Marina in Garding | Montag, den 04. September
Der Ausflug des gestrigen Tages hatte Marina nicht nur beruhigt, sondern auch neue Kraft verliehen. Ihr ursprüngliches Ziel Husum hatte sie verworfen, kurz bevor sie es erreichte. Zum einen war es zu nah, zum anderen war sie einige Mal mit Michael durch den Hafen geschlendert. Genau dort waren sie sich so nahegekommen. Instinktiv sagte ihr Gefühl, die Erinnerung würde ihr Gleichgewicht nicht zurückbringen. 
Also war sie immer weitergefahren. Schon die Fahrt, verbunden mit der Aussicht über das platte Land mit seinen saftigen Wiesen auf denen sich Schafe tummelten, ließ sie entspannen. Nach knapp eineinhalb Stunden erreichte sie Dagebüll. Nachdem sie den Wagen direkt am Deich geparkt hatte, brach sie zu einem ausgedehnten Spaziergang auf.
Ihre Trauer um ihre Beinahe-Beziehung mit Michael war lediglich ein Ablenkungsmanöver, um sich nicht mit ihrer derzeitigen privaten Situation auseinandersetzen zu müssen. Darüber war sie sich im Klaren. Warum hielt sie an Christian fest? Im Grunde hatten sie nicht viel gemeinsam. Sie sahen sich selten, ihre Kommunikation bestand hauptsächlich aus SMS und Sprachnachrichten, weil sie ständig gegenläufig arbeiteten. Es schien beiden nicht mehr wichtig zu sein, die Dienstpläne aufeinander abzustimmen. Warum also fiel es ihr so schwer, einen Schlussstrich zu ziehen?
Weil sie dann niemanden mehr hatte? 
Wäre das wirklich ein Unterschied? Genau genommen brauchte sie darüber gar nicht nachdenken. Für Christian stand die Karriere mittlerweile an erster Stelle. Während des Studiums hatte sich sein Ehrgeiz in Grenzen gehalten, doch nachdem er den Job in Hamburg ergattert hatte, war er auf den Geschmack gekommen. Ohne mit der Wimper zu zucken wäre er bei einem entsprechend verlockenden Angebot auch nach New York oder sonst wohin gegangen, Und sie würde es genauso machen. 
Zwei Stunden kreisten Marinas Gedanken um Christian, ihren Job und Michael. Endlich war sie einmal zur richtigen Zeit auf dem Deich. Hochwasser! Sie ließ den Blick über die tosende Nordsee in die Ferne schweifen. Deutlich zeichnete sich Föhr am Horizont ab. Für eine Weile schweiften ihre Gedanken ab. Wie es wohl war, auf einer Insel zu leben? Wobei die großen Eilande wie Amrum und Sylt hohen Komfort boten. Einmal war sie mit Michael auf der Hallig Hooge gewesen – nur für einen großartigen Tag. Zu Fuß umrundeten sie sie in ein paar Stunden. Im Sturmflutkino sahen sie, wie das Leben hier bei rauem Wetter aussah, wenn nur die Häuser auf ihren Warften aus der wildgewordenen See ragten. Marina bekam schon bei dem Gedanken daran eine Gänsehaut.
Hätte sie sich mit Michael in so einer Situation sicher gefühlt? Ja, bestimmt! 
Und was war mit Christian? Mit ihm wollte sie nicht einmal bei herrlichem Wetter auf einer Hallig festsitzen.
Damit war klar, wie die nächsten Schritte aussehen mussten. Vielleicht war sie so zögerlich, weil sie es praktisch ausschloss, hier an der Küste einen neuen Partner kennen zu lernen. Michael war eine große Ausnahme gewesen. Sie drehte sich im Kreis. Als ein paar Möwen kreischten, war sie kurz versucht in das Geschrei einzustimmen. Könnte befreiend sein, sich einfach den ganzen Frust und Zorn von der Seele zu schreien! Doch die Spaziergänger, die Marina in einiger Entfernung sah, hielten sie davon ab.
Als sie wieder bei ihrer Wohnung in Garding ankam, war sie entspannt und gleichzeitig fest entschlossen, die Beziehung mit Christian zu beenden. Es tat gut, einmal einen Tag ohne Handy unterwegs zu sein, sich einfach treiben zu lassen. Sogar die Landschaft mit den Schafen auf den Deichen sowie die aufgewühlte Nordsee streichelten heute ihre Seele. Sie fühlte sich wieder im Gleichgewicht. Am Abend würde sie Christian anrufen, um sich mit ihm zu verabreden. Eine Trennung am Telefon oder per SMS kam für sie nicht in Frage. Das war zu stillos.
Doch es sollte anders kommen. Kaum stand der Teekessel auf dem Herd, da klingelte es Sturm. Unwillig bewegte sich Marina zur Tür. Ein Blick durch den Spion ließ sie zurückweichen. Da stand Christian! Was wollte der denn jetzt hier? Unmut stieg in Marina hoch. Er wusste genau, dass sie Überraschungen nicht ausstehen konnte! Warum hatte er nicht wenigstens angerufen?
Es hörte auf zu klingeln. Schon verspürte Marina eine irrationale Erleichterung, da begann er gegen die Tür zu hämmern!
„Nun mach schon auf, Marina! Du bist zu Hause. Was soll das Theater?“
Wortlos öffnete sie die Tür und musste seiner Faust ausweichen, die noch immer auf die Tür zielte.
„Spinnst du? Was soll dein Theater hier?“ So leicht ließ sie sich nicht einschüchtern.
„Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen. Wir wollten uns doch heute treffen. Wo warst du denn und warum gehst du nicht an dein Handy?“
„Ich war unterwegs“, entgegnete sie etwas lahm.
„Unterwegs? Was heißt unterwegs?“
„Ich musste einfach mal raus hier, bin nach Norden gefahren, um mir den Kopf freipusten zu lassen. Mein Telefon habe ich vergessen“, log sie ungerührt.
„Du fährst doch nie ohne dein Smartphone irgendwo hin.“ „Ja, jetzt war es eben so. Wir waren nicht fest verabredet, sondern wollten noch telefonieren. Ich dachte, heute findet die ach-so-wichtige Promi-Gala statt, wobei du unbedingt anwesend sein musst“, ging sie etwas zickig zum Gegenangriff über. 
„Darf ich reinkommen?“ Ganz plötzlich wurde er leiser.
Sie zögerte.
„Was hat das denn nun wieder zu bedeuten? Willst du mich hier vor der Tür stehen lassen? Ich bin gerade eineinhalb
Stunden gefahren.“
„Obwohl du mich nicht erreicht hast und gar nicht wusstest, ob ich zu Hause bin.“
„Hhm.“
„Also, was ist los?“
„Kann ich bitte erst einmal hereinkommen? Es gibt ein Problem. Ich brauche deine Hilfe.“
Marina war alles andere als begeistert von dieser Eröffnung. Probleme hatte sie im Moment selbst genug, da brauchte sie nicht noch die von ihrem in letzter Zeit unzuverlässigen Freund. Am liebsten hätte sie ihm einfach die Tür von der Nase zugeschlagen. Doch sie zögerte zu lange.
„Verdammt noch mal!“, nun wurde er wütend, schob die Tür auf, um an ihr vorbei in Richtung Wohnzimmer zu schießen. Erschrocken sprang sie erst beiseite, schnappte sich dann ihr Mobiltelefon von dem Schuhschrank im Flur und folgte ihm schließlich. Sechzehn entgangene Anrufe! Sechzehn! Und alle von Christian. Offensichtlich gab es wirklich ein großes Problem!
„Also?“ Vorsichtshalber blieb sie an der Tür stehen.
„Ich bin gefeuert worden!“, platzte Christian heraus.
„Waaaaaas?“
„Man hat mich reingelegt!“
Natürlich traf ihn wie immer keine Schuld! Marina spürte wenig Muße, sich diese Geschichte anzuhören, geschweige ihm zu helfen. Warum war sie bei dem Gedanken, die Tür einfach zuzuwerfen, bloß nicht schnell entschlossen gewesen. Jetzt war es zu spät.
„Man hat dich reingelegt!“, wiederholte sie mit einem ironischen Unterton „Natürlich! Dich trifft überhaupt keine Schuld. Was war es denn diesmal? Marihuana auf der Toilette? Eine Party in einem ungenutzten Hotelzimmer?“
„Wenn es nur das wäre ...“
„Nun sag schon!“
„Man wirft mir sexuelle Belästigung vor.“
„Man? Wer ist man?“
„Die Geschäftsleitung.“
„Aha, und wie kommt die Geschäftsleitung auf so eine Idee? Da müssen sich doch Frauen über dich beschwert haben.“ Einen Moment später wurde sie blass. „Oder waren es etwa Männer?“
„Spinnst du?“
„Ehrlich? Ich glaube eher, dass du spinnst. Und wie soll ich dir jetzt bei so einem Schlamassel helfen?“
„Willst du gar keine Einzelheiten wissen?“
„Nein!“
Verblüfft schaute Christian sie an. „Ich glaub, ich brauche einen Scotch.“
„Dann such dir eine Kneipe. Was du brauchst, ist wohl eher einen kompetenten Anwalt.
„Marina, du kennst mich jetzt seit fünf Jahren. Traust du mir sexuelle Belästigung zu?“
Marina schwieg. Insgeheim traute sie es ihm sehr wohl zu, aber sollte sie ihm das direkt ins Gesicht schleudern? Er war schon erregt. Sie konnte auf eine Eskalation der Situation verzichten. Sie wollte ihn einfach nur loswerden. Nach dieser Eröffnung mehr denn je.
„Okay, das sagt alles. Ist ja kein Wunder, so wie du drauf bist.“
„Geh einfach und lass mich in Ruhe. Ich bin nicht in der Stimmung, mir Vorhaltungen anzuhören, die deiner Misere entspringen. Du hast die Chance mit dem Superjob versaut. Da kann ich dir auch nicht helfen. Wir führen seit Monaten zwei getrennte Leben. Dabei haben wir irgendwie vergessen, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Das wollte ich dir heute Abend sagen. Geh jetzt einfach.“
„Du schmeißt mich raus?“
„Ja!“
„Das wirst du bereuen.“ Seine Augen funkelten wütend, als sich ihr Blick kurz traf.
„Nein, vermutlich nicht.“
„Du bist so kalt. Wie konnte ich nur fünf Jahre mit dir verschwenden?“
Marina sagte nichts mehr. Auch wenn ein solches Ende sie schmerzte, sie wollte sich nicht weiter provozieren lassen. All die Ruhe, die sie sich heute erarbeitet hatte, würde er jetzt mit sich nehmen. Für einen sinnlosen Abschiedsstreit mit gegenseitigen Vorwürfen und Verletzungen hatte sie weder Kraft noch Nerv.
„Geh einfach“, sagte sie stattdessen leise. „Alles was wir uns nun noch an den Kopf werfen können, macht die Sache nicht mehr besser.“
Ohne ein weiteres Wort hatte er ihre Wohnung verlassen .
Am nächsten Morgen an ihrem Schreibtisch sitzend, fühlte sie sich so ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. Wie sollte sie nur diesen Tag überstehen?
Den Gedanken an das nächste Zusammentreffen mit der Kommissarin aus Hamburg hatte sie am gestrigen Tag verdrängt. Jetzt fragte sie sich, wie sie ihr begegnen sollte.