Martin Mosebach, Verehrer und Schüler Doderers, veröffentlichte im Jahr 2010 den schon zitierten Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite im Bett spielt. In Was davor geschah liegt der Erzähler neben seiner Geliebten und berichtet ihr von seinem Vorleben und den verschlungenen Wegen, die sie am Ende zusammenführen. Ähnlich wie in Tausendundeine Nacht ist also schon die Erzählsituation deutlich erotisch markiert, auch wenn Mosebach den eigentlichen Akt ausspart.
Besonders angetan hat es dem Erzähler ein libanesisch-wienerischer Filou und Frauenheld namens Joseph Salam. Er denkt sich in dessen Innenleben hinein, er stellt es sich so lebhaft vor wie das Innenleben der Rosemarie Hopsten, einer stabil verheirateten, gutsituierten rheinischen Geschäftsfrau, in deren Salon Salam eines Vormittags unangekündigt auftaucht, um sie vor die unabweisbare Tatsache seiner hier und sofort zu löschenden Lust zu stellen. Rosemarie, die gerade erst ihr umständliches Schminkwerk beendet hat, ist unfähig zur Gegenwehr; sie erinnert sich daran, wie ihr Ehemann ihr unlängst von einem Eichhörnchen vorgelesen hat, das «schrittweise, zögernd, mit sich selbst kämpfend und wehklagend», in den Rachen einer Schlange gezogen wird. Sie jedoch, Annemarie, klagt nicht einmal, sondern läßt alles mit Neugier geschehen, auch wenn sie sich – Bilderwechsel – daran erinnert, wie Joseph Salman unlängst
einen großen Wolfsbarsch, der in ganzer Pracht auf den Tisch gekommen war, zerlegte, in dem offensichtlichen Eifer, sich nützlich zu machen, vielleicht gar mit solchen Maître-d’Hôtel-Künsten ein wenig Eindruck zu schinden. Und nun fühlte sie sich, als sei sie selber solch ein praller, glatter Fisch, der von seinen erfahrenen Händen tranchiert wurde, nach allen Regeln der Kunst, und zwar um verspeist zu werden.
Und so ungefähr geschieht es auch. Annemarie fühlt sich von Salams Egoismus – er ist «in seiner ganzen Aufmerksamkeit mit ihrem Körper befaßt, ohne sich um ihre Lust im mindesten zu kümmern» – dennoch nicht abgestoßen. Schließlich behalte sie immerhin ihren Kopf, während Salam jetzt unter einem anderen Gesetz stand «und ihr flehentliches Flüstern, ‹Bitte, bitte›, gar nicht aufnehmen konnte».
Auf diesen letzten Satz folgt der elegante Übergang von prä zu post:
Da täuschte sie sich übrigens: Als sie erschöpft und halb bekleidet auf dem Teppich nebeneinander lagen, wandte Salam sich ihr unversehens zu, wischte ein wenig von der verschmierten Schminke um ihre Augen weg – sie hatte, so vermutete sie, jetzt ein ganz und gar verwüstetes Gesicht, ihre Vorstellung, er verspeise sie, kam nicht von ungefähr – und erteilte ihr die Anweisung: «Sag in der Liebe nie mehr bitte, bitte, das will ich nicht mehr hören, bei der Liebe muß man befehlen.»
Sein Salam ist, wie man sieht, kein Mann für floralen Sex. Der Erzähler geht so weit in seiner Einfühlung, daß er seiner offenbar nicht prüden Zuhörerin schildert, wie Salam an einem warmen Herbstabend in einem Gartenhof auf abwegige Gedanken kommt.
Es war Oktober, aber der hohe Ahorn, der seinen Tisch beschattete, trug noch viel Laub und sandte nur gelegentlich ein großes Blatt in kurvenreichem Segelflug zu Boden. Joseph Salam saß in diesem milden Fallen des Laubes in herbstlichem Frieden, er bot das Bild eines Mannes, der nach vielen Schlachten zur Ruhe gekommen ist und den das Absterben der Natur nicht melancholisch stimmt, sondern mit dem Erlebnis des eigenen Reifwerdens beschenkt.
Das ist in seiner mürben scheinbiedermeierlichen Idyllik äußerst abgefeimt und dient nur als Folie, auf die sich bald ein ganz besonderer Saft ergießen wird. Denn Salams Stimmung ändert sich schlagartig, als vor seinen Augen unversehens ein großes schwarzes T aufsteigt. Eine junge Frau hat sich vor ihm niedergelassen, deren tiefsitzende Jeans so weit heruntergerutscht sind, daß sie das runde, weiße Rückenfleisch preisgeben, «und in der Mitte dieses weißen Ausschnitts stand das schwarze T – der breite Gürtel eines Tangas, in den jener Streifen mündete, der den Spalt zwischen den Backen des Hinterteils im Bedecken zugleich kräftig betonen sollte».
Für Mosebachs Salam ist nach dem Anblick des Tanga-Ts kein Halten mehr – und auch für den Erzähler nicht, der zwar keinen Zutritt ins innerste Traumkämmerchen seines Bekannten gehabt haben kann, dessen unfromme Phantasien aber dennoch in lebendigsten Farben malt:
«Den Tanga von den weißen Kugeln herunterstreifen, dachte Salam, das Gummiband dehnen und auf den Kugeln schnalzen lassen, so oft er dazu Lust hatte. Das Mädchen auf einem Bett mit rutschiger, ja glitschiger kalter Nylonsteppdecke ausstrecken.»
Die Decke nämlich, auf der er einmal in einem Hotel in Sofia nackt herumgerutscht war. Joseph Salam erinnert sich gerade an all die Zimmer seiner Liebesabenteuer, «jedes davon stand ihm vor Augen, vollgesogen mit der Liebesluft, dem Liebesdunst, der nach ein paar Stunden in ihnen lag». Dann fällt ihm der teure Gürtel ein, den er soeben auf dem Flughafen gekauft hat. – Und nun zeigt sich der Joseph in seiner wahren Gestalt:
Und da sah er sich auch schon, mit dem Gürtel in der Hand, ihn durch die Luft sausen lassend – sie kicherte albern, ihre schwimmenden Brüste waren riesengroß und stießen, wie sie da lag, bis an ihren vollen Hals. Dieser Albernheit wird jetzt ein Ende bereitet, die würde jetzt durchkreuzt, damit der erotische Ernst wiederhergestellt war. Mit ganzer Kraft schlug er sie über die schweren Schenkel. Sie war zu überrascht, um zu schreien, hielt sich die Hände mit den splittrigen Fingernägeln vor den Mund und starrte ihn angstvoll an, aber das Metallmonogramm hatte eine blutrote Spur hinterlassen, ein voller Tropfen rann hellrot über die Haut – die Nylondecke war jetzt schon versaut, obwohl sie noch kaum angefangen hatten.
Der letzte Halbsatz ist wieder charakteristisch für Mosebach, auch für seine untergründige Komik: Die Szene beginnt mit dem sanft segelnden Ahornblatt, um mit der Anti-Klimax des «versaut» zu enden. Erzähltechnisch liegt der Umgehungs-Trick dieser Stelle darin, daß der Autor einen Ich-Erzähler vorschickt, der sich wiederum in eine andere Figur hineinversetzt, die sich ihrerseits den Akt nur vorstellt – eine dreifach fiktionalisierte und abgesicherte Sexualphantasie.
Auf der sprachlichen Molekular-Ebene mindestens so gewagt wie das Geschilderte ist nicht nur das «Schwimmen» der Brüste, sondern das Hin und Her von Indikativ zu Konditional im zweiten zitierten Satz. Der Albernheit «wird» ein Ende bereit, sie «würde» durchkreuzt, damit der Ernst wiederhergestellt «war»; und nicht etwa «wäre» oder «sein würde». Ob das grammatisch dem Lehrbuch folgt, darüber mögen Sprachwissenschaftler streiten; als erlebte Rede und rhythmisch ist es genau richtig. Gerade darin, in der freien Behandlung der Tangas, Tempi und Modi, zeigt sich der genuine Stilist. Er sollte die Regeln beherrschen, aber er darf mit ihnen spielen wie mit Katzen, die man kraulen und auch wieder von der Schulter schubsen kann.
Joseph Salam gibt der Tangaträgerin beim Verlassen des Wirtsgartens übrigens seine Visitenkarte mit Mobilnummer; der Leser soll vermuten, nicht ohne Erfolg.
Aber nicht nur Salam, auch der mißgelaunte Fliegenfeind Hans-Jörg, den wir zitiert hatten, gerät auf Abwege, die vor Mosebach nur Vladimir Nabokov so eindringlich beschrieben hat. So magisch angezogen wie das Eichhörnchen von der Schlange folgt der mit Salam nach Kairo gereiste Hans-Jörg auf dem Tahrir-Platz einem rauchenden Zigeunermädchen, einem Kind noch, mit dem er, wenn sein telepathisch alarmierter Joseph Salam ihn nicht in letzter Sekunde in ein Taxi zöge, in einem üblen Hotel und Betonverschlag geendet wäre.
Die Szene, die sich über fünf Seiten erstreckt, müßte man ohne Kürzung zitieren, wollte man das langsame atmosphärische Anschwellen, das Zucken der Magnetnadel, die sich auf das Mädchen einnordet, das Zerfallen jeder Widerstandskraft angemessen darstellen. Sie zeigt Mosebach als den Erotiker des verbotenen Begehrens. Mosebach ist als Romancier sehr viel kühner, als es bemerkt wurde, wohl weil es Kühnheiten im Modus der Aussparung sind, getarnte Kühnheiten; in der Meidung alles Kruden und Steilen und ausgestellt Expressiven strebt Mosebach seinen genannten Vorbildern nach.
Wie Doderer stellt Mosebach dabei immer wieder Gefühls- und Seelenzustände dar, für die es kaum Begriffe gibt. Dem Stilisten geht es bei diesen Beschreibungen nicht so sehr um sprachliche Schönheit als darum, das Verwickelte dieser Grenzzustände möglichst klinisch genau zu fassen.
Ein solcher Grenzzustand ist es, in dem Hans-Jörg in Kairo wie magnetisch angezogen dem Mädchen ins Hotel folgt. Daß er durch starke erotische Attraktion die Kontrolle über sich verliert, ist das eine. Aber die Sache ist abgründiger und hat ihre metaphysische Seite. Der unholde Hans-Jörg, der Leidensmann, zieht sehenden Auges ins Unglück, er weiß es, und er ist einverstanden damit. Warum?
Und hier wird es nun kompliziert. Hans-Jörg hat Visionen. Er geht damit sogar, als folge er dem Rat eines ehemaligen Bundeskanzlers, zum Arzt. Hans-Jörg erklärt diesem Arzt, daß immer wieder Bilder in ihm aufstiegen, starke und vollständig undeutbare Bilder, die nicht aus ihm selbst kommen könnten. Nein, er sei davon überzeugt, sie kämen von außen. Er glaube, daß der Geist sich zeitweise aus dem Körper verabschiede, ein anderes Leben in anderen Verhältnissen führe und bei seiner Rückkehr von Erinnerungen willkürlicher Art besprenkelt sei, «wie jemand mit Wassertropfen auf dem Regenmantel in seine Wohnung zurückkehrt».
Zur Demonstration dieser Visionen zückt Hans-Jörg sein Notizbuch und liest dem zunehmend indignierten Arzt Eintragungen vor, darunter eine von einer Betonwand, «rechts und links lappige Vorhänge, ein im Triumph verzerrtes, geradezu nach allen Seiten hin zerfallendes Frauengesicht». Sie datiert vom 22. Juli, diese Notiz; nicht zufällig der Gedenktag Maria Magdalenas; so wenig zufällig, wie es ein Joseph ist, der den in Sizilien mit einer Dornenkrone, nein: Hecke kämpfenden Hans-Jörg väterlich retten wird.
Es ist nun diese Vision, die in Hans-Jörg aufsteigt, als er in Kairo wie unter Zwang dem rauchenden Mädchen folgt. Plötzlich weiß er: In genau dieses Zimmer mit der Betonwand und den lappigen Vorhängen wird das Kind ihn jetzt führen. Das mußte so sein, und das sollte so sein. «‹Die Sachen müssen endlich zusammenkommen, die beiden Ebenen müssen endlich zusammenfallen›, diese Worte sprach er leise aus, während seine Augen an das kleine Hinterteil vor ihm geheftet waren, das den Rock hin und her schwenkte.» Einen Moment später sieht er sich von drei kräftigen Männern in schwarzen Lederjacken umringt.
Die Ebenen müssen zusammenfallen – das geht weit über das Lolita-Syndrom hinaus, es sind schwierig auszudrückende, fast mystische Seelenzustände, die den Helden umtreiben, und die Kunst bestand darin, sie nicht zu vereinfachen und begrifflich zurechtzustutzen.