Verbotenes Begehren: Mosebachs Kühnheiten blieben im Modus der Aussparung, waren aber doch, man denke an die versaute Nylonsteppdecke, drastisch genug. Eine Tiefenschicht darunter liegen Kühnheiten, die so gut getarnt sind, daß man sie fast nicht erkennen kann. Wer würde bei einem berühmten Kinderbuch vermuten, daß es von versteckten Obszönitäten strotzt?

Das verrufene Werk soll auf eine Wiener Kaffeehaus-Wette zurückgehen, man weiß bis heute nicht, von wem angeregt. Die 1906 anonym in kleiner Auflage erschienene und nur durch Subskriptionsverfahren vor der Zensur geschützte Schrift Josefine Mutzenbacher oder Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt ist das berühmteste pornographische Werk der deutschsprachigen Literatur. Es sind die fiktiven Memoiren der Josefine, die schon als Kind ins spätere Gewerbe der Prostitution rutscht; ein Buch mit mindestens einer Debaucherie pro Seite. Stilistisch auffällig ist, daß der anonyme Verfasser offenbar in enger Fühlung mit den nichtbürgerlichen Milieus der Wiener Vorstadt stand und ein genaues Gehör hatte. Er ist ein Meister der Figurensprache und des Wiener Gassen- und Honoratiorenjargons. Nicht nur als soziologisches Sittengemälde, auch als Sprachkunstwerk ist die Mutzenbacher aller Ehren wert. In der Ausgabe, die 1969 bei Rogner & Bernhard erschien, erklärte Oswald Wiener die Mutzenbacher kurzerhand zur Weltliteratur.

Ein literarisch bedeutendes Werk ist auch das Kinderbuch, das Felix Salten 1923 veröffentlichte und das ihm den Weltruhm eintrug: Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde. «Lebensgeschichte» also auch in diesem Titel. Felix Salten ist der Autor, dem die Mutzenbacher heute zugeschrieben wird und der jene Wette offenbar gewann. Eine Weile galt Arthur Schnitzler als Kandidat, aber Schnitzler bestritt die Verfasserschaft. Anders als Salten, der,

Saltens Kinderbuch ist durch den Walt-Disney-Film berühmt geworden, der aber nicht viel mit ihm zu tun hat. Vor allem täuscht er über eines hinweg. Bambi gilt seit dem Film als Symbol der Unschuld. Im Buch ist Bambi nur ganz am Anfang ein süßes Rehkitz. Die längere Zeit ist er ein mit mächtigem Geweih bewehrter viriler Macho-Bock. Saltens Erzählung, für Kinder gedacht, mit schönsten Naturschilderungen und einem anrührenden Dialog zweier auf den finalen Fall wartender Herbstblätter, ist stark sexuell unterfüttert. Man käme nicht darauf, gäbe es nicht diese doppelte Verfasserschaft. Wenn man das Kinderbuch unters Rotlicht der Mutzenbacher hält, zeichnen sich andere Muster als die von Disney collagierten ab.

Bald nach dem Tod der Mutter spürt Bambi, wie es innerlich in ihm zuckt und glüht. «In Bambi schwoll die junge Kraft und dehnte sich durch alle Glieder, sodass er mit zögernd verhaltenen Bewegungen ganz steif einherging.» Er findet seine erste, die Steifheit lösende und noch keusch umschriebene Erleichterung mit seiner Gespielin Feline. Nachdem er seine Konkurrenten ausgefochten und Feline ihm ihre Liebe erklärt hat, heißt es: «Sie gingen miteinander fort und waren sehr glücklich.» Bambi kommt bald auf den Geschmack und beweist seine jugendliche Potenz. «Die ganze Nacht war er mit Feline glücklich gewesen, hatte sich bis in den hellen Morgen mit ihr getummelt» und in seiner Seligkeit dabei sogar der Nahrung vergessen.

Doch nicht lange, und in Bambi erwacht der promisk sich weiter tummelnde Geist. Er denkt an seine Geliebte Feline und sagt sich abschätzig: «Sie konnte er immer haben, so oft er wollte.» Wie

In Josefines Lebenserinnerungen fällt vor allem auf, wie früh die Inzestschranken niedergerissen werden. Die sexuelle Initiation kommt aus der Familie. Im Reich der Rehe geht es nicht anders zu. Das Verhältnis der Söhne zu ihren Müttern ist nicht nur bei Bambi deutlich ödipal. Als Bambis Tante ihren vermißten Sohn Gobo wiederfindet, küßt sie ihn ab. Nein, das ist etwas mehr als mütterliche Freude: «[…] langsam küßte sie Gobo auf den Mund, küßte seine Wangen, seinen Hals, unablässig wusch sie ihn mit ihren Küssen, wie einst in der Stunde, in der sie ihn geboren hatte.» Man übertrage das auf Menschen, von denen es ja herkommt, dann ist man in Ottakring in der Zinskaserne der Mutzenbachers, wo Josefine von Kind an innerfamiliär koitiert. Jener Gobo, der von seiner Mutter geküßt wird, heißt in der Mutzenbacher Schani, und was diesen Küssen folgt, liest sich dort so: «Endlich warf sie sich auf Schani, nahm seinen Schweif, und auf ihrem Buben reitend stieß sie sich die Nudel hinein, beugte sich vor und preßte ihren Busen an sein Gesicht. ‹Na, stoß! Stoß!› ächzte sie. ‹Die Mutter erlaubt’s dir! Stoß nur! Fest!›»

Auch lesbischer Verkehr ist Josefine von früh an vertraut. Bambi wiederum wird auch mann-männlich begehrt. Selbst den Oberhirsch gelüstet es nach ihm. «Der Hirsch sah ihn an und dachte:

Das Finale ist, in Josefinischem Licht, geradezu unverschämt obszön. Der gealterte Bambi betrachtet mit Wohlgefallen seine beiden Kinder. Mit etwas mehr als nur Wohlgefallen seine Tochter. «‹Die Kleine›, dachte er, ‹auch die Kleine ist nett … so hat Feline ausgesehen, als sie noch ein Kind war.› Er ging weiter und verschwand im Wald.»

Das ist der Schluß. Und das ist kaum noch Subtext und Nachtigallentrapsen; das ist, von Josefine her gelesen, die Ankündigung des demnächst erfolgenden Tochtermißbrauchs.

Er hat es nie dementiert. Er hat es aber auch nie zugegeben. Angenommen, es meldeten sich doch noch Zweifler? Erben von Schnitzler, die auf das Dementi des Großopas pfiffen? In diesem Fall müßte man als Stil-Forensiker ins Detail gehen. Felix Salten blieb Felix Salten, auch als Stilist. Jeder Stilist hat einen Fingerabdruck. Er verrät sich durch kleine wiederkehrende Muster, Manierismen, Vorlieben, Tics. Salten verrät sich durch ein exzessiv genutztes Satzzeichen in den Dialogen. Hier zunächst Bambi, aus dem Gespräch jener den Winter fürchtenden Herbstblätter.

«Nein … wir wollen es lassen … Aber … wovon sollen wir denn sonst sprechen? […]

«ich glaube dir nicht … nicht ganz … aber ich danke dir, weil du so gut bist … du bist immer so gut zu mir gewesen … ich begreife es jetzt erst ganz, wie gut du warst.»

«Himmelkruzitürken … das ist gut … so hab ich’s gern … nur langsam, wir haben Zeit.»

«… Rudolf … mir kommt’s …»

Und Zenzi wisperte: «Ach … fickere mich … mach mir ein Kind … ja … beiß mir die Dutel ab … beiß mir die Dutel ab … Rudolf … er fickt mich … er fickt mich …»

Man hat es gemerkt: So gleichmäßig mit dem Salzstreuer verteilt die drei Pünktchen im Dialog nur ein und derselbe Verfasser.