Nächste Stufe: das Wort. Beim Stil kommt es auf jedes Wort an – worauf sonst? Auf deren Reihenfolge natürlich, die zum Satz und letztlich zum Rhythmus führt, aber am Anfang steht das Wort. Ein falsches Wort kann nicht nur Beziehungen, sondern auch Sätze ruinieren – Beispiele folgen, Beispiele könnten in Bibliothekslänge folgen, denn worauf sollte schlechter Stil fußen als auf schlecht gewählten Wörtern? Und sobald erst einmal ein Wort da ist, haben wir viele, und sie interagieren. Es gibt kleine Funktionswörter, die ihre Beziehungen regeln sollen, Partikeln, Konjunktionen, Präpositionen, eine Schlangengrube möglicher Fehler nicht nur für Nicht-Muttersprachler. Und dann gibt es die größeren Wörter. Sobald es Wörter gibt, gibt es Grammatik. Und sobald es Grammatik gibt, wimmeln die Fehler.
Wir streuen auf dieser Stufe eine sehr bescheidene Blütenlese oder Vipernauswahl der möglichen Fehler aus. Es gibt Flüchtigkeitsfehler, die durch die Wahl eines Wortes entstehen, das einen nicht beabsichtigten Doppelsinn hat. «Wenn Du ihn übergibst, übergibst Du Dich», schloß einmal eine Glosse floristischen Inhalts nach der Beschreibung des idealen Blumenstraußes. Dem Autor wurden am Tag danach keine Blumen ins Büro gestellt. «Kondome sind in aller Munde», hieß es seinerzeit in einer Glosse der FAZ, worauf sich der Herausgeber Joachim Fest vor Scham tagelang nicht ohne Sonnenbrille zeigte. Solche unfreiwilligen Doppeldeutigkeiten unterlaufen selbst anspruchsvollsten Essayisten. Ein solcher schrieb einmal über Heinrich Böll: «Die Bücher sind es, um derer willen der Leser auch nach dem Leben des Autors trachtet» – wirklich, will er Böll ernsthaft ans Leder? Nein, er beginnt sich wegen des Werks auch für das Leben des Autors zu interessieren, das wollte Hans Wollschläger sagen und übersah dabei den unfreiwillig mörderischen Doppelsinn.
Weniger gravierend und feiner gestimmt sind die Unterschiede zwischen sehr ähnlichen Wörtern. Eine Schriftstellerin wird beim Signieren nach einer Lesung von einer älteren Dame angesprochen. Während die Autorin ihre Unterschrift leistet, beugt sich die Dame zu ihr hinunter und sagt mit leiser Stimme: «Entschuldigen Sie, ich war früher Deutschlehrerin. Und aus diesem Beruf kommt man nicht mehr raus. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber: Es gibt einen Unterschied zwischen ‹völlig› und ‹vollkommen›. Sie benutzen die beiden Wörter synonym.» Die Autorin weiß nicht, ob sie beschämt, amüsiert oder verärgert sein soll, und entscheidet sich fürs Amüsement.
Hatte die ehemalige Deutschlehrerin recht? Ein Kunstwerk oder ein Mensch kann von vollkommener Schönheit sein. Die Lehrsätze der Mathematik sind von (seit Gödel: fast) vollkommener Ordnung. Gott ist vollkommen; der Begriff des Vollkommenen leitet sich ab aus der Idee der göttlichen Ganzheit. Das ist der strenge Sprachgebrauch, insofern hatte die Dame recht. Dennoch könnte man ihren Einwand als «vollkommen unwichtig» abtun, das wäre erlaubt. Nur umgekehrt ginge es nicht: Niemand würde sagen, eine Scarlatti-Sonate sei von völliger Harmonie. Es gibt also wirklich einen Unterschied, auch wenn scheinbar das gleiche gemeint ist. Oder dasselbe.
Aber eben nur scheinbar. Fast alle Österreicher verwenden das Wort falsch. Aber anders als bei «völlig» und «vollkommen» geht es hier um den entscheidenden Unterschied. «Der Zwerg sagte scheinbar die Wahrheit» meint das Gegenteil von: «Anscheinend sagte der Zwerg die Wahrheit.» Im ersten Fall lügt der Zwerg, im zweiten Fall spricht zunächst alles dafür, daß er nicht lügt. «Anscheinend» meint das gleiche wie offenbar, allem Anschein nach. «Scheinbar» meint: nur dem Scheine nach, hinter dem sich aber etwas anderes verbirgt. Franz Kafka hat die Bedeutung von «scheinbar» zur Parabel geformt:
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
Allerdings hat derselbe Kafka das Wort «scheinbar» an anderer Stelle in der lässig kakanischen Manier als Synonym von «anscheinend» gebraucht – aber vielleicht ist das auch nur scheinbar? Der Satz aus dem Verschollenen lautet folgendermaßen: «In solchen Gedanken schlief Karl ein und nur im ersten Halbschlaf störte ihn noch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die scheinbar von schweren Träumen geplagt sich auf ihrem Lager wälzte.»
Entweder das Wort ist falsch verwendet, weil Karl nicht wissen kann, ob Brunelda wirklich schwer träumt oder nicht; nur aus dem Gegensatz aber von Schein und Wirklichkeit leitet sich das korrekte «scheinbar» ab, wie Kafka es in den Bäumen exemplarisch vorführt.
Die zweite Möglichkeit: Brunelda seufzt und wälzt sich aus ganz anderen Gründen auf ihrem Lager, aus Gründen, die mit ihrem Beischläfer Delamarche zu tun haben, was dem naiven Karl nicht in den Sinn kommt. Seinem Schöpfer Kafka aber durchaus, wie er dem Leser über den Kopf der Figur hinweg mit dem Wörtchen «scheinbar» andeuten will.
Sobald es Wörter gibt, die sich zusammenschließen, gibt es Sätze und grammatische Beziehungen. Hier gelten Regeln, gegen die gerne verstoßen wird, von den wenigsten Autoren wissentlich. Die guten grammatischen Beziehungen sind die monogamen: Der Leser weiß Bescheid, wer mit wem verkuppelt ist. Bei den anderen Beziehungen entsteht Vieldeutigkeit. «Wir brachten die Wurst der Tante, die wir sotten und danach tranchierten.» Warum ist das falsch? Weil der Satz, wenn er in einem Splatter-Roman oder einem Drehbuch der Coen-Brüder auftauchte, etwas anderes bedeuten könnte als hier unschuldig gemeint. Sprache will, auf dieser einfachen grammatischen Ebene, eindeutig sein, was nicht ausschließt, daß sie auf höherer Ebene gerne vieldeutig schimmert und gerade aus Doppeldeutigkeiten ihren Reiz gewinnt.
Es gibt Fehler, die leicht zu vermeiden sind – und es gibt die anderen. Von allen Fehlern der verführerischste und heimtückischste, der Gollum unter den Grammatikfehlern, ist das falsch gebrauchte «um zu».
Das «um zu» ist ein Pfeil, der vom Subjekt des Satzes abgeschossen wird und von niemand anderem. Pfeile durch den Rücken ins Auge gelten nicht. «Die Mutter schickt die Kinder in den Wald, um Pilze zu sammeln»: falsch. «Die Mutter schickt die Kinder in den Wald, um zu Hause heimlich ihren Liebhaber zu empfangen»: richtig. Das mit «um zu» auf den Weg geschickte Satzglied bezieht sich zwingend auf das Subjekt des Hauptsatzes. «Das Dach aus Teer ist im Sommer zu heiß, um darauf barfuß zu gehen»: strenggenommen leider falsch. «Das Dach aus Teer ist zu stabil, um einzubrechen»: hoffentlich zutreffend und grammatisch jedenfalls völlig richtig.
Ja, wie soll man denn aber um Himmels willen sonst sagen? Man versteht doch genau, was gemeint ist! Ja, und trotzdem muß es leider heißen: Das Dach ist zu heiß, als daß man barfuß darauf gehen könnte. Und die Mutter schickt die Kinder in den Wald, damit sie dort Pfifferlinge pflücken; «auf daß» wäre korrekt, aber zu gravitätisch.
Geradezu vorbildlich falsch macht es Clemens J. Setz in ausgerechnet dem Satz, der seinem Erzählungsband Der Trost runder Dinge den Titel stiftet: «der allgemeine Trost runder Dinge ist etwas, für das die Dauer eines normalen Menschenlebens glücklicherweise nicht ausreicht, um dagegen immun zu werden.» Und nein, gerade so geht es überhaupt nicht. Denn es ist die Dauer eines Menschenlebens, die hier den Pfeil des «um zu» abschießt. Wie könnte es denn sonst heißen? Zum Beispiel: «Der Trost runder Dinge ist etwas, gegen das immun zu werden die Dauer eines normalen Menschenlebens glücklicherweise nicht ausreicht» – immer noch nicht gut, dafür wenigstens halbwegs korrekt.
Es gibt andere Fehler, von denen umstritten ist, ob es überhaupt welche sind, etwa Dativ oder Genitiv nach «trotz» oder «brauchen» mit oder ohne «zu». Für Fragen des Stils sind sie nicht entscheidend. Fehler ruinieren keinen Stil, und Fehlerfreiheit garantiert nicht Stil. Wenn es bei der Stilistin Brigitte Kronauer heißt: «Mir, die man ins Bett gesperrt hatte, entgeht kein Wort», dann ist es zwar ein falscher Doppelanschluß, ein Kuddelmuddel von Dativ und Akkusativ. «Mir, die man mich ins Bett gesperrt hatte», wäre vielleicht richtiger, aber wen kümmert’s? Wenn es bei Robert Walser heißt, das Mädchen schien sich nicht über die Ungerechtigkeit zu grämen, «die ihr widerfuhr», dann siegt wie so oft das natürliche über das grammatische Geschlecht, und ist es schlimm? Das sind keine Stilfehler, das sind bloße unbedeutende Laxheiten. Überhaupt sind Fehler nicht schlimm. Phrasen sind schlimm.
Nur dem Gollum, wenn man ihn einmal erkannt hat, gehe man bitte aus dem Weg. Nie wieder ein falsches «um zu» – Deal?!