Kafkas und Tucholskys Schloß

Nun sind wir unverhofft doch schon mitten in actu angekommen, geleitet ausgerechnet von einem Reh. Dann können wir auch gleich weitermachen. Betreten wir also mit Kafka vorsichtig das Schloß.

Wobei jenes Schloß vom Helden K. ja gerade nicht betreten wird. K. bemüht sich den Roman lang vergeblich, vor die oberste Behörde zu gelangen, die ihn angeblich als Landvermesser bestellt hat. Doch das gräfliche Schloß hüllt sich in undurchdringliches Schweigen. Es gibt nur einen möglichen Mittelsmann, einen Herrn Klamm, der ebenfalls fast nie zu erreichen ist. Auf ihn, Herrn Klamm, setzt K. seine ganze Hoffnung. Um Klamm abzupassen, verbringt er im Dorf am Fuß des Schlosses seine Zeit im Gasthaus «Herrenhof», in dem die Schloß-Beamten verkehren und Parteien empfangen. Hinter der Theke steht das Schankmädchen Frieda, das vorgibt, Klamms Geliebte zu sein. K. beachtet sie kaum, aber als im Wirtshaus wieder einmal nach Klamm gesucht

Etwas Fröhliches, Freies war in ihrem Wesen, was K. früher gar nicht bemerkt hatte und es nahm ganz unwahrscheinlich überhand, als sie plötzlich lachend mit den Worten: «Vielleicht ist er hier unten versteckt» sich zu K. hinabbeugte, ihn flüchtig küßte und wieder aufsprang und betrübt sagte: «Nein, er ist nicht hier.»

Als sich der Wirt verabschiedet, um das Haus nach Klamm zu durchsuchen, kommt Frieda schnell zur Sache.

Er konnte das Zimmer noch gar nicht verlassen haben, schon hatte Frieda das elektrische Licht ausgedreht und war bei K. unter dem Pult, «Mein Liebling! Mein süßer Liebling!» flüsterte sie, aber rührte K. gar nicht an, wie ohnmächtig vor Liebe lag sie auf dem Rücken und breitete die Arme aus, die Zeit war wohl unendlich vor ihrer glücklichen Liebe, sie seufzte mehr als sie sang irgendein kleines Lied. Dann schrak sie auf, da K. still in Gedanken blieb, und fing an wie ein Kind ihn zu zerren: «Komm, hier unten erstickt man ja!», sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend aber vergeblich, zu retten suchte, paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tür und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war.

Na servas, würden die Wiener sagen. Da wälzen sie sich in Bierpfützen, und K. kann sich vor der kurzzeitig erregten Frieda nicht

Dort vergiengen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei soweit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.

Hochverrätselt und klar doch darin, daß K. immer weiter und weiter geht, auch wenn es alles kein Spaziergang für ihn ist. Den Verlockungen ist er ausgesetzt, aber anders als bei Musils Ulrich, der, wie wir hören werden, als schäumender Narr durch eine Wolke des Irrsinns fliegt und diesen Flug wenigstens genießt, überwiegt bei K. die Angst. Was ihm mit Frieda, was ihm mit der Frau zu drohen scheint, ist die Selbstauflösung.

«Und so war es wenigstens zunächst für ihn kein Schrecken, sondern ein tröstliches Aufdämmern, als aus Klamms Zimmer mit tiefer befehlend-gleichgültiger Stimme nach Frieda gerufen wurde.»

Kanzleivorstand Klamm, der die ganze Zeit in seinem Zimmer war, fordert offenbar seinen Morgenbesuch, was K. aber gleichgültig läßt. Was bei ihm eintritt, ist nicht postkoitale Tristesse, sondern postkoitale Erleichterung. Die Tristesse war der Umarmung in den Bierlachen vorbehalten.

Stilistisch auffällig ist bei dieser Szene eines. Das Bild der Luft, in der die Heimatluft fehle, so daß K. zu ersticken droht, ist für Kafkas Verhältnisse erstaunlich vage, wenn nicht schief: Die Luft

Aus einem anderen Schloß weht uns eine ganz andere, heitere, ja balsamisch prickelnde Luft entgegen, dem Schloß Gripsholm von Kurt Tucholsky. Auch hier wird spontan der Liebe gepflogen, auch hier sorgen die Metaphern fürs Umzirkeln der körperlichen Details; hier aber, anders als bei Kafka, verspüren die Beteiligten offenbar reinen ätherischen Genuß. Es sind deren drei.

Zu dem Paar, das wir schon bei der Zugfahrt nach Stockholm kennengelernt haben, dem Ich-Erzähler und der Prinzessin, wie er seine Geliebte nennt, gesellt sich neuerdings die Freundin Billie. Es ergibt sich, daß die drei eines Abends zusammen lagern.

«Gib mal Billie einen Kuß!» sagte die Prinzessin halblaut. Mein Zwerchfell hob sich – ist das der Sitz der Seele? Ich richtete mich auf und küßte Billie. Erst ließ sie mich nur gewähren, dann war es, wie wenn sie aus mir tränke. Lange, lange … Dann küßte ich die Prinzessin. Das war wie Heimkehr aus fremden Ländern. […] Es war ein Spiel, kindliche Neugier, die Freude an einer fremden Brust … Ich war doppelt, und ich verglich; drei Augenpaare sahen. Sie entfalteten den Fächer: Frau.»

Der nächste Vergleich hat eine leicht komische Konnotation, weil er an den Dreierbob erinnert, den es 1931 als Bezeichnung für die ménage à trois vermutlich noch nicht gab.

Ist hier auch ein Löffelchen Kitsch dabei? «Wir gaben uns jenem», dem Gotte Eros also wohl, denn der Schlitten oder Bob wird nicht gemeint sein? Ein Gran, vielleicht. Aber es ist doch sehr innig und schön, gerade nach Kafka. Und der «entfaltete Fächer: Frau» könnte mit seiner Alliteration auch in Nabokovs Ada fächeln. Eine Ada kommt im Schloß Gripsholm sogar vor.