Wie es außerhalb der Altherrenphantasie eines Arno Schmidt aussieht, wenn eine selbstbewußte Frau einen Mann verführt, läßt sich nachlesen in Elke Schmitters Debutroman Frau Sartoris. Schmitter legt diesen Roman als Kontrafakatur eines berühmten Vorbilds an, der Madame Bovary von Flaubert. Kontrafaktur heißt: Sie greift die Muster und Motive auf, aber paßt sie dem Jahr 2000 an. Ihre Heldin ist eine emanzipierte Emma Bovary. Die berühmteste, damals skandalöse Szene in Flauberts Roman: Emma trifft ihren heimlichen Liebhaber zu einer Kutschenfahrt; mit verhängten Fenstern wird diese Kutsche stundenlang im Kreis durch Rouen gejagt. Was dabei auf der Rückbank passiert, konnten die Leserinnen sich vorstellen; beschreiben durfte Flaubert es noch nicht. Elke Schmitter holt diese Beschreibung zumindest andeutungsweise nach. Selbst die Kutsche rettet sie aus dem Skandalroman in die Jetztzeit. In einem alten Schuppen auf einer ländlichen Freiluftausstellung, die Flauberts foire agricole zitiert, stehen Karren und sogar eine Hochzeitskutsche.
Ich lehnte an einer Kalesche und wartete auf ihn, und als er vor mir stand, küßte ich ihn und drängte mich ganz nah an ihn; ich spürte, wie er weich wurde und nachgab; wir verloren uns in diesem Kuß, der lange und noch einmal lange dauerte […]
Sie öffnet den Schlag der Flaubertschen Kutsche und zieht ihren Liebhaber hinter sich her.
Ich lehnte mich an ihn und legte seine Hand auf meine Brust, während ich ihn wieder küßte; ich wollte ihn aussaugen und wehrlos machen, ich fühlte mich mächtiger als je in meinem Leben, während ein Mann mit dröhnender Stimme von Federung und Bereifung sprach […]
Sie beginnt, ihr Kleid aufzuknöpfen, ihr Begleiter stöhnt vor Aufregung und vielleicht Angst, die Kutsche schaukelt leicht, «seine Hand lag in meinem Schoß und meine an seiner Brust, ich spürte sein Herz darunter klopfen; ich fühlte seine Erregung und zog ihn weiter aus» – da hört sie einen Mann sagen: «Wir könnten uns eigentlich reinsetzen.»
Ich streckte meine Hand nach dem Türgriff aus und hielt ihn von innen fest, und für eine Sekunde war alles gleichzeitig, die Erregung und die Angst, mein Verlangen, uns zu beschützen und zugleich uns freizugeben; ich konnte noch immer klar denken, doch war mir alles egal, ich wollte nur nicht aufgeben; ich wollte erregt bleiben und mächtig, ich wollte hier in der Kutsche mit ihm schlafen, sofort, ich wollte ihn überwältigen.
Der Mund des Begleiters liegt schon auf ihrer Brust, als eine Frau draußen sagt, sie habe gar keine Lust, in dieses dunkle Kabuff zu steigen – Entwarnung, «der Wagen schaukelte noch leicht, als wir hörten, wie sich alle entfernten, bis draußen der Kies wieder knirschte und es ganz still wurde».
Ende des Absatzes, der Vorhang fällt. Mehr als bei Flaubert haben wir über die Vorgänge im Kutscheninnern immerhin erfahren.
Sehr viel expliziter wird Schmitter in ihrem zweiten Roman Leichte Verfehlungen. Dort schildert sie auf drei Seiten eine weibliche Masturbation. Die Prosa ist präzise, behutsam und deutlich; die Metaphorik sparsam und wirkungsvoll. Schmitters Hauptfigur Selma
ließ den Kopf auf das Kissen sinken; ihre Augen schlossen sich wie von selbst. Ein saures, angenehmes Zucken durchzog ihre Vagina, wie der Biß eines Insekts. Sie streckte ihre Beine aus, die ein wenig steif geworden waren; zugleich mußte sie gähnen. Mit Behagen zog sie die Luft tief ein, während die Muskeln in ihrer Scheide sich ablösten in einer flankierenden, schnell wandernden Bewegung, von den Leisten nach innen und wieder zurück.
Flaubert wäre dafür noch ins Kittchen, en taule, gewandert oder hätte es jedenfalls nicht publizieren können. Er hätte es aber auch nicht schreiben können; so gut wußte er nicht Bescheid. Auch der Autor der Mutzenbacher wäre nicht auf den Insektenbiß gekommen (er hätte auch nicht zur Rollenprosa gepaßt). Bei Schmitter geht es weiter: Selma schiebt mit beiden Händen Jeans und Schlüpfer nach unten,
gerade so weit, daß ihre Daumen locker und spielerisch die Schamlippen berühren konnten, die warm und geöffnet dalagen. Sie klappte die linke ein wenig nach außen und hielt sie fest, während ihr rechtes Daumengelenk, das Mittelglied in leichter Bewegung, sich weiter nach innen schob, wo das Gewebe feucht und kräftiger war. Süße durchströmte sie, plötzlich und erwartet, wie eine Fontäne, sprudelte hoch und sank wieder zurück, noch einmal und wieder.
«Plötzlich und erwartet», nicht plötzlich und unerwartet: die kleine Abweichung, die den Stil macht. Und jetzt tauchen Bilder auf, durchwandern Selmas sanft erlahmendes Bewußtsein. Sie stellt sich vor, ein Unbekannter streiche ihr bei einer Ausstellung, in einem überfüllten Bus, bei einer öffentlichen Feier mit selbstbewußt rüder Hand über die Schultern.
Seine Linke faßte ihr in den Nacken und beutelte sie dort, wie man ein junges Tier im Griff hat, das winselt vor Freude, Angst oder Schmerz; sie hatte die Augen geschlossen, während aus ihrem Mund ein leise rasselndes Stöhnen entwich, allein für ihn bestimmt, der nun zu sprechen begann …
In ihrer Phantasie genießt Selma seine mit unbeteiligter Stimme gesprochenen Befehle. (Kennt sie Mosebachs Joseph Salam: «Bei der Liebe muß man befehlen»?) Selma stellt sich vor, wie der Fremde ihren Slip zerreißt. Alles Folgende geschieht ebenso mit seiner imaginierten Hand wie mit der realen eigenen. Ein dünner Speichelfaden läuft Selma aus dem Mund, während die Hand des Fremden ihre Erregung dirigiert,
sein Zeigefinger, zart und trocken, um ihre Schamlippen herumstrich, eine kaum fühlbare Bewegung, unter der sie sich um so heftiger zusammenzog und wieder weitete, in stummer bettelnder Hingabe, den Kopf nach vorne gesenkt, während er nun, endlich, über ihr Inneres verfügte, indem er den Druck seines Daumens erhöhte, mit den Fingern ihr Gewebe spreizte, sich Raum verschaffte und massierte, sich eindrehte und stach, in dieser sich dehnenden, pulsierenden Weite […]
Erst der Insektenbiß, dann der durch ihn vorbereitete Stich. «Über ihr Inneres verfügte» ist sachlich, ironisch distanziert, eine Spur bürokratisch; man kann sich denken, wieviel derber es in der Mutzenbacher genannt worden wäre. «Verfügte über ihr Inneres» ist stilistisch, um im Genre zu bleiben, das Präservativ zur Pornographie-Verhütung. Schmitter will genau und deutlich sein, furchtlos, unverschwiemelt, wahrt sprachlich aber den Dresscode; kein Argot, keine Jahnnschen Sprach-Ekstasen, keine Borchardtschen Exzesse.
In einer anderen virtuosen und erzähltechnisch ausgefuchsten Sex-Szene der Leichten Verfehlungen gerät ein Anwalt bei der Betrachtung eines alten Stillebens, das über seinem Bürosofa hängt, in Tagträume. Er stellt sich eine flämische Bürgersfrau vor, die dem Heiland ihre sündigen Gedanken bei der Hochzeit ihres Schwagers gesteht
und die Erregung zwischen den Schenkeln und in der Kehle, als ihr, auf dem Weg, um ihre Notdurft zu verrichten, im Halbdunkel der Diele ebendieser Schwager begegnete. Stunde um Stunde essend und trinkend, in der aufgelösten Wärme ihrer Verwandten sitzend, hatte ihr Leib sich ausgedehnt, war aufgeschwollen vor Wohlbehagen, und ihre Brüste prangten beinahe schmerzhaft, als der jüngste Bruder ihres Mannes mit seinen Händen ganz zart, beinahe nebenbei, darüberstrich, bis sie die ihren darauf legte, wie um ihn abzuwehren, und sie dann auf die Spitzen preßte, die hart geworden waren, sie drückte und bewegte, in engen, massierenden Kreisen, während er sich an sie schob, sich an sie drängte; mit dem Rücken an der Wand, eine hölzerne Strebe im Kreuz, hatte sie die Schenkel gespreizt und, durch alle Röcke hindurch, sein pulsendes Glied gespürt, merkwürdig schmal und lang, ein Finger ohne Hand, der sich an dieser Stelle rieb, die sich für ihn geöffnet hatte, ausgestülpt und riesig, hohl …
Die Autorin versetzt sich in einen Mann hinein, der sich in eine erfundene Frau hineinversetzt, die einem Mann beichten will – ein Set russischer Puppen, eine Frauen-Männer-Frauen-Phantasie. Die Szene geht noch drei Seiten weiter und schwelgt in altflämischen Details; die Pointe läßt Schmitter nebenbei schon zu Beginn fallen: Das anregende Stilleben aus dem siebzehnten Jahrhundert ist wahrscheinlich eine Fälschung.
Der Finger mitsamt Hand, der imaginierten, befaßt sich unterdessen noch mit Selmas Innerem. Sie ist immer noch dicht von andern Körpern bedrängt; man könnte sie aus den Augenwinkeln beobachten, was eine Quelle ihres Luststroms ist, aber niemand sieht das Rumoren, dem sie sich ausgeliefert hat, aufgepeitscht von der kaum hörbaren Stimme des Mannes, die sie jetzt zwingt, die Beine noch weiter zu spreizen und sich in den Kniegelenken zu lockern, «so daß nun, in der größten Spannung, die Lust sich ausbreiten konnte, die er, noch einmal, mit ein, zwei Worten hinhielt, um ihr dann, während die Linke ihren Mund verschloß, vollkommene Erlösung zu bereiten …»
Sie nennt es vollkommene Erlösung, Borchardt nannte es die Krisis. – Danach liegt Selma minutenlang da, die Hand in der Sonne, nimmt ein Buch von der Lehne und schlägt die geknickte Seite auf. Es folgt ein Zitat, ein Satz von Jacob Burckhardt. Erst der Flug durch die Wolke des Irrsinns, dann die Landung in der Literatur? Bei Musils Mann ohne Eigenschaften war es nicht anders. Als Intellektuelle immerhin scheinen sich Frauen und Männer doch sehr ähnlich.
Erinnern wir uns an Goethes Fußfetischismus in den Wahlverwandtschaften? Schön und gut, aber er hat Nachteile.
Wenn er gerne die Füße küßt, wird er noch fünfzig Frauen die Füße küssen […]. Eine Frau muß aber damit fertig werden, daß jetzt ausgerechnet ihre Füße an der Reihe sind, sie muß sich unglaubliche Gefühle erfinden und den ganzen Tag ihre wirklichen Gefühle in den erfundenen unterbringen, einmal damit sie das mit den Füßen aushält, dann vor allem, damit sie den größeren fehlenden Rest aushält, denn jemand, der so an Füßen hängt, vernachlässigt sehr viel anderes.
So Ingeborg Bachmann in ihrem als sperrig geltenden Roman Malina. In MeToo-Zeiten kaum noch zu drucken wäre eine Stelle aus demselben Roman. Darin erklärt die seelisch schwer gestörte Erzählerin: «Ich, zum Beispiel, war sehr unzufrieden, weil ich nie vergewaltigt worden bin»:
Als ich nach Wien kam, hatten die Russen überhaupt keine Lust mehr, die Wienerinnen zu vergewaltigen, und auch die betrunkenen Amerikaner wurden immer weniger, die aber sowieso niemand recht schätzte als Vergewaltiger, weswegen auch soviel weniger von ihren Taten die Rede war als von denen der Russen, denn ein geheiligter frommer Schrecken, der hat natürlich seine Gründe. […] Man hält es nicht für möglich, aber außer ein paar Betrunkenen, ein paar Lustmördern und anderen Männern, die auch in die Zeitung kommen, bezeichnet als Triebverbrecher, hat kein normaler Mann mit normalen Trieben die naheliegende Idee, daß eine normale Frau ganz normal vergewaltigt werden möchte. Es liegt natürlich daran, daß die Männer nicht normal sind, aber an ihre Verirrungen, ihre phänomenale Instinktlosigkeit hat man sich schon dermaßen gewöhnt, daß man sich das Krankheitsbild in seinem ganzen Ausmaß gar nicht mehr vor Augen halten kann.
Die Pointe ist das fünfmal wiederholte «normal», mit dem Bachmann etwas Norm- und Wertewidriges einfach umstempelt. Krank sind die Männer, weil sie keine Lust aufs Vergewaltigen haben. Natürlich will Bachmann schockieren, auch in dem hier zensierten Auszug, in dem die Erzählerin sich beklagt, zwei farbige Soldaten im Salzburgischen (sie sagt es anders), das sei doch reichlich wenig für soviel Frauen in einem Land. Sie will schockieren; aber anders als Streeruwitz, die das ebenfalls will, hat Bachmann verborgenen Witz. Die Klage der Frau über die instinktlosen Männer hat gerade, weil sie allem Komment widerspricht, etwas nur schwer nachweisbar Komisches.
In Schweden sähe man das anders. Dort drohten die gleichnamigen Gardinen.