Nach den Satzzeichen, die nicht gesprochen, sondern nur gelesen werden, steht auf der nächsten Stufe der Sprach-Hierarchie der einzelne Laut. Wenn er bedeutungsunterscheidend ist, wird er Phonem genannt. Aus diesen Lauten setzen sich die Wörter zusammen, die Sätze bilden, sofern sie nicht monolithisch herumstehen. Wir wollen uns auf diesen Stufen der Hierarchie gemächlich nach oben begeben, wie auf den Stufen der Strudlhofstiege; oben angelangt, werden wir einen kleinen Überblick darüber haben, wie man Sätze bauen kann und wie man sie rhythmisch in Schwingung bringt.
Noch nah am nicht gesprochenen Satzzeichen sind auf der nächsthöheren Stufe stumme Laute, also Buchstaben, die gar nicht gesprochen werden. Der stumme Laut wird noch nicht Phonem genannt, weil er keine Bedeutung unterscheidet. Weil er stumm ist, könnte man ihn auch gleich eliminieren, fand man zu Beginn des letzten Jahrhunderts, das ohnehin gerne säuberte. Die Säuberer zogen sich damit die Rage des ebenso sprachgewaltigen wie sprachempfindlichen Fackel-Herausgebers zu. Im Jahr 1915 veröffentlichte Karl Kraus das Langgedicht Elegie auf den Tod eines Lautes.
Weht Morgenathem an die Frühjahrsblüthe,
so siehst du Thau.
Daß Gott der Sprache dieses h behüte!
Der Reif ist rauh.
Wie haucht der werthe Laut den Thau zu Perlen
In Geistes Strahl.
Sie vor die Sau zu werfen, diesen Kerlen
Ist es egal.
So geht es achtundzwanzig Strophen lang weiter. Die Elegie steigert sich dann in Rage. Am Ende steht die Verdammung:
Und keine Thräne wird den Roling hindern
für und für.
Er warf das h, der Träne Schmerz zu lindern,
raus zur Tür.
Nicht jedes Thier verwüstet tätig so
der Schöpfung Spur.
Nur manche Gattung Tier lebt irgendwo
fern der Natur.
Sie hat wol viel Gefül und dieses ist
dick wie das Tau.
Den Thau zertritt sie, Werth hat nur der Mist
für eine Sau.
Die Elegie oder Zornesrede hat die Abschaffung des stummen «h» nicht verhindern können. Immerhin – als in Berlin im Jahr 2014 die Joachimstaler Straße endlich wieder zur «Joachimsthaler Straße» rückbenannt wurde, hätten Krausens Rotationen im Grab für einen Moment nachgelassen. Dort zu rotieren, hätte er seit 1996 noch mehr Grund gehabt als sonst. Die verstümperte Rechtschreibreform, bei der nicht nur ein Laut abgeschafft wurde wie das zarte «h», sondern eine marodierende Bürokraten-Rotte durchs Sprachgehege zog – aber darüber hier kein Wort; da wäre neben Karl Kraus noch ein Abraham a Sancta Clara gefragt. Ein Tusch, nein eine Hornserenade nur für den Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg, der den finalen Zaun zwar nicht ziehen konnte, am Ende aber zumindest das Allerschlimmste verhindert hat. Die schreibende Zunft wird es ihm nicht vergessen, wenn sie weiterhin genußvoll ihre Spaghetti schlürfen darf.
In der Musik kann man auch die Stille hören. Notfalls vier Minuten und 33 Sekunden lang, wenn John Cage sie komponiert. In der Sprache beginnt die Musik auf der nächsthöheren Stufe, nach den stummen Buchstaben. Sie beginnt mit dem Laut, der klingt und den man kombinieren kann. Mit dem Laut beginnt das Spiel der Vokale und Konsonanten und Assonanzen und wollüstig variierten Wiederholungen und Reibungen – dieses unendlich permutierbare Spiel, das überhaupt das Reizvollste an der geformten Prosa ist.
Nehmen wir zwei fast willkürlich gewählte Beispiele. Das eine ist aus Uwe Timms Poetikvorlesung Von Anfang und Ende. Er berichtet da, wie er an ein bestimmtes Granitstück aus der Spitze des Obelisken der Piazza del Popolo kam, und es folgt der unauffällige Satz:
«Im Herbst 1983 wälzte sich eines dieser heftigen Gewitter über Rom, eine schwarze, an den westlichen Rändern schwefelgelbe Wolkenbank.»
Unauffällig, ja – aber nicht nur rhythmisch, sondern auch klanglich perfekt durch die Wiederholung des «w». Wenn es neunzehnhundertzweiundachtzig gewesen wäre, hätte sich die Sechser-Wiederholung zur Sieben gerundet. Aber das Gewitter wälzte sich ein Jahr später heran, und unser Autor wählte die Wahrheit.
Ein anderes Beispiel von Assonanzenspiel stammt aus einer Novelle von Jeremias Gotthelf. Hier ist es vor allem das wiederholte «g», das der mittelalterlichen Schloßszene, in der eine Teufelsspinne unter betrunkenen Rittern wütet, so recht das Gruselige eingräbt. Diese Spinne sitzt plötzlich auf dem Kopf des große Reden schwingenden Schloßherrn:
Da begann die Gluth zu strömen durch Gehirn und Blut, gräßlich schrie er auf, fuhr mit der Hand nach dem Kopfe, aber die Spinne war nicht mehr dort, war in ihrer schrecklichen Schnelle den Rittern allen über ihre Gesichter gelaufen, keiner konnte es wehren; einer nach dem andern schrie auf, von Gluth verzehrt, und von des Pfaffen Glatze nieder glotzte sie in den Gräuel hinein […].
Nimm die «g»s weg, und das Grauen wäre schon gemildert. Aber freut euch nicht zu früh, die Spinne wird uns später noch übers Gesicht krabbeln!