Mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen: Kleist, Fleißer, Brecht

Weniger verbreitet ist der andere entfaltete Fächer: Mann. Der schöne Körper des Mannes wird manchmal von einem anderen Mann gerühmt. Wir haben es bei Hyperion gesehen, der an

[…] ich hätte bei Dir schlafen können, Du lieber Junge; so umarmte Dich meine ganze Seele! Ich habe Deinen schönen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet. Er könnte wirklich einem Künstler zur Studie dienen. Ich hätte, wenn ich einer gewesen wäre, vielleicht die Idee eines Gottes durch ihn empfangen. Dein kleiner, krauser Kopf, einem feisten Halse aufgesetzt, zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das Ganze ein musterhaftes Bild der Stärke, als ob Du dem schönsten jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachgebildet wärest.

Dies die mann-männliche Erotisierung, wenn sie zur Sprache gebracht wird. Das Frauenlob der männlichen Physis ist gar nicht so leicht zu finden. Sehr schön, im Ton an das Hohelied Salomos anklingend, ist Christine Lavants Gebet zur Feier des Geliebten, das beginnt:

Lieber Gott, lass mir die Liebe

Die mutige Liebe

zu der Stirne meines Geliebten

zu den Brauen meines Geliebten

zu den süßen Äpfeln seiner Augen

zu den beiden Wangenhügeln

zu seinem Lippenpaar

zu dem zu wenig geküssten Kinn

zu Hals und Schultern

die vor Lachen hüpfen konnten

wenn man sie streichelte.

Zu dem zärtlichen Wäldchen auf seiner Brust

und den beiden Beeren darin.

Zu allen seinen Rippen

und jedem Schlag seines Herzens.

Und dreimal mutige Liebe

zu den Gegenden seiner Lenden

und dem Baume des Lebens darin.

Zu den kindlichen Kehlen seiner Kniee

zu allen seinen Zehen

und noch einmal zurück hinauf

bis in die niemals vergessenen Haare.

Lavants Lyrik ist dreimal mutig und beschämt die Prüden und die Priester, die sie so gern für sich vereinnahmt hätten. Es gibt andere Beispiele von Manneslob bei Irmgard Keun, bei Elke Lasker-Schüler, bei Ingeborg Bachmann. Mit einem weiteren versorgt uns Marieluise Fleißer. In ihrem Roman Eine Zierde für den Verein beschreibt sie ein in freier Natur stattfindendes Rencontre zwischen Frieda und deren Galan Gustl, einem sehr ungalanten Galan, genau genommen. Dieser Gustl ist dem Tabakladenbesitzer Bepp Haindl nachgebildet, mit dem Fleißer in Ingolstadt eine lange und unglückliche Ehe bis zu Haindls Tod im Jahr 1958 führte – das erwähnte dritte Monstrum in ihrem Leben.

Frieda ist ihrem Liebhaber Gustl geistig deutlich überlegen, aber sie findet ihn körperlich attraktiv. Die beiden schlagen sich auf der Suche nach einem stillen Plätzchen durchs Gebüsch:

Und sollte Gustls Tun nicht nützlich sein, wenn Frieda es braucht und rund um ihn die Wesen auf dieselbe lebendige Weise ihr bloßes Dasein loben?

Er steht nicht zurück, wenn schon die Grillen aus Instinkt am eigenen Deckblatt sägen und die Frösche durch den quarrenden Halssack Töne pressen. Gustl ist nicht störrisch im Monat Mai, dies ist sein geringstes Versagen. Er bleckt die Zähne in einer Grimasse des versteinerten Genusses, bevor ihm die Sinne schwinden, wird förmlich seines Lebens froh.

Er macht es auf eine siegreiche sportliche Art jedenfalls, nicht im Sinne von Erleiden, sondern von Tun. Er ist herrlich zusammengefaßt und kann mit furchtlos offenen Augen in den Himmel zielen. Sein Brustansatz ist mit dem Muskel bepackt wie ein Vogelflügel. Oh, Gustl hat sich am gedeckten Tisch der Natur nicht wie der arme Lazarus niedergelassen!

Fleißer ist zugleich direkt und diskret, daraus ergibt sich die bewußte Unschärfe der Bilder. Ihr Gustl ist nicht störrisch im Monat Mai. Was Grillen und Frösche ihm vormachen, davor zuckt auch er nicht zurück. Das Furchtlos-in-den-Himmel-Zielen – was es genau meint, bliebe auszubuchstabieren, aber in dieser Unschärfe liegt der Reiz.

Fleißers erstes Liebesmonstrum, Bertolt Brecht, hat den Monat Mai in seinem nun schon mehrfach erwähnten Gedicht nicht ausdrücklich genannt, aber sicher mitgemeint. Es sind nur zwölf Zeilen, für die wir wieder ins lyrische Fach wechseln wollen:

An dem großen Heute

Sah ich, als ich sehn anfing

Lauter lustige Leute.

 

Und seit jener Abendstund

Weißt schon, die ich meine

Hab ich einen schönern Mund

Und geschicktere Beine

 

Grüner ist, seit ich so fühl

Baum und Strauch und Wiese

Und das Wasser schöner kühl

Wenn ich’s auf mich gieße.

Wer spricht hier? Das Thema dieses Gedichts ist eine geglückte, beglückende Entjungferung. Es ist süddeutsch gefärbt und gesprochen aus dem Mund des Mädchens, der jungen Frau, die zum ersten Mal die körperliche Liebe erlebt hat und begreift, daß die andern Menschen ähnliche Erfahrungen machen, vermutlich sogar immer wieder, weshalb sie plötzlich lauter lustige Leute sieht. Vielleicht findet sie die Leute auch nur lustig, weil ihre Oxytocin-beschwingte Laune nach außen schwappt. Sie spricht in Gedanken mit ihrem Geliebten, der schon wisse, welche Abendstunde sie meint, in der sie ihre Beine trainierte. Sie sieht die Welt mit den neuen Augen der erotischen Erwecktheit, die Kühle des Wassers nach der Liebeserhitzung ist eine andere als die der täglichen Morgentoilette. Weil sie spricht, wie sie denkt, bildet sie nicht den grammatisch notwendigen Plural und sagt nicht: «Grüner sind», seit sie so fühle, Baum und Strauch und Wiese; so wie sie in der ersten Strophe nicht sagt: als sie zu sehen anfing, und so wie sie die Abendstunde nicht mit «welche» anknüpft, sondern mit «die».

Robert Musil war der große kühle Skeptiker des Eros. Die Frau als Käfer, der sich bei der Liebe tot stellt, käme weder bei Brecht noch bei Tucholsky, noch bei Lavant oder Fleißer vor. Auch die Gefühle post coitum sind bei Musil verhangener. Sein Ulrich aus dem Mann ohne Eigenschaften grübelt darüber, wie jäh man aus der einen Sphäre wieder zurückfällt in die andere.

«Wie viel schöner ist sie, wenn sie wild wird,» überlegte Ulrich «und wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen.» Ihr Anblick hatte ihn ergriffen und zu Zärtlichkeiten verführt; jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging. Das unglaublich Schnelle solcher Veränderungen, die einen gesunden Menschen in einen schäumenden Narren verwandeln, wurde überaus deutlich daran.

Ulrich zieht daraus weitere Schlüsse: Die Liebesverwandlung des Bewußtseins sei nur ein besonderer Fall von etwas weit Allgemeinerem; auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äußerungen des Inneren seien solche rasch wieder aufgelösten Inseln eines zweiten Bewußtseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben werde. Es ist Musils Lieblingsidee des anderen Zustands, auch als taghelle Mystik bekannt. Ulrich grübelt weiter:

Stilistisch aufschlußreich ist, wie Musil die zwei Zustände auch sprachlich nachbildet. Der Alltagszustand ist der sprachlich nüchterne, in dem Ulrich den Herrn aus der Physikalischen Gesellschaft trifft, ernste Aussprachen hat und sich nach seinen Büchern sehnt. Der andere Zustand ist der metaphernselige: Der Mensch verwandelt sich in einen schäumenden Narren und fliegt durch eine Wolke des Irrsinns. Daß der Mensch vor dieser Verwandlung «gesund» genannt wird, verrät im Umkehrschluß, daß Musil sexuelle Erregtheit für im Grunde ungesund hält. Im drahtigen kleinen Musil versteckt sich ein Asket.