Torge in SPO | Montag, den 04. September
Am nächsten Morgen war Torges Hochgefühl des Vortages verflogen. In Erwartung eines Donnerwetters von der Kommissarin fuhr er bereits sehr früh zur Weißen Düne
. Auf dem Weg überlegte er fieberhaft, was er den drohenden Vorwürfen entgegensetzen konnte. Sicherlich würde sie ihm vorhalten, mit dem Interview seine Kompetenzen überschritten zu haben. Leider war er in seiner Begeisterung nicht so klug gewesen, einige Informationen exklusiv für die Ermittlerin zurückzuhalten. Das hätte sie bestimmt milde gestimmt. Doch die Idee kam ihm erst letzte Nacht, als er über den Schlamassel nachdachte, in den er sich in seiner Euphorie einmal wieder manövriert hatte.
So´n Schiet
!
Ob sein Bonus bezüglich der kleinen Kooperation mit den Gästelisten noch zog? Immerhin konnte er ihr anbieten, wieder seinen Computer zu nutzen, wenn die Lessing nach
wie vor querschoss.
Vermutlich war ihr Interesse daran nicht mehr sehr groß, weil sich der Fall bereits weiterentwickelte. Die Fahrt von Tating nach St. Peter war zu kurz, um eine Lösung für sein Problem zu finden.
Als er das Foyer der Weißen Düne
betrat, genoss er die Stille, die hier um diese Uhrzeit herrschte. Fühlte sich an wie die Ruhe vor dem Sturm.
Ein Montagmorgen um sieben Uhr im September: Die Hochsaison hatte mit dem Überschreiten ihres Zenits die meisten Touristen wieder mit nach Hause genommen. Der Lärm der letzten Wochen war mit ihnen in ihrem Alltag entschwunden.
Obwohl er sich vor der Begegnung mit Knud und insbesondere der Wiesinger fast ein wenig gefürchtet hatte, war er enttäuscht, als er bei dem Rundgang durch die Ferienanlage keinen von beiden traf. In seinem Büro angekommen fragte er sich unwillkürlich, woran sie gerade arbeiteten. Wen trafen sie, um welche Informationen zu erhalten, die den Fall weiter vorantrieben? Missmutig wandte sich Torge den Bestellungen für Verbrauchsmaterialien zu. Das war eine mühselige Tätigkeit, die ihn bereits anstrengte, wenn er in guter Stimmung war, heute verschlechterte sich seine Laune dadurch immens. Doch wenn er sie weiter aufschob, stand er am Ende ohne Nachschub da, was nicht nur Ärger mit den Zimmermädchen geben, sondern sein Kerbholz bei der Lessing erweitern würde. Darauf konnte er getrost verzichten.
Kaum hatte er seinen Rechner hochgefahren, um sich in die Listen der zu bestellenden Reiniger, Seifen und anderen Gedöns
für die Gäste zu vertiefen, da wurde er durch ein Klopfen an der offen stehenden Tür unterbrochen. Mit einem erst nur flüchtigen Blick erfasste er eine kleine Frau mit wirren leicht lilafarbenen Haaren, die ein fast schon runzeliges Gesicht einrahmten. Sie stand
unschlüssig in der Tür, geduldig auf ein Zeichen wartend, das ihr signalisierte näher zu treten. Sogar Torge - selbst nicht gerade ein Mode-Geck - befand ihre Klamotten als unsagbar altmodisch, außerdem extrem kontrastreich zu der dominanten Haarfarbe, die er zum ersten Mal in seinem Leben sah – und er hatte schon viel gesehen! Er löste sich von der ungeliebten Aufgabe, um sie genauer zu betrachten. Im Grunde sah sie aus, als wäre sie aus einer anderen Zeit gefallen. Torge war unschlüssig aus welcher. Da sie optisch so unpassend in der Umgebung des modernen Feriendorfes war, vergaß er den aufkeimenden Ärger über die Störung schnell. Schon gewann seine Neugier die Oberhand. Er fragte sich unwillkürlich, ob sie sich verlaufen hatte. Da sie schwieg, eröffnete er das Gespräch mit einem Gruß: „Moin min Deern.
Kommen Sie doch hinein in mein bescheidenes Reich. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Morgen!“ Sofort kam Bewegung in die alte Dame. Mit gerader Haltung trat sie ein paar Schritte vor, um vor seinem Schreibtisch stehen zu bleiben. Ihre Stimme klang erstaunlich tief und fest:
„Ich brauche Ihre Hilfe. Ich will meine Tochter besuchen, die hier Urlaub in einem der Bungalows macht. An der Rezeption gab man mir diesen Plan.“ Wie zum Beweis hielt sie ein gefaltetes Blatt Papier in die Höhe. „Doch mit Kartenlesen habe ich es nicht so, gleiches gilt für meinen Orientierungssinn. Eher würde ich sonstwo landen, als in absehbarer Zeit das richtige Ferienhaus zu finden. Die freundliche Rezeptionistin, die ihren Posten derzeit nicht verlassen kann, hat mich zu Ihnen geschickt. Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei einer wichtigen Tätigkeit.“
So merkwürdig sie aussah, sie überzeugte mit guten Manieren und Respekt, was hier nicht unbedingt an der Tagesordnung war. Viele der Gäste sahen ihn eher als ihren persönlichen Lakai, der ständig nur darauf wartete, Sonderwünsche
zu erfüllen.
Innerlich froh, sich mit etwas anderem als der lästigen Büroarbeit beschäftigen zu können, nickte er der alten Lady aufmunternd zu. Mit einer Handbewegung lud er sie ein, sich zu setzen.
„Das haben wir gleich. Zeigen Sie mir einmal den Plan, dann finden wir Ihre Tochter bestimmt schnell. Hat die Empfangsdame sie in dem Bungalow nicht erreicht?“
Normalerweise holten die Gäste des Hauses ihre Besucher im Eingangsbereich ab.
„Mhm“, meldete sie sich wieder zu Wort. „Sie weiß nichts von meinem Besuch ...“
„Eine Überraschung?“
„So etwas in der Art.“
„Da wird sie sich aber freuen.“
„Das wird sich noch zeigen.“
Torge breitete gerade die Skizze auf seinen Schreibtisch aus, um nach dem eingekreisten Bungalow zu gucken, doch der Tonfall der Besucherin ließ ihn innehalten.
„Ach“, war alles, was ihm spontan dazu einfiel. Er überlegte, ob er nachfragen sollte. Im Grunde ging es ihn ja nichts an. Er fand die kleine schrullige Frau zwar ganz interessant, wollte sich jedoch nicht in eine Familienangelegenheit hineinziehen lassen. Sowohl die Bestellungen als auch der Mordfall warteten auf seinen Einsatz. Einfach schnell abliefern, um sich dann wieder um den eigenen Kram zu kümmern. Er nickte zustimmend zu dem Plan, doch sie schien das als Aufforderung zu begreifen, ihn weiter einzuweihen:
„Meine Tochter ist schon eine Weile hier zur Erholung“, setzte sie an, wobei Torge sich sofort fragte, ob er aus der Nummer herauskam, ohne unhöflich zu werden. Grundsätzlich waren alle zur Erholung hier! Vielleicht gab es in dem Jahrhundert, aus dem sie kam keine Urlaubsreisen ans Meer. Gerade als er sie unterbrechen wollte, um möglichst zu vermeiden, ihre ganze Lebensgeschichte anhören zu müssen, nahm sie ihm den Wind
aus den Segeln.
„Junger Mann, Sie haben sicher viel zu tun. Alle haben immer viel zu tun, hetzen sich ab, um dem Geld hinterherzujagen ...“
Sie holte weiter aus, als er befürchtet hatte.
„... ich will Sie weder mit Familiengeschichten, noch mit Problemen oder meinen verschrobenen Ansichten langweilen.“
„Ihren verschrobenen Ansichten?“ Nun musste Torge doch lachen! Was für ein seltsamer Vogel sie doch war!
Unwillkürlich überlegte er, wie alt sie sein mochte. Immerhin bezeichnete sie ihn als jungen Mann. Es fiel ihm grundsätzlich schwer, das Alter anderer Leute zu schätzen, aber um die Achtzig war sie allemal.
„Ja, so bezeichnet es meine Tochter, wenn sie gute Laune hat. Vermutlich hat sie Recht“, ergänzte sie verschmitzt. „Damit will ich Sie aber nicht behelligen. Margarete verbringt seit mehreren Jahren den Sommer hier. Nicht nur, um Urlaub zu machen, sondern für eine nachhaltige Erholung von ihrem Burnout, den sie sicherlich nicht bekommen hätte, wenn sie einmal mit dem zufrieden gewesen wäre, was schon lange als Familienvermögen vorhanden ist. Aber das fällt wohl wieder in die Abteilung verschrobene Ansichten. Wollen wir los?“
„Ihre Tochter verbringt den ganzen Sommer hier? Dann ist sie die Bungalow-Prinzessin!
“
„Die Bungalow-Prinzessin
? Hätte gar nicht gedacht, dass
Sie auf Dirty Dancing
stehen!“
Obwohl ihm das etwas peinlich war, musste Torge schallend lachen. Seine neue Bekanntschaft war offensichtlich blitzgescheit unter der exzentrischen Frisur.
„Meine Frau liebt den Film, so wie vermutlich Millionen andere auch. Außerdem war das mal ausnahmsweise nicht meine Idee.“
„Schade, ist ein amüsanter Einfall. Bungalow-Prinzessin.
Vielleicht gefällt ihr das sogar“, überlegte sie, wiegte dann den Kopf: „Naja, kommt darauf an, wie gut sie sich
an den
Film erinnert.“
„Margarete Süßholz ist Ihre Tochter. Wie ist eigentlich Ihr
Name?“
„Oh, wie unhöflich von mir. Ich bin Marlene von Hofstetter.“ Sie stand auf, um ihm die Hand über den Schreibtisch zu reichen.
„Torge Trulsen. Nennen Sie mich Torge, das machen hier alle.“
„Dann lassen Sie uns gehen, Torge. Sie haben ja sicherlich noch etwas anderes zu tun, als stundenlang den Geschichten einer alten Schachtel wie mir zu lauschen. Was ist Ihre
Aufgabe hier?“
„Ich bin der Hausmeister der Ferienanlage, Frau von Hofstetter.“
„Nennen Sie mich Marlene. Sagt man dazu heutzutage nicht Facility Manager?“
„Ja, aber dadurch wird die Arbeit nicht anders und ich nicht besser. Fühlen sich die Menschen wichtiger, wenn ihnen ein Irgendwas-Manager den Wasserhahn repariert?“
„Vielleicht ..., ich dachte bisher immer der Irgendwas-Manager fühlt sich dann wichtiger.“
„Wie auch immer, kommen Sie, Frau Marlene, wir stöbern Ihre Tochter auf. Mal gucken, ob Ihr Auftauchen eine gute oder eine schlechte Überraschung ist.“
„Ja, vermutlich wird sich ihre Begeisterung in Grenzen halten, aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht. Sie hat sich in den letzten Wochen jeden Tag bei mir gemeldet. Es hat sich so ergeben, war wie eine Rückversicherung. Morgens nach dem Frühstück haben wir kurz telefoniert - quasi um uns gegenseitig zu bestätigen noch am Leben zu sein“, ergänzte sie trocken. „Seit Tagen habe ich nichts mehr gehört. Kein Anruf, keine Antwort auf meine Nachrichten auf ihrer Mailbox, nicht einmal eine SMS. Da habe ich gestern Mittag einen Koffer gepackt und mir eine Bahnfahrkarte besorgt. Ich befü
rchte, sie rutscht mit einem Rückfall in die nächste Depression ab. Vielleicht kann ich sie aufmuntern. Naja, immerhin will ich für ihre regelmäßige Medikamenteneinnahme sorgen.“
Erschöpft von dem Monolog setzte sie sich auf den unbequemen Besucherstuhl. „Können Sie mir bitte ein Glas Wasser besorgen, bevor
wir losgehen?“