Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas, 1953 verfaßt, wurde wegen Unzüchtigkeit von allen Verlagen abgelehnt. Als Alfred Andersch die Erzählung 1955 in Texte und Zeichen abdruckte, wurden beide verklagt, es drohten ihm und Schmidt sogar Zuchthausstrafen. Erst ein Gutachten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sorgte für die Einstellung des Verfahrens. Der damalige Präsident Hermann Kasack hatte erklärt, es handle sich um ein ernst zu nehmendes Sprachkunstwerk und keineswegs um Pornographie.
Man wird diesen Zeitgeist in Rechnung stellen müssen, wenn man die Erotik-Szene heute liest. Für damalige Leser waren das notwendige Akte der Befreiung. Das Pornographische daran setzt allerdings Scharfsinn voraus, denn die inkriminierte Szene liest sich so:
Wieder blitzte es die Schatten aus unserer Bleikammer: über der Stuhllehne dünne nackte Schläuche, das Dreieck und ein rosa Doppelschüsselchen. Ich ruhte nicht eher, bis im Sitz noch die zwei winzigen Söckchen lagen, darunter dann die braunen Sandalen : «Was hastu für ne Größe?» Sie stöhnte verzweifelt : «Frag nich …»; dann so gebrochen : «Dreiunvirzich!», daß ich sofort hineilte und ihr Trost zustreichelte : «Pocahontas ! –!». (Nur mit einer roten Hüftfranse aus dunkelgrünen Wäldern treten. Müßte Sie. Sie suchte ein bißchen in ihrem Koffer : – –, holte ein Kopftuch heraus und probierte es schüchtern : – –, machte den abschließenden Knoten an der Seite : – –?. Stand still mit hängenden Armen : ernst pfählte und hager die endlose Hüfte rechts aus den harlekinenen Stoffzungen, war also ihre linke Seite, und wartete ergeben und sehnsüchtig bis ich sie nannte und erlöste : «Pocahontas !» – Ein roter Samtfleck kam aus ihren Lippen, wurde schnitzelspitz, drängte unbeholfen, und schlüpfte mir dann tief in den Mund …).
[…]
/ Ich küßte auch in den konkaven Mirabellenbauch. Unsere Flüster durchirrten sich; unsere Hände paarten : sich! Ich mußte erst das rote Gitter ihrer Arme durchbrechen, Fingergezweige zurückbiegen, ehe ich die Tomate mit den Lippen am dünnen kurzen Stiel faßte, daß sie sehr meuterte, vil michel ungebäre, und verschluckte sie dann ganz, daß sie süß empört aufwollte (aber ja nicht konnte); so schrie sie nur einmal schwächlich und lüstern; dann klemmte wieder die mächtige Schenkelzange. (Wir ritten sausend aufeinander davon : durch haarige Märchenwälder, Finger grasten, Arme natterten, Hände flogen rote Schnapphähne, (Nägel rissen Dornenspuren), Hacken trommelten Spechtsignale unter Zehenbüscheln, in allen Fußtapfen schmachteten Augen, rote Samtmuscheln lippten am Boden, kniffen mit Elfenbeinstreifen aus denen Buchstaben schimmerten, Flüster saugten, Säfte perlten, abwechselnd, oben und unten.
Alles verstanden? Auch ohne Nachfrage beim Schmidtschen Dechiffrier-Syndikat? Nein, wir müßten lügen. Halbwegs ist die Situation klar, aber auch nur halbwegs. Die nach der Indianerfrau Pocahontas getaufte lange und hagere Ferienbegleitung des Erzählers hat sich entkleidet. Das Dreieck und das Doppelschüsselchen, ihr Slip und ihr BH, hängen mit den Nylonstrümpfen über dem Stuhl. Der Erzähler (er heißt Joachim, sie heißt Selma) tröstet sie wegen ihrer Schuhgröße. Nackt, wie Selma ist, hüllt sie sich auf seinen Wunsch in ein Kopftuch. «Ernst pfählte und hager die endlose Hüfte rechts aus den harlekinenen Stoffzungen, war also ihre linke Seite» – spätestens ab hier senkt sich ein gewisser Nebel über den Text. Was soll uns der Hinweis, daß für ihn rechts ist, was für sie links ist? So ist das, wenn man jemandem gegenübersteht. Das «rote» Gitter ihrer Arme, das der Erzähler durchbricht, erklärt sich noch dadurch, daß beide einen heftigen Sonnenbrand haben. Hübsch ist auch der rote Samtfleck, der schnitzelspitz wird. Aber der dünne Stiel der Tomate, meint Schmidt damit ihre Brustwarze? Nicht genial gefunden. Konkaver Mirabellenbauch? Gelb-orange wie die Mirabelle oder zart wie deren Haut? Was heißt es, wenn Hände rote Schnapphähne fliegen? Das Grimmsche Wörterbuch vermutet eine «derbe und nicht ohne humor gebildete bezeichnung eines schnappenden, beute haschenden hauptkerls». Schnapphähne sind in der Regel Wegelagerer, Raubritter, die hier offenbar als Hände fliegend unterwegs sind – puhh! Schmidt macht es seinen Lesern und Leserinnen nicht leicht. In Fußtapfen schmachtende Augen? Schimmernde Buchstaben in Elfenbeinstreifen? Meint er die durch den BH vom Sonnenbrand verschonten Längsstreifen? Wir sitzen auf der Leitung.
Natürlich passiert hier mehr in der Prosa als bei Heinrich Böll. Aber es passiert bei Arno Schmidt immer ein bißchen zu viel. Er hatte oder duldete keinen Lektor, der ihm gezeigt hätte, wo er einmal herunterschalten könnte – sein Prosagefährt fliegt ständig aus der Kurve. Und mit den Jahren und Jahrzehnten wird Schmidt immer eigenbrötlerischer und zwanghafter. Was er im Spätwerk mit seiner Etym-Theorie und viel Joyce zelebriert, seine Kunst der Ver- und Überschreibung, hat ihn berühmt gemacht, doch dieser Ruhm scheint schon etwas zu verblassen. Wer liest Finnegans Wake, wer liest Zettel’s Traum? Und wer glaubt Schmidt ein Wort von seiner freudianisch inspirierten Sprachtheorie?
Zwanzig Jahre nach Seelandschaft mit Pocahontas erschien Schmidts Novellen=Comödie Die Schule der Atheisten. Der Zeitgeist erlaubte jetzt offenere Worte über Sex. Was in der Seelandschaft noch kryptisch umschrieben werden mußte, wird jetzt mit Wörtern wie «wixen» und «Muschi» direkt benannt. Der geschilderte Vorgang ist darum auch ganz transparent. Der junge Apotheker, seiner Manneskraft gerade nicht mächtig, befriedigt seine Freundin durch Cunnilingus. Der betriebene Sprachaufwand ist beträchtlich, die Möglichkeiten der semantischen Unterfütterung werden üppig ausgekostet. Arno Schmidt schreibt nicht untenherum, sondern «untn=haarum», man «keucht» nicht, sondern «Coicht», was den Coitus zur Hälfte mitnimmt, es heißt nicht vae victis, Wehe den Besiegten, sondern VAE VICKT; das Palliativ wird zum «Phalliativ», im Verb «roboten» steckt der englische bottom («rohBOTTOM’t»), der Scheitelpunkt ist das «ScheidelPünktchin Ihres Winkels» – und so immer fort. Was immer einen sexuellen Doppel- oder Hinternsinn haben könnte, wird auf die Sprachoberfläche gezerrt. Man kann es lustig oder phantasievoll finden oder auch öde und spätpubertär-johannistriebig; zu imitieren wäre es kinderleicht. Über die Satzzeichen-Manie müssen wir nichts mehr sagen.
(= SIE Coicht, ER schmattsD, den Tàkdazu: ‹!›) / (Ihre, reglwidrije, Beinstellunc abba=auch! : Sie windit sich, als läg’ Sie auf dem Rade! : jägliche Ihrer süß’n Mußkln zukkt wie ein Herrz! : daSS quieklt=follieklt, unterHelft \ unterHälft wonnich kreißnder BlauAugn, (ein mattiß ‹A›; über einim, Knieumschlegeltn ‹O!›), & die SchamKrafft der Maid ’ss so groß, & Sie credenzt Ihm=Ihre SchoßSäfftchin mit einer Schnälle, daß der steifge SteinBleiche, untn=haarumTollinde, (coichlnd, schweißermüdit!); ((?): man sieht Ihn faßt nicht, (so=gewållticht die bum’e’Range um Ihn her!) … hHhchchnn!! – / –: keuchnd rohBOTTOM’t, tief untergebogn die Zukk’nD’e: ’ ’ ’ ’ ’ –: da ròllt sich die Hòlde Gestalt gans=zuSàm’m vor sein’n ZungnStöß’n.
Was sollen wir damit machen? Stark ist das auf seine Art schon. «Das Ei, das Schmidt der Welt gelegt hat, ist wunderlich gestaltet, gleichsam ein Barock-Ei», schreibt Peter Hacks. «Aber gelegt hat er es ihr.» Das hat er zweifellos. Ähnlich resümiert der Hacks sonst ganz unähnliche Hans Wollschläger: «Von der zweiten deutschen Jahrhunderthälfte wird wenig Literatur ‹übrig› bleiben, von Arno Schmidt das Meiste» – fragwürdig, aber immerhin möglich. Jedenfalls Brand’s Haide eher als Billard um halb zehn und Kaff und Abend mit Goldrand eher als Ein weites Feld und Die Rättin; mit dieser Wette riskiert man nicht viel.
Und dennoch traf der Lektor des Rowohlt-Verlags, der Seelandschaft mit Pocahontas empörenderweise abgelehnt hatte, einen Punkt. Nicht mit dem Vorwurf der Sprach-Onanie. Er sah in dem Werk vor allem eine «Apologie der Spiesserei».
Wir behalten uns vor, die Prosa des späten Schmidt bei aller genialischen oder genitalischen Interessantheit letztlich partiell entsetzlich zu finden. Sein Mädchen- und Frauenbild ist es in jedem Fall. Räusper: Phall.