Torge in SPO | Montag, den 04. September
Nachdem Marlene von Hofstetter sich mit einem Glas Wasser gestärkt hatte, begleitete Torge sie zu dem Bungalow in der ersten Wasserlinie, in dem die Frau des Schönheitschirurgen aus Hamburg schon den ganzen Sommer residierte. Entgegen seiner Erwartung hatte sie einen Schritt am Leib, der ihm Mühe bereitete, mitzukommen. Das war ja wirklich eine erstaunliche Frau!
„Wo haben Sie denn Ihren Koffer gelassen, Frau Marlene?“ „Der steht an der Rezeption. Ich denke, ich hole ihn erst, wenn ich mit Margarete geklärt habe, ob ich das zweite Schlafzimmer bei ihr nutzen darf. Sonst rolle ich ihn nur sinnlos hin und her.“
Torge zeigte ihr während des Weges einige markante Punkte, anhand derer sie sich den Weg merken konnte, um ihn in beide Richtungen allein zu meistern. Sie nickte, legte die Strecke jedoch schweigsam zurück. Ganz offensichtlich war sie in Sorge um ihre Tochter. Je näher sie dem Bungalow kamen, desto verkniffener wurde ihr Gesichtsausdruck.
„Da vorne ist es, der Bungalow mit der Friesenbank vor der Tür.“
Marlene von Hofstetter blieb abrupt stehen und seufzte einmal tief.
„Können Sie mitkommen?“
„Wenn Sie möchten, mache ich das gerne.“
„Danke, junger Mann ..., äh Torge.“
Den Rest des Weges ging sie langsamer, behielt jedoch ihre gerade Haltung bei.
„Wie spät haben wir es jetzt?“
Torge warf einen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er ihr antwortete.
„Es ist jetzt fast halb neun.“
„Halb neun, okay. Dann können wir es wohl wagen zu klingeln. Hat dieser Ferienbungalow überhaupt eine Klingel?“ „Ja, und außerdem einen Türklopfer. Es ist kein Problem, sich bemerkbar zu machen.“
Sie nickte ergeben. Nachdem sie die letzten Meter zurückgelegt hatte, versuchte sie es im ersten Schritt mit der Klingel. Nach dem dritten Versuch betätigte sie kräftig den Klopfer. Keine Reaktion.
„Bitte schließen Sie mir die Tür auf, Torge. Sie sind doch sicherlich im Besitz eines Generalschlüssels.“
„Den darf ich nur im Notfall benutzen, Frau Marlene.“
„Tja, ob es ein Notfall ist, wissen wir noch nicht, denke ich. Ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen.“ Sie schien zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollte. „Ich werde mich zuerst mit einem Frühstück stärken. Danach versuche ich es wieder. Wo finde ich das Restaurant?“
„Es ist nicht weit von hier. Sehen Sie?“, Torge zeigte es auf dem Plan. „Wir sind jetzt bei diesem Kringel. Sie gehen den
Weg bis zum Ende. Es ist ausgeschildert.
„Danke für Ihre Unterstützung. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!“ Nach einem Lächeln, das ein wenig schief geriet, schlug sie die beschriebene Richtung ein. 
Bis 12 Uhr war Torge mit seiner Verbrauchsmaterialbestellung beschäftigt. Nach seinem Gefühl dauerte es heute länger als sonst. Ständig schaute er auf sein Mobiltelefon, nicht nur nach der Uhrzeit, sondern auch in Erwartung einer SMS von Knud. Doch nichts passierte. Dreimal war er zwischendurch zum Kaffeeautomaten getigert, weil er es in seinem Kabuff nicht mehr aushielt. Obwohl er am Morgen diverse Donnerwetter befürchtet hatte, ließ sich niemand blicken. Die Lessing schien sich in ihrem Büro verschanzt zu haben, von Knud und der Wiesinger keine Spur. Merkwürdig!
Als endlich alles bestellt war, checkte er seine Mails. Auch die Reparaturaufträge und Sonderwünsche der Gäste wurden so an ihn weitergeleitet. Sein Posteingang war leer. Was für ein öder Tag! Das Auftauchen der Marlene von Hofstetter war also bisher das Highlight.
Er beschloss, einen Rundgang durch die Ferienanlage zu unternehmen. Auf dem Weg wollte er bei dem Bungalow vorbeischauen, an dem er die alte Dame heute Morgen abgesetzt hatte. Vielleicht brauchte sie ja weiterhin seine Hilfe.
Tatsächlich sah er sie bereits von Weitem auf der weißblauen Bank sitzen. Ihre Beine baumelten frei in der Luft, was ihr ein verletzliches Aussehen verlieh. 
Moin Frau Marlene. Wie lange sitzen Sie denn schon hier?“
„Eine Weile“, antwortete sie vage. „Ab und zu stehe ich auf, um die Klingel oder den Klopfer zu betätigen, aber es rührt sich nichts. Ihr Handy ist ausgeschaltet, alle Fenster zugezogen.“ Sie wiegte den Kopf. „Vielleicht handelt es sich jetzt doch um einen Notfall. Was meinen Sie, Torge? Wollen wir lieber einmal nachschauen?
Der Hausmeister war hin und her gerissen. Auf der einen Seite machte sie sowohl einen kultivierten als auch harmlosen Eindruck. Auf der anderen Seite war hier gerade ein Mord passiert, und er hatte sich schon ein paar Schnitzer geleistet. Wenn sie nicht die Mutter der Bungalow-Prinzessin war, sondern ... ja, was? Eine Stalkerin, eine Bandenchefin, die den Weg bereitete, die Süßholz auszurauben? Das klang alles ziemlich weit hergeholt. Er überlegte fieberhaft, bei wem er sich absichern konnte. Da gab es eigentlich nur die Lessing. Was die ihm antworten würde, war klar.
Marlene von Hofstetter sah ihn erwartungsvoll an. Ihm wurde heiß unter dem Blick, was seinen Denkapparat nicht gerade schneller funktionieren ließ.
Warum kam immer er in solche Situationen? Wäre er doch bloß in seinem Büro geblieben, um in dem Fall Schwertfeger zu recherchieren! Jetzt saß er zwischen zwei Stühlen, die drohten, auseinander zu rutschen. Schon bei dem Gedanken daran tat ihm sein Hintern weh.
„Na, kommen Sie schon, Torge. Geben Sie sich einen Ruck, und helfen Sie einer alten Dame bei der Mission ihre Tochter zu retten. Wir schauen nur mal hinein, ob sie noch lebt bzw. ärztliche Hilfe benötigt.“
Also warf Torge seine Bedenken über Bord. Nachdem er der außergewöhnlichen Deern von der Bank geholfen hatte, holte er den Generalschlüssel aus der Tasche. Noch ein kurzes Zögern, dann steckte er ihn in das Schloss und öffnete die Tür.
„Frau Süßholz! Frau Margarete Süßholz! Hier ist der Hausmeister Torge Trulsen. Wir machen uns Sorgen um Sie. Ich schaue nur, ob es Ihnen gutgeht. Ich betrete jetzt den Bungalow“, kündigte er sein Vorhaben an. 
Keine Reaktion. Also wandte er sich an seine Begleiterin. „Ich denke, es ist besser, wenn Sie hineingehen. Ich warte hier im Vorraum.
„Wir schauen erst einmal im Wohnbereich. Wenn sie sich dort nicht befindet, gucke ich, ob sie im Bett liegt. Bitte warten Sie so lange im Wohnzimmer. Geht das?“
Als er nickte, ging sie voraus. Wie erwartet, war der erste Raum leer.
„Ja, das dachte ich mir. Okay, ich bin gleich wieder zurück.“ Als Marlene ihn allein gelassen hatte, regte sich Torges Neugier. Automatisch fing er an, das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Es befand sich in einem recht unordentlichen Zustand. Klamotten waren achtlos über die Sofa-lehnen geworfen worden. Auf dem Boden neben dem Couchtisch standen einige leere Flaschen Wein, auf der integrierten Küchentheke die dazugehörigen benutzten Gläser, außerdem ein wenig Geschirr. Torge wanderte durch den Raum. Da die Jalousien heruntergelassen waren, zeigte sich alles in einem leicht diffusen Licht. Die Luft war außerdem abgestanden. Er überlegte, ob er die Jalousien hochziehen sowie die Fenster öffnen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Das war vermutlich zu übergriffig. Eigentlich war er ja gar nicht hier. 
Also setzte er seine Wanderung fort und guckte sich die Gegenstände an, die herumlagen. Mitten auf dem Esstisch stand eine überdimensional große Obstschale aus Kristall, die nicht zu der Ausstattung des Ferienhauses gehörte. Die Früchte hatten ihren schmackhaftesten Reifegrad bereits hinter sich gelassen. Darunter schien etwas Anderes zu liegen, das farblich hervorstach. Torge erkannte ein Schweizer Messer. Ein kostspieliges Teil mit zahlreichen Funktionen, die nicht zum Schälen und Schneiden von Obst gedacht waren. Nach kurzem Zögern holte er es hervor. Schwer lag es in seiner Hand und fühlte sich großartig an. Schon immer hatte er sich so ein Messer gewünscht, aber manches Begehren blieb unerfüllt. 
Bei näherer Betrachtung bemerkte er eine Gravur, die bei dem schlechten Licht nicht genau zu erkennen war. Der Griff nach seiner Lesebrille führte ins Leere .
Scheibenkleister ! Die lag auf seinem Schreibtisch. Einem Impuls folgend ließ Torge das Messer in der Tasche verschwinden.
Kurz darauf betrat Marlene wieder den Raum.
„Sie lebt“, kommentierte sie trocken sie Situation. „Es ging ihr allerdings bestimmt schon einmal besser. Ich werde mich jetzt um sie kümmern. Nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe, Torge.“