Alexander in Lindau | Ende Juli, sieben Jahre früher
Eine Stunde nachdem Lisa nach Hause gekommen war, saß er immer noch im Arbeitszimmer und wartete auf ihre Reaktion. Sein Herzschlag hatte sich wieder beruhigt, aber auf den Artikel konnte er sich nach wie vor nicht konzentrieren. Angestrengt lauschte er auf die Geräusche in der Wohnung. Als er schon fast so weit war, aufzugeben, stand sie plötzlich in der Tür. Sein Herz setzte einen Schlag aus, um dann wieder zu beschleunigen, als ihre Blicke sich trafen. Lisa wirkte ruhig, die Karte hielt sie in der Hand. Alexander wollte so viel sagen, doch er beherrschte sich. Auch wenn es ihm schwerfiel, wartete er ab, wie sie auf die Situation reagierte.
„Bist du schon dort gewesen? Hast du mit der Psychologin gesprochen oder ist das nur eine Empfehlung von Dr. Borck?
“
In der letzten Stunde hatte sich Alexander diverse Szenarien ausgemalt, so eine sachliche Lisa war nicht dabei gewesen. Nun hatte er Angst, seine Antwort würde sie verärgern.
„Ich habe schon Gespräche mit ihr geführt, vier um genau zu sein“, er bemühte sich ebenfalls um einen möglichst neutralen Tonfall.
„Vertraust du ihr?“
„Ja, Lisa. Ich vertraue ihr.“
Statt etwas hinzuzufügen, entschloss er sich, ihr die Gesprächsführung zu überlassen.
„Und jetzt willst du gemeinsam mit mir dorthin gehen.“ Weiterhin blieb sie ruhig, fast gelassen.
Sie hielten Blickkontakt. Alexander spürte Fluchtgedanken, wollte am liebsten ausweichen, doch der erste Schritt war getan. Lisa schien sich zu öffnen. Sie schaute ein klein wenig aus ihrem Schneckenhaus heraus. Wenn er die Zeichen richtig deutete, signalisierte sie Bereitschaft, sich auf das Gespräch mit der Psychologin einzulassen.
„Ich wünsche es mir“, antwortete er schlicht.
„Okay, dann mach´einen Termin. Ich schau es mir an.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich!“ Zum ersten Mal seit vier Wochen sah Alexander ein kleines Lächeln über ihr hübsches Gesicht huschen. „Ich brauche dich. Allein schaffe ich es nicht. Du bist mein Seelenverwandter. Bitte bleib bei mir und hilf mir das durchzustehen.“
Endlich konnte er von dem Stuhl aufstehen, um zu ihr zu gehen. Erleichtert schloss er sie in die Arme. Es war ein großartiges Gefühl, zu spüren, wie sie sich an ihn lehnte. Alexander atmete tief durch. Ruhe strömte durch seinen Körper und gab ihm Vertrauen in die Zukunft.
Der Start bei Dr. Leisering war verheißungsvoll. Lisa fasste schnell Vertrauen zu der
Psychologin, die Gespräche waren konstruktiv, wenn auch schmerzhaft. Es flossen Tränen, die der Angst und Verzweiflung Ausdruck gaben, doch die Wut war verschwunden. Froh diese Phase überwunden zu haben, gab Alexander sich der Hoffnung hin, Lisa würde sich der Mastektomie als Behandlungsmethode öffnen. Beiden war bewusst, wie radikal der Eingriff war. Radikal genug, um wieder neue negative Emotionen auslösen zu können. In seinen Augen war es trotzdem der beste Weg, dem Krebs zu trotzen.
Elvira behandelte Lisa äußerst behutsam. Obwohl eine schnelle Entscheidung vorteilhaft war, agierte sie so, als hätten sie alle Zeit der Welt. Für sie stand im Vordergrund, Lisa weder zu drängen noch zu überreden. Dazu waren die Folgen zu weitreichend, auch die Ehe der beiden betreffend. Obwohl sie die Termine in kurzen Abständen legten, gingen einige Wochen ins Land, bis seine Frau plötzlich beim Frühstück verkündete, sie habe sich für die Operation entschieden.
„Bist du dir ganz sicher, Lisa?“
„Ja, hast du deine Meinung geändert? Ich dachte, du würdest mir bei dieser Ankündigung um den Hals fallen. Das wolltest du doch die ganze Zeit.“
Nachdenklich betrachtete Alexander sie. „Gerade deswegen ist deine eigene Überzeugung wichtig. Du darfst nicht mir zuliebe zustimmen.“
„Keine Angst. Ich habe mich für das Leben entschieden. Befürchtest du Vorwürfe, mich überredet zu haben?“
„Zumindest sollte es absolut deine Entscheidung sein. Es geht weniger um Vorwürfe, als mit den Folgen leben zu müssen.“
„Naja, es betrifft dich auch.“
„Ich habe damit kein Problem. Du sollst den Kampf gegen den Krebs gewinnen.“
„Ich weiß, Alexander, aber was es aus uns macht, wenn ich keine Brüste mehr habe, das wissen wir heute
nicht.“
„Da hast du Recht, mein Liebes. Dr. Borck hat dir für den Fall der Mastektomie zu einem kosmetischen Wiederaufbau der Brüste geraten. Ziehst du das in Erwägung?“
„Wäre es dir wichtig?“
„Ja, ich denke schon.“
„Für mich ist es sicherlich auch wesentlich einfacher, aber lass uns einen Schritt nach dem anderen gehen.“
Der Operationstermin wurde für die folgende Woche angesetzt.