Charlie in Westerhever | Montag, den 04. September
Als Charlie am nächsten Morgen aufwachte, wusste sie nicht, wo sie sich befand. Obwohl sie die Augen lediglich einen Schlitz öffnete, ließ das grelle Sonnenlicht kleine Blitze durch ihren Kopf zucken. Erschöpft wieder auf die Matratze sinkend, legte sie sich die Hände schützend vor das Gesicht. Langsam sickerte der Verlauf des Abends in ihr Bewusstsein. 
Ihre Strafversetzung in die Pampa ... der Anruf von Matthias wegen des Fernsehinterviews mit Torge Trulsen ... die Durchsuchung des Leuchtturms in Westerhever mit Petersen ... der Liebesbrief und abschließend der Besuch in einer urigen Kneipe in dem alten Dorf von St. Peter, in die sich nur selten Touristen verirrten.
Wie viele Bierchen hatte sie eigentlich getrunken? Dazu hatte Petersen einen Friesengeist nach dem anderen bestellt. Ein köstliches Gebräu! Am besten hatte ihr die kleine Flamme darauf gefallen. Sie hatte sich eingeredet, der Alkohol würde ja verbrennen, weswegen sie ruhig ein, zwei Gläschen mehr davon genießen konnte. Außerdem war der Tag ab dem Anruf aus Hamburg echt deprimierend, wenn nicht sogar demütigend gewesen. Warum sollte sie sich nicht ein bisschen trösten lassen? 
Langsam war sie in der Lage die Augen ganz zu öffnen, um sich im Raum umzuschauen. Auf ihrem Nachtschränkchen standen zwei Gläser. 
Benutzte Gläser!
Während sie sie grübelnd anstarrte, versuchte sie zu ergründen, was das zu bedeuten hatte. An die Details des späteren Abends konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Hatte Petersen sie nach dem Kneipenbesuch noch in ihren Bungalow begleitet?
Unwillkürlich errötete sie bei der Vorstellung, dass es nicht bei einem Absacker geblieben und aus Petersen nun Knud geworden war. Nicht einmal 24 Stunden vor Ort, keine Ermittlungsergebnisse, dafür aber ein Techtelmechtel?
Vorsichtig hob sie die Bettdecke an, um an sich herunter zu schauen. Sie trug immerhin ihren Slip - dazu ein T-Shirt sowie ihren Büstenhalter. Das war nicht gerade aufschlussreich. Erschöpft ließ sie sowohl den Kopf als auch die Bettdecke wieder sinken. Leichte Migräne zog über die rechte Schläfe bis in den Nacken, wodurch es ihr unmöglich war, klar zu denken. In der Hoffnung, Petersen würde nicht plötzlich aus dem Bad kommen, um frohgelaunt mit einem Handtuch um die Hüften mitten in ihrem Schlafzimmer zu stehen, gab sie sich kurz den Erinnerungsfetzen hin, die durch ihren Schädel waberten. Ein klares Bild wollte sich nicht formen. In dem Wissen, nur Aufstehen gepaart mit reichlich Koffein würde Abhilfe schaffen, wälzte sie sich mühsam über die Bettkante. 
Das Gleichgewicht verlierend schwankte sie wie ein betrunkener Seemann Richtung Tür.
„Rest-Alkohol“, murmelte sie ergeben, wobei sie sich selbst eine dumme Gans schalt. Wenn sie sich weiterhin so verhielt, würde sie den Job hier nicht nur vermasseln, sondern sich selbst lächerlich machen. Doch bevor sie in der Lage war, weitere Pläne zu schmieden, wie sie den Tag überstehen sowie die Ermittlungen vorantreiben konnte, brauchte sie erst einmal Kaffee. 
Viel Kaffee!
In der Küche angekommen schaltete sie die Maschine ein und stellte gleich zwei Becher zur Befüllung parat. Die Schläfen massierend überlegte sie, ein paar Aspirin dazu zu nehmen, um wieder fit zu werden. Jetzt durchzuhängen kam nicht in Frage.
Welcher Teufel hatte sie nur geritten, dass sie dermaßen die Kontrolle verlor? Das passierte in letzter Zeit einfach zu oft. Das brummende Geräusch der Kaffeezubereitung verstummte. Charlie nahm einen Becher, gab einen großen Schluck der kalten Milch aus dem Kühlschrank dazu und trank die Mischung in einem Zug aus, der Zweite folgte ohne Zögern. Schließlich befüllte sie beide Pötte erneut. Dabei ließ sie sich etwas mehr Zeit. Langsam zog sich nicht nur der Kopfschmerz zurück, sondern auch der Nebel aus ihrem Kopf. Glück gehabt! 
Sie aß zu der nächsten Runde Koffein ein paar trockene Kekse, die sie von der Fahrt übrighatte, wodurch ihre Lebensgeister langsam wieder erwachten. Unter der Dusche versuchte sie zu ergründen, ob zwischen Petersen und ihr gestern etwas gelaufen war, aber sie kam zu keinem Ergebnis. Wenn sie so abgefüllt war, wird er sich ja wohl wie ein Gentleman verhalten haben, statt die Situation auszunutzen, oder war das auf dem Land so nicht üblich? Hatte in den Auszügen seiner von Matthias übermittelten Personalakte etwas über den Beziehungsstatus gestanden? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Nun gut. Spätestens wenn sie ihn nachher traf, würde sich das Rätsel auflösen. Hoffentlich wurde es nicht zu peinlich !
Gerade als sie mit dem Anziehen fertig war, hämmerte es gegen die Haustür. Das konnte eigentlich nur Petersen sein. Noch in der Überlegung verharrend, wie sie auf ihn reagieren sollte, stand sie mit klopfendem Herzen mitten im Raum. 
Das war ja wirklich albern, schalt sie sich selbst, ging die wenigen Schritte durch den Raum, um die Tür zu öffnen. „Moin Charlotte, Sie sehen ja fitter aus als vermutet.“
Die persönliche Anrede ignorierend, versuchte sie es mit Flucht nach vorn. „Moin Petersen, halten Sie es ohne mich wieder nicht aus?“
„Tja, nach der letzten Nacht fällt mir das erheblich schwerer“, feixte er, während sie sich fragte, wie viel Wahrheit darin steckte. „Aber ich bin enttäuscht, gestern war ich schon Knud für Sie.“
Als sie errötete, wurde sein Grinsen etwas breiter.
„Sie haben keine Ahnung, was gestern alles passiert ist“, fasste er Ihre Unsicherheit zusammen. „Sie würden mich gerne direkt fragen, haben aber genau genommen echt Bammel vor der Antwort. Liege ich richtig?“
Ein Nicken war alles, was die sonst so toughe Kommissarin als Reaktion auf dieses Résumé zu bieten hatte.
„Was halten Sie eigentlich von mir? Glauben Sie wirklich, ich falle über eine sturzbetrunkene Frau her?“
„Hhm, nein ... natürlich nicht ...“, stammelte Charlie. Peinlicher konnte die Situation nicht sein. Sturzbetrunken! Verdammter Mist! Wo war die professionelle Kommissarin bloß abgeblieben?
„Nein, natürlich nicht“, wiederholte er ihre Worte. „Deshalb stehen Sie da, wie das Schuldbewusstsein in Person. Nun entspannen Sie sich einmal, Kommissarin Wiesinger aus Hamburg. Ich bin ein netter Kerl, der Sie gestern lediglich hierher zurück und in Ihr Bett verfrachtet hat.“
„Aber ich war heute Morgen nur spärlich bekleidet“, wollte sie die restlichen Tatsachen klären.
„Ob Sie es glauben oder nicht, das war nicht mein Werk.“ „Okay. Danke – Knud.“
„Na also, Charlotte.“
„Und warum sind Sie schon hier?“
„Sie sind eine halbe Stunde über die verabredete Zeit. Ich dachte, ich schau einmal nach Ihnen.“
„So spät ist es schon? Verdammt!“
„Hören Sie auf zu fluchen. Genehmigen Sie sich ein schnelles Frühstück und dann fahren wir nach Westerhever. In dem Büro ist sowieso nichts Verdächtiges zu holen. Je kürzer wir uns dort aufhalten, desto weniger brauchen Sie sich mit Hentschel auseinanderzusetzen. Obwohl er harmlos ist. Seine Verbitterung sitzt mittlerweile tief. Erst die Frau, dann der Job geklaut – würde mir auch stinken.“
„Ich hoffe, Sie haben nicht das Gefühl, dass ich Ihnen den Job stehle.“
„Nicht im Geringsten! Ich bin froh, dass wir mit Ihnen endlich Verstärkung bekommen. So, genug getrödelt, sonst gibt es kein Frühstück mehr.“
Charlie nickte zustimmend. Gemeinsam verließen sie den Bungalow, um das Restaurant der Ferienanlage aufzusuchen.
Auf der Fahrt nach Westerhever kehrten nicht nur die Kopfschmerzen zurück, ihr wurde auch übel. Schweigsam konzentrierte Charlie sich, in der Hoffnung, dass es nicht schlimmer wurde, auf einen Punkt am Horizont.
„Alles okay? Sie sehen ziemlich blass aus. Soll ich anhalten?“ Knud schien sie genau zu beobachten. Seine Fürsorge rührte sie.
„Hhm, geht schon. Ich habe es wohl gestern ganz schön übertrieben.“
„Ja. Sie scheinen einiges zu vertragen. Ehrlich gesagt hätte ich es mit der Alkoholmenge heute nicht aus dem Bett geschafft.
„Sie haben mich also allein saufen lassen“, versuchte Charlie zu scherzen.
„Einer musste ja auf Sie aufpassen.“
„Hhm.“
„Lassen Sie ein wenig frische Luft durch die Seitenscheibe herein, dann geht es Ihnen gleich wieder besser. Als ich Sie abgeholt habe, sahen Sie fitter aus.“
„Da hatte ich just eine Ladung Koffein getankt. Jetzt spüre ich den Rest-Alkohol wieder. Die Fahrt ist meinem Wohlbefinden nicht förderlich.“
Knud nickte. „Sie haben es gleich geschafft.“
„Mal sehen, wie Hentschel heute drauf ist. Ich fühle mich einem sinnlosen Kräftemessen nicht unbedingt gewachsen.“
„Das kriegen wir schon hin. Er ist nicht immer so schlecht gelaunt wie gestern.“
„Ihr Wort in Gottes Gehörgang.“ Charlie war Knuds Vorschlag gefolgt und hatte die Seitenscheibe des Wagens einmal ganz nach unten fahren lassen. Sofort als der frische Wind ihr entgegenschlug, spürte sie eine Veränderung. Kurz wurde ihr der Atem genommen, doch dann verschwand zumindest das Gefühl der Übelkeit. „Zu kalt?“
„Kommissarin, ich bin ein echtes Nordlicht. Zu kalt gibt es für mich gar nicht. Lassen Sie sich ordentlich frische Luft um die Nase wehen. Tut bestimmt gut.“
Als sie die Schutzstation erreichten, ging es Charlie etwas besser, wenn auch nicht gut. Thomas Hentschel erwartete sie bereits. Breitbeinig stand er in der Tür und blickte über die Salzwiesen, die den Turm umgaben. Touristen waren zu dieser frühen Stunde nicht unterwegs.
Moin “, begrüßte er sie, als sie aus dem Wagen ausstiegen. „Ihr seid spät dran, wolltet Ihr nicht schon um acht hier sein?“ Mit einem Blick auf die Kommissarin setzte er seine Begrüßung fort. „Schwere Nacht gehabt? Sie sind ganz schön blass um die Nase.“
„Ich hatte eine intensive Begegnung mit dem Geist der Friesen, der jetzt immer noch durch meinen Schädel wabert. Insofern wäre ich heilfroh, wenn wir heute einfach friedlich zusammenarbeiten könnten. Wir werden Ihre Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen.“
Einen Moment lang schien Thomas Hentschel perplex über so viel entwaffnende Offenheit, dann lachte er. „Ja, unser Friesengeist hat es in sich. Hast du deine Kollegin nicht gewarnt, oder hat sie nicht auf dich gehört? Kommen Sie herein, Katharina versorgt Sie gerne mit Kaffee. Ich zeige Ihnen Schwertfegers Büro.“
Dankbar für die unerwartete Freundlichkeit folgte Charlie Hentschel in die Räume der Schutzstation.
„Katharina!“, rief er nach seiner Kollegin. „Die Kommissarin ist verkatert. Bring ihr bitte einen starken Kaffee. Willst du auch einen?“, wandte er sich an Knud, der die Frage mit einem Nicken beantwortete. „Und für Knud auch einen Pott .“
Katharina Schumacher begrüßte die beiden Besucher wenig später.
„Ich habe Ihnen Espresso bereitet. Bei einem Kater gibt es nichts Besseres. Außerdem einen sauren Hering, aber das ist Geschmackssache. Dass Michael tot ist, kann ich immer noch nicht fassen. Ich hoffe die ganze Zeit, die Tür öffnet sich und er ist einfach wieder da.“
Dem war nichts hinzuzusetzen. Die Polizisten nahmen ihre Tässchen von dem Tablett, um Hentschel in das Büro des Toten zu folgen.
„Wonach sucht ihr denn?“, wandte er sich an Knud. Stattdessen ergriff Charlie das Wort. „Hilfreich sind Informationen über seinen privaten Background.“
„Da werden Sie nichts finden. Schwertfeger hat alle Notizen, Termine etc. digital erfasst. Sein Laptop ist nicht mehr hier.“
„Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Ist Ihnen bei Ihrer engen Zusammenarbeit etwas aufgefallen? Gab es Frauen oder zumindest Eine? Erinnern Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches?“
Woran es auch lag, Hentschel war an diesem Morgen wie ausgewechselt. Freundlich hörte er zu, dachte über die Fragen der Kommissarin nach, um schließlich den Kopf zu wiegen. Vielleicht war ihm klargeworden, dass sein Konkurrent nun weg war, womit seine Chancen den begehrten Job zu bekommen, erheblich stiegen. Möglicherweise hoffte er auf einen Vorteil, wenn er mit den Polizisten kooperierte, um zu der Aufklärung des Verbrechens beizutragen.
„Insgesamt war der ganze Mann eher ungewöhnlich. Davon haben Sie ja bereits gehört. Sehr schweigsam, in sich gekehrt – was ja hier im Norden nicht so selten ist. Ungewöhnlich war die Trauer, die ihn umgab. Er konnte hier am Fenster stehen, in die Weite schauen ohne wahrzunehmen, was sich vor seinen Augen befand. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, schien er weit weg zu sein. Vermutlich hat er einen großen Verlust erlitten.“
Charlie dachte an den Liebesbrief. „Haben Sie ihn im letzten Jahr mal in Begleitung einer Frau gesehen? Hat er hier Damenbesuch bekommen?“
„Nein, nicht zu Zeiten in denen ich in der Station gearbeitet habe.“
„Wussten Sie von der Beziehung zu Marina Lessing?“
„Ich weiß nicht einmal, wer Marina Lessing ist.“
Wieder eine Sackgasse. Gerade als Charlie überlegte, wie sie das Gespräch fortsetzen sollte, gab es doch noch eine Information von Hentschel:
„Sein Verhalten war in diesem Sommer anders“, sinnierte er in dem Versuch, seine Empfindungen in Worte zu fassen.
Charlie hätte gerne gleich nachgefragt, ließ ihm aber die Zeit, die er brauchte. Auch Knud folgte dem Gespräch mit großer Aufmerksamkeit.
„Er war irgendwie wütend“, setzte Hentschel seine Ausführungen fort. „Als er hier anfing zu arbeiten, schien er in sich zu ruhen, ausgeglichen zu sein. Schwertfeger war kein fröhlicher Mensch, aber fast nie übel gelaunt. Das änderte sich ... hmm, ja wann ...?“ Wieder legte er eine Pause ein, während er seine Erinnerungen durchforstete. „Ich denke, es fing im Frühsommer an, im Juni, vielleicht auch schon im Mai. Die Stimmung kippte, wie gesagt, er war wütend, wurde ungeduldig, sogar ungerecht. Das passte überhaupt nicht zu ihm, wie wir ihn kennen gelernt hatten. Wie üblich äußerte er sich nicht zu den Gründen für seine Unruhe oder den Stimmungsumschwung. Eine Frau kann dafür die Ursache gewesen sein. Meistens ist ja eine Frau beteiligt, wenn es stressig wird“, setzte er mit einem schiefen Grinsen hinzu. „Nichts für ungut, Kommissarin, ich meine damit den privaten Bereich.“
Charlie gab nickend das Lächeln zurück. Hentschel konnte also sowohl humorvoll als auch charmant sein. Wer hätte das nach dem gestrigen Tag gedacht? Die Frage war, was sie mit diesen Informationen anfing. Möglicherweise hatte er recht und es ging um eine Frau. Schwertfegers Stimmung änderte sich, als er die wie auch immer geartete Beziehung zu Marina beendet hatte. Oder hatte er Schluss gemacht, weil die Wut kam? Was hatte diese Wut ausgelöst? War sie der Schlüssel zu dem Fall?
„Danke, Herr Hentschel. Vielleicht ist die Information wichtig. Wir schauen uns noch ein wenig um. Danach sind sie uns wieder los.“
Wie Knud bereits prophezeit hatte, ergab die Durchsuchung des Büros nichts weiter. Sie mussten auf die Freigabe des Computers des Toten durch die KTU warten. Die nächste Station ihres Weges war der Gerichtsmediziner Ansgar Johannsen in Husum.