kommunikation beschränkte sich auf die Belange des Alltags. Seit zwei Wochen war das Thema Krebs totgeschwiegen worden. Alexander passte sich ihren Bedürfnissen an. Wenn Lisa Zeit brauchte, dann gab er sie ihr. Nun war er gespannt, was ihn bei dem heimlich vereinbarten Termin erwartete.
Die erste Überraschung hielt gleich der Blick auf die Ärztin bereit, die hinter ihrem Schreibtisch saß, als er die Tür öffnete. Alexander war sich nicht im Klaren, was er bei dem Namen Dipl.-Psychologin Dr. Elvira Katalina Leisering erwartet hatte, jedoch nicht diese kleine, recht mollige Frau mittleren Alters. Als er eintrat, stand sie sofort auf, um ihn mit einem warmen Lächeln zu begrüßen. Alexander schoss der Begriff kugelrund
in den Kopf, als er
ihre gesamte Erscheinung wahrnahm. Das gut sitzende Kostüm, kombiniert mit einer modischen Bluse und dezentem Schmuck, stand in Kontrast mit ihren rosigen Wangen sowie der leicht unvorteilhaften Frisur, die eher an eine Hausfrau der fünfziger Jahre beim Einkochen von Obst aus dem eigenen Garten erinnerte.
„Grüß Gott, Herr Blumenthal! Kommen Sie herein, Sie brauchen nicht so schüchtern sein.“
Alexander fing sich wieder. Ihre warmherzige Art gab ihm ein entspanntes Gefühl. „Grüß Gott, Frau Dr. Leisering.“
„Nennen Sie mich Elvira. Ich habe ein paar Jahre in den Staaten gelebt. Von der lockeren Art können wir uns eine Scheibe abschneiden. Ich schlage vor, wir setzen uns dort.“ Sie wies auf eine gemütlich aussehende Sitzgruppe. „Darf ich Ihnen einen Kaffee oder ein Wasser anbieten?“ Der zweite Überraschungsmoment hatte Alexander erfasst. Mehr als ein knappes „Wasser bitte“ brachte er nicht zustande.
„Nehmen Sie Platz. Darf ich Sie Alexander nennen?“ Als er nickte, fuhr sie fort. „Namen und Titel können ja sehr einschüchternd sein. Seit Jahren versuche ich, mich der Katalina
zu entledigen, doch meine Mutter lässt das nicht zu. Das klingt jetzt vielleicht etwas absurd, aber ich habe es bereits versucht. Als ich mein Praxisschild änderte, war Mama so lange beleidigt, bis ich das Vorherige mit meinem vollständigen Namen wieder aufgehängt hatte. Seitdem kommt die alte Lady jeden Monat einmal hier vorbei, um es zu kontrollieren. Sie sehen, wir Psychologen haben auch unser Päckchen zu tragen.“
Während Elvira ihm diese skurrile Geschichte erzählte, entspannte sich Alexander zusehends. Er begann Vertrauen zu fassen. In ihm keimte der Verdacht, sie sei frei erfunden, vielleicht hatte sie sich den zweiten Vornamen sogar extra zugelegt, um zu Beginn der Behandlung eines neuen Patienten mit dieser Geschichte das Eis zu brechen
.
Wie es auch war, es funktionierte. Nach einem Schluck Wasser übernahm er die Gesprächsführung, indem er anfing, von Lisa zu erzählen. Um nicht sofort mit dem Krebsthema einzusteigen, holte er ein bisschen weiter aus.
Alexander charakterisierte sie in all ihrem Optimismus und ihrer Fröhlichkeit, erzählte von der glücklichen Ehe, die von Vertrauen und Respekt geprägt war. Er entspannte sich endgültig als er wahrnahm, wie aufmerksam Elvira zuhörte. Nicht ein einziges Mal unterbrach sie ihn. Die fünfzig Minuten neigten sich dem Ende, als er sich traute, von Lisas Krankheit zu sprechen. Er offenbarte, dass nicht nur jeder für sich seine Probleme damit hatte, sondern auch sie beide als Paar. Plötzlich war ihre Harmonie gestört, wodurch ihre Kommunikation praktisch lahmgelegt wurde.
Elvira nickte verständnisvoll. „Ja, das höre ich nicht zum ersten Mal. Der Schock sitzt bei Ihnen beiden tief. Drei Wochen seit der Diagnose ist zu wenig Zeit, um die Phase der Wut und Hilflosigkeit zu überwinden. Kommen Sie schon übermorgen wieder her, Alexander. Wir werden weiter über ihren Schmerz sprechen. Außerdem versuchen wir, eine Strategie zu entwickeln, Lisa zu gemeinsamen Gesprächen hierher zu bewegen. Das ist doch Ihr Wunsch, oder?“
Als Alexander zustimmte, vereinbarten sie den
nächsten Termin.