Von der bewußten Nachbildung eines Stilvorbilds ist die halbbewußte zu unterscheiden, die sich im Jargon äußert. Wenn man den Jargon meidet, ist man stilistisch schon auf dem richtigen Weg. Der gute Stil, hatten wir gesagt, speise sich aus Einfällen. Diese Einfälle lassen sich nicht imitieren oder parodieren, wie selbst Neumann zugab, sie kommen oder sie kommen eben nicht. Diese Seite ist die positive Seite des Stils. Mit ihr korrespondiert die andere, negative Seite, die ein Geheimnis des guten Stils berührt.
Guter Stil beruht auf einem inneren Verbotskanon. Diese Verbotstafeln sind von außen nicht einzusehen, sie stehen in den Schreibkammern des Autors verschlossen. Und eben hierin liegt ein Geheimnis des Stils: Die Leser merken nicht unbedingt, warum sie etwas gern lesen, weil es an etwas Fehlendem liegt. Man merkt es dem guten Stil nicht gleich an, daß er Gemeinplätze meidet, man spürt das Fehlende so wenig, wie man das Nicht-gezwickt-Werden spüren kann. Aber auf Dauer merkt man es doch. Auf Dauer merkt die Leserin eines Essays, daß es ihr wohltut, wenn sie einmal verschont bleibt von den Phrasen, von «Paradigma», «Diskurs» und «Narrativ», oder wenn ihr aus einem Roman nicht die schiefen Bilder und Worthülsen entgegenpurzeln.
Die Idiosynkrasien – ein Lieblingswort Fontanes – sind dabei unterschiedlich. Der eine möchte schon beim ersten «Sinn machen» den Raum verlassen, noch bevor alles in trockenen Tüchern ist; der andere läßt gerade noch ein «positionieren» und ein «vor Ort» durchgehen. Allein, hier ist jede Strenge und Empfindlichkeit erlaubt. Im Februar 2018 erteilte eine Bar in Manhattan dem Modewort literally Lokalverbot: Wer es im rein verstärkenden Sinn benutzt («I literally died laughing»), hatte noch fünf Minuten Zeit, seinen Drink zu beenden. Es wäre aufregend und spannend, wenn es solche Lokalverbote auch in Deutschland gäbe; es wäre zumindest eine Herausforderung.
Nicht nur in New York, auch in Paris kannte man diese Phrasen-Empfindlichkeit. Gustave Flaubert hatte seinen Ekel vor dem Abgedroschenen und dem Klischee in ein ganzes Buch gefaßt. Auch in Wien, der Hauptstadt der gemütlich-vergifteten Phrase, gab es Protest gegen die sprachlichen idées reçues. Karl Kraus hatte noch einen radikaleren Vorschlag als das einfache Vermeiden der Klischees. Kraus schlug vor, es müsse ein Landtag über die Sprache konstituiert werden, der, «wie für jede Kreuzotter, für jede erlegte Phrase eine Belohnung aussetzt».
Phrasen erlegen gegen Belohnung? Reizvolle Beschäftigung! Lukrativ dazu. Doch wir wollen uns nicht im Phrasen-Dickicht verlieren. Als Regel gelte: Meidet «unbequem» für Denker oder Publizistinnen, beschränkt diese Beschreibung auf Biedermeierstühle. Allgemeiner: Meidet alles, was als Sprachplastik im Mainstream schwimmt; wobei die Phrasen zum Glück schneller zerfallen. Auch wenn man heute als Berlin-Wilmersdorfer schon fast froh ist, daß an der U-Bahn-Station noch nicht «Fair-Berliner Platz» steht.
Aber wir wollen grundsätzlicher werden. Wie ist die Sprache, aus der sich literarischer Stil bildet, aufgebaut, wie setzt sie sich zusammen? Kann ein falsches Komma oder ein falsches Substantiv einen Satz zerstören; kann ein Beiwort ihn retten? Wie fügen sich Wörter zu Sätzen, wie geraten sie in Schwingung, und warum kann für einen Romansatz verboten sein, was für das Gedicht erlaubt ist? Wie muß, anders gesagt, gejätet, geharkt, gezupft, gekeltert und filtriert werden, damit uns die Prosa ohne Trübung entgegenquillt?
Bleiben wir nicht im Gestrüpp der Phrasen und Ottern. Begeben wir uns in den Weinberg der Literatur.