Früher war das noch anders. Das Skandalon: Ausgerechnet Neumann, der Pasticheur, wurde einmal selbst pastichiert. 1932 erschien in hoher Auflage der Roman Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Der Erfolg war groß, das Buch wurde in sieben Sprachen übersetzt und war monatelang in den Leihbibliotheken vergriffen. Und war das nicht tatsächlich ein ganz neuer Ton und kühner Wurf?

Der Stoff jedenfalls war neu und kühn: eine einfache Frau aus dem unteren Mittelstand, die «ein Glanz» sein will. Dafür gab es noch kein Vorbild. Doris, eine junge aufstiegshungrige Semi-Prostituierte mit Film-Ambitionen und goldenem Herzen in der Großstadt Berlin. Sie schreibt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, naiv oder pseudonaiv, die Vermeidung der Eleganz ist das oberste Stilgebot, von ferne her hallt Büchners Woyzeck nach, ob Keun ihn nun im Ohr hatte oder nicht; auch der pikareske Roman spielt hinein. Bei jedem zweiten Satz zuckt die Lektorenhand, aber es ist alles Absicht und gehört zu ihrem Ton, der sich um Korrektheit nicht kümmert. Eine Probe: Doris irrt mit einem geklauten Pelzmantel durch den Park:

mit den Schwänen, die kleine Augen haben und lange Hälse, mit denen sie die Leute nicht mögen. Das kann ich verstehn, aber ich mag die Schwäne auch nicht, trotzdem sie sich bewegen und man darum Trost mit ihnen haben sollte. Alles hat mich allein gelassen. Ich hatte kalte Stunden, und mir war wie begraben auf einem Friedhof mit Herbst und Regen. Dabei war gar kein Regen, sonst hätte ich mich unter ein Dach gestellt wegen dem Feh.

und saßen bei Ruhrbeins, und Paul ist ganz fröhlich durch unsere Stimmung, und da sagt er: «Holen wir doch eine Flasche Wein, Mutter!»

Und da sieht sie ihn an und macht eine zischende Stimme ganz voll Böse: «Wenn du’s selber wieder mal verdienst, kannst du ja auch deinen Freunden Wein spendieren.»

Und da wurden wir alle rot, es wurde eine Stille im Zimmer. Und Paul ist fortgegangen und hat sich das Leben genommen im Wasser an demselben Abend. Und die Ruhrbeins weinten ganz furchtbar und waren ein Leid und sagten: «Er war doch der beste von unseren Kindern, und wie konnte er uns es antun, wo wir immer gut zu ihm waren.»

Nicht ganz voll Bosheit, sondern «ganz voll Böse» ist die Stimme der Mutter; kein Satz der Keun ohne eine kleine Kindchenschema-Manieriertheit. Es ist der «Und»-Stil des gespitzten Mündchens, mit ein bißchen Bibel und ein bißchen Argot. Und noch ein paar anderen Spezifika, die Kurt Tucholsky ins Auge stachen; aber davon gleich mehr. Das mag man mögen oder nicht, ein Ton ist es allemal. Immer der gleiche und auf Dauer enervierende, man kann das fiktive Tagebuch aufschlagen, wo man will:

Und dann müssen wir frische Luft haben und gehen eine Stunde spazieren nebeneinander und nach dem Essen. Es sind Abende und die Haustüren sind alle nicht mehr auf. Es

In ihrem Bauch ist also eine Ruhe und, nein, sie führen keine Gespräche, weil zwei Sätze zuvor schon Hunde geführt wurden, lieber führe Keun zur Hölle, als das im nachhinein zu ändern; sie sprechen Gespräche. Das ist der frische, unbefangene, naive Ton, und der machte Irmgard Keun sofort berühmt.

Aber war der Ton wirklich eigen? Das sah Robert Neumann etwas anders. Ein Jahr vor dem Kunstseidenen Mädchen war sein Berlin-Roman Karriere erschienen, dem Keuns Nachfolger auffällig glich. Neumann meldete seinem Verlag, sie habe sein Buch glatt abgeschrieben. In ihrer Not bittet Irmgard Keun den bekannten und ihr wohlgesinnten Kritiker Kurt Tucholsky brieflich um Beistand. Er möge doch bestätigen, daß hier kein Fall von Plagiat vorliege.

Aber da war sie vor die rechte Schmiede gekommen.

«Ich habe den Bert Brecht jahrelang verfolgt», antwortet ihr Tucholsky im Juli 1932, «weil er etwas gemacht hat, was ich für unverzeihlich halte: er hat einen Ton gestohlen. Bei Neumann steht das alles wie bei Ihnen: die nicht beendeten Sätze, wenn’s die Dame so eilig hat; die merkwürdige Stellung von sagt ersage ichsagt er …; genau dieselbe Technik, wie das Mädchen ihre Kokettiergeheimnisse enthüllt […]; das verquatschte Deutsch – und dann eben dieser Ton. Wie da alles Intime als bekannt vorausgesetzt wird, wie vierzehn Sachen mit einemmal erzählt werden … alles wie bei Neumann. Ich bin ganz entsetzt gewesen, als ich das gelesen habe.»

Das Schlußwort behielt der im Alter minimal milder gewordene Robert Neumann; es ist ein weises Wort über die Frage des stilistischen Einflusses überhaupt. «Der mit vielen Visionen

Das leicht zu Imitierende ist das, was den wahren Personalstil noch nicht ausmacht. Jeder halbwegs Begabte kann nach ihm greifen. Was tiefer sitzt und im Kern wurzelt, läßt sich nicht so leicht herauslösen.