Große Literatur handelt nicht nur von Liebe, sondern auch vom Tod. Zerfällt hier aber nicht der Begriff von Stil, angesichts von Agonie und dem dunklen Rätsel, von dem niemand aus Erfahrung sprechen kann? (Rahel Varnhagen nannte es das große, heilige, amüsante Räthsel.) Werden hier Stilfragen nicht geschmäcklerisch? Nein: Gerade hier muß sich Stil bewähren, gerade hier wird über ihn gerichtet.
Zu Recht stolz auf seine literarischen Sterbeszenen war der untergangssüchtige Thomas Mann. Sie waren seine unbestreitbare Stärke, fast sein Metier; man muß weit suchen, um einen breiteren Fächer an Todes-Variationen zu finden. Es gibt kein Werk, in dem der Tod von ihm nicht hofiert, umkreist, in Worte gebannt würde; der Weg zum Friedhof, wie eine seiner frühen Erzählungen heißt, war bei ihm nie sehr weit. «Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt» – dieser Satz leitet die klinisch kühle, dem Lexikon entnommene Schilderung des Sterbens Hanno Buddenbrooks ein. Gustav von Aschenbachs Tod in Venedig ist dagegen elegisch-mythologisch: Er blickt aufs Meer, wo ihm Tadzio als Seelenführer ins Totenreich lächelnd zuwinkt, als ob er hinausdeute, «voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure».
Im Zauberberg ist es Joachim Ziemßen, der tapfer und ohne zu klagen an Tuberkulose stirbt (und in einer spiritistischen Séance kurz wieder erscheint). Die Erkenntnis, die Hans Castorp in einer Vision im Schneesturm zuteil wird – der Mensch solle um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken –, diese Erkenntnis vergißt Castorp noch am selben Tag. Sein eigener Tod in den flandrischen Schlachtfeldern wird vom Erzähler fast ungerührt eher anheimgestellt als ausgemalt. Im Joseph stirbt Jaakobs Rahel herzzerreißend unmittelbar nach ihrer Niederkunft. Der Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben füllt ein ganzes Kapitel, in dem Joseph dem braven ägyptischen Hausmeier an Hofe Potiphars das Sterben mit Gute-Nacht-Reden so schmackhaft wie möglich macht. Große Prosa, das alles, wie sie Thomas Mann niemand nachschriebe und man im einzelnen zeigen könnte – auch der grausame encephalitische Tod des Knaben Echo im Doktor Faustus und das Ende der Betrogenen, der Rosalie von Tümmler, die in seiner letzten Novelle trotz Unterleibskrebs mit der Natur versöhnt stirbt.
Ein anderer großer Totenredner war Jean Paul. In seinem Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal nimmt er von seiner rührendsten Hauptfigur Abschied. Es ist eine der ewig schönen Stellen der klassisch-romantischen Literatur:
Wohl dir, lieber Wutz, daß ich – wenn ich nach Auenthal gehe und dein verrasetes Grab aussuche und mich darüber kümmere, daß die in dein Grab beerdigte Puppe des Nachtschmetterlings mit Flügeln daraus kriecht, daß dein Grab ein Lustlager bohrender Regenwürmer, rückender Schnecken, wirbelnder Ameisen und nagender Räupchen ist, indes du tief unter allen diesen mit unverrücktem Haupte auf deinen Hobelspänen liegst und keine liebkosende Sonne durch deine Bretter und deine mit Leinwand zugeleimten Augen bricht – wohl dir, daß ich dann sagen kann: «Als er noch das Leben hatte, genoß ers fröhlicher wie wir alle.»
Es ist genug, meine Freunde – es ist 12 Uhr, der Monatzeiger sprang auf einen neuen Tag und erinnerte uns an den doppelten Schlaf, an den Schlaf der kurzen und an den Schlaf der langen Nacht …
Es gibt andere große Schilderer des Übergangs in die lange Nacht: Laurence Sterne im Tristram Shandy, Tolstoi im Tod des Iwan Iljitsch, Proust beim Tod der Großmutter, Giuseppe di Lampedusa im Leopard beim Tod des Fürsten Tancredi, eine der grandiosesten Sterbeszenen überhaupt.
Auch bei Joseph Roth und bei Rilke wird groß gestorben und groß getrauert. Besonders anrührend in dessen Requiem für eine Freundin, das Rilke im November 1908 schrieb, nachdem ihm im Traum Paula Modersohn-Becker erschienen war.
Ob man nicht dennoch hätte Klagefrauen
auftreiben müssen? Weiber, welche weinen
für Geld, und die man so bezahlen kann,
daß sie die Nacht durch heulen, wenn es still wird.
Gebräuche her! wir haben nicht genug
Gebräuche. Alles geht und wird verredet.
Weniger bekannt ist, daß auch Musil ein Meister der Sterbeszene war. In seiner Erzählung Die Portugiesin wird der Raubritter Herr von Ketten auf seinem Heimritt von einer Fliege gestochen. Die Hand schwillt an, der Bader verordnet heiße Umschläge mit Heilkräutern. Dann tritt Fieber ein, «wie eine weite brennende Grasfläche», und dauert Wochen. «Als eines Tages vom Herrn von Ketten nicht mehr übrig war als eine Form voll weicher heißer Asche, sank plötzlich das Fieber um eine tiefe Stufe herunter und glomm dort bloß noch sanft und ruhig.» Und gerade jetzt glaubt Herr von Ketten, es gehe mit ihm zu Ende:
Er schlief viel und war auch mit offenen Augen abwesend; wenn aber sein Bewußtsein zurückkehrte, so war doch dieser willenlose, kindlich warme und ohnmächtige Körper nicht seiner, und diese von einem Hauch erregte schwache Seele seine auch nicht. Gewiß war er schon abgeschieden und wartete während dieser ganzen Zeit bloß irgendwo darauf, ob er noch einmal zurückkehren müsse. Er hatte nie gewußt, daß Sterben so friedlich sei; er war mit einem Teil seines Wesens vorangestorben und hatte sich aufgelöst wie ein Zug Wanderer: Während die Knochen noch im Bett lagen, und das Bett da war, seine Frau sich über ihn beugte, und er, aus Neugierde, zur Abwechslung, die Bewegungen in ihrem aufmerksamen Gesicht beobachtete, war alles, was er liebte, schon weit voran.
So also fügt sich der Ritter in den Tod. Am Ziel angelangt, löst sich der Zug der Wanderer auf, zerstreut sich wie die Atome des erstorbenen Leibs.
Die gute Nachricht: Es ist gar keine Sterbeszene. Der Ritter erholt sich wieder und erreicht das Ende der Erzählung mit wiedergewonnener Kraft. Er klettert sogar noch Gebirgswände hoch.
Die zweite gute Nachricht überlassen wir zum letzten Mal unserer Lieblingsdichterin.
Übrigens glaube ich jetzt, wir werden nach dem Sterben von einander wissen: oder vielmehr, uns zusammen finden. Dies gesagt, grüße ich Sie, und bin überzeugt, mein Schreiben freut Sie.
Fr. Varnhagen
Dieser letzten zwar nicht Überzeugung, aber doch Hoffnung schließt sich der Autor dieses längeren Schreibens an, das er nun ebenfalls zum Abschied geleiten muß. Und was soll er sagen? Falls sich der Verlag nicht dazu bewegen läßt, jedem Exemplar dieses Buches ein Stoffbeutelchen mit tausend Gulden einzunähen: Wüßten wir nun endlich, was einwandfreier Stil ist? Haben wir die Schlange aus ihrem Wolfspelz geschält, haben wir das Geheimnis der großen Literatur enthüllt?
Natürlich nicht. Wenn es sich enthüllen ließe, wäre es kein Geheimnis mehr. Vielleicht haben wir durch Beispiele guten Stils die Empfindlichkeit gegen schlechten erhöht? Das wäre immerhin schon etwas.
Kafka sagte, der gute Stilist sei derjenige, der sein Schlechtes am besten verstecke. Aber Kafka sagte auch: Diese ganze Litteratur ist Ansturm gegen die Grenze …
Ansturm gegen eine Grenze, die nie überwunden werden kann. Aller Stil scheitert letztlich an der Grenze des Unsagbaren. Das meinte auch Karl Kraus mit seiner berühmten Schlußwendung: «Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige.»
Sprache schafft eine neue, eigene Wirklichkeit – einverstanden. Aber Sprache wird die wahre gefühlte, getastete, geschmeckte, gehörte, erinnerte Wirklichkeit nie ganz erfassen – die Grenzen der Sprache sind mitnichten die Grenzen der Welt. Das ist der tiefste Grund dafür, daß guter Stil oft ironisch ist.
Fast immer ist diese Ironie Selbstironie, und sie ist verwandt mit der Scham. Nur wer von beidem frei ist, von der Scham und der Selbstironie, nur der kann trompeten und sich prächtig auf die Sprache verlassen. Die andern wissen: Dem Innersten kommt man mit Sprache nicht auf die Spur. Oder allenfalls auf die Spur; aber du erjagst es nicht.
Jagen, besser jagen, links begleitet von Scham, rechts von Ironie – das ist Stil.