In Berlin Alexanderplatz, dem Roman, der ihm den Durchbruch brachte, führt Alfred Döblin den Leser auf den Viehmarkt und in die Schlachthalle. Man merkt, er hat sie selbst besucht und dabei riskiert, die Bügelfalten zu ruinieren, die er zum Stilmerkmal seines Haßobjekts Thomas Mann erklärte. Falls die Leser noch nicht gefrühstückt haben, mögen sie die folgende halbe Seite überblättern.
Auf den Viehstraßen bläst der Wind, es regnet. Rinder blöken, Männer treiben eine große brüllende, behörnte Herde. Die Tiere sperren sich, sie bleiben stehen, sie rennen falsch, die Treiber laufen um sie mit Stöcken. Ein Bulle bespringt noch mitten im Haufen eine Kuh, die Kuh läuft rechts und links ab, der Bulle ist hinter ihr her, er steigt mächtig immer von neuem an ihr hoch.
Es hilft nichts, die Rinder werden von den Treibern durch das Tor in die blutige Halle getrieben. Ein großer weißer Stier wird dort vom Schlächter mit dem Hammer gefällt.
Die Muskelkraft eines starken Mannes wie ein Keil eisern in das Genick. […] Und dann, als wenn es ohne Beine wäre, dumpft das Tier, der schwere Leib, auf den Boden, auf die starr angekrampften Beine, liegt einen Augenblick so und kippt auf die Seite.
Ein anderer Mann nimmt seine Zigarre aus dem Mund, schnäuzt sich, zieht sein Messer ab, «es ist lang wie ein halber Degen, und kniet hinter dem Kopf des Tieres, dessen Beine schon der Krampf verlassen hat». Der Schlächter ruft nach der Schale für das Blut.
Das Blut kreist noch darin, ruhig, wenig erregt unter den Stößen eines mächtigen Herzens. Das Rückenmark ist zwar zerquetscht, aber das Blut fließt noch ruhig durch die Adern, die Lungen atmen, die Därme bewegen sich. Jetzt wird das Messer angesetzt werden, und das Blut wird herausstürzen, ich kann es mir schon denken, armdick im Strahl, schwarzes, schönes, jubelndes Blut. Dann wird der ganze lustige Festjubel das Haus verlassen, die Gäste tanzen hinaus, ein Tumult, und weg die fröhlichen Weiden, der warme Stall, das duftende Futter, alles weg, fortgeblasen, ein leeres Loch, Finsternis, jetzt kommt ein neues […]
Das letzte Substantiv haben wir unterdrückt. – Eine starke Passage. Der Autor fühlt sich in den sterbenden Stier ein, und es stimmt, das hätte Thomas Mann nicht gekonnt oder vielleicht auch nicht gewollt. Oder etwa doch?
In einer berühmten Szene seines letzten Romans läßt auch Thomas Mann einen Stier krepieren. Felix Krull besucht in Lissabon mit Professor Kuckuck und dessen Gattin und Tochter die Arena, in der eine ausgelassene Volksmenge dem «festlichen Blutspiel» beiwohnt, wie er es nennt, dem traditionellen Stierkampf. Thomas Mann setzt schwere mythische Akzente bei diesem Romanhöhepunkt. Das Tieropfer erinnert Professor Kuckuck an den römischen Mithraskult, der um ein Haar dem Christentum den Rang abgelaufen hätte. Anders als bei Döblin ist der Akt der Schlachtung bei Thomas Mann sakral unterlegt. Zugleich ist er erotisch aufgeladen, weil er Maria Pia, die Gattin Professor Kuckucks, immer stärker erregt. Felix Krull kommt nicht umhin zu bemerken, daß ihr Busen immer heftiger wogt. Er schenkt diesem Busen bald mehr Blicke als der Arena. Doch dann beginnt es, das antike Schauspiel. Auf dem Sandplatz bricht aus einem kleinen Tor plötzlich
etwas Elementares hervor, rennend, der Stier, schwarz, schwer, mächtig, eine augenscheinlich unwiderstehliche Ansammlung zeugender und mordender Kraft, in der frühe, alte Völker gewiß ein Gott-Tier, den Tiergott gesehen hätten, mit kleinen drohend rollenden Augen und Hörnern, geschwungen wie Trinkhörner, die aber, an seiner breiten Stirn ausladend befestigt, auf ihren aufwärtsgebogenen Spitzen offenkundig den Tod trugen.
Bei Döblin bespringt der zur Schlachtung getriebene Bulle noch eine Kuh. Auch Thomas Mann entgeht die mit dem Stier verbundene Potenz-Assoziation nicht, so wenig wie sie der erhitzten Maria Pia entgeht. Die zeugende Kraft ist bei Mann freilich nie allein zu haben, das Unwiderstehliche ist die «Ansammlung zeugender und mordender Kraft». Sexus und Tod lagern bei Thomas Mann schon immer eng umschlungen. Durch den Vergleich mit den Trinkhörnern erinnert er beiläufig an den nicht genannten Gott Dionysos.
Und so wird der Tiergott geopfert: Der Stierkämpfer Ribeiro
griff im genauesten Augenblick den Degen vom Boden auf und stieß dem Tiere blitzschnell den schmalen und blanken Stahl bis halb zum Heft in den Nacken. Es sackte zusammen, wälzte sich massig, bohrte einen Augenblick die Hörner in den Grund, als gälte es das rote Tuch, legte sich dann auf die Seite, und seine Augen verglasten. Es war in der Tat die eleganteste Art der Schlachtung.
Eleganter und abgefeimter als bei Döblin, der gewiß moniert hätte, daß dem Ribeiro wieder kaum eine Bügelfalte verrutscht sei. Doch auch Thomas Mann kann es derber. Der nächste Stier wird weniger elegant geschlachtet. Die Klinge trifft ihn so mangelhaft, daß er nur einen Blutsturz bekommt, aber nicht fällt. «Wie einer, der sich erbricht, stand er, die Beine vorgestemmt, mit gestrecktem Halse und spie eine dicke Welle Bluts in den Sand – unerfreulich zu sehen.»
Unerfreulich zu sehen, aber stilistisch dann doch auf der Höhe Döblins.
Und wie schloß dessen Schlachtungsszene nun? Mit welchem Substantiv läßt Döblin den Satz und das Leben des Stiers enden? Der warme Stall, das duftende Futter, «alles weg, fortgeblasen, ein leeres Loch, Finsternis, jetzt kommt ein neues Weltbild».
Ein neues Weltbild also. Wie um Himmels willen soll der Stier ein Weltbild haben? Hat der Stier studiert? Gab es ein noch blasseres Wort fürs finale Ersterben nach all dem Blutdunst? Es mag zu Franz Biberkopfs Zeiten weniger abgegriffen gewesen sein, dennoch schwächt es die Passage zum Finale und zieht sie, auch rhythmisch, herab.
Leicht fragwürdig waren davor schon die allzu erwartbaren Adjektive, die fröhlichen Weiden, der warme Stall, das duftende Futter – wir werden uns diesen Beiwörtern gleich widmen. Stark dagegen ein Verb: Als es von dem Keil im Genick gefällt wird, dumpft das Tier zu Boden. Sage der Duden, was er will, das ist schon lautmalerisch gut gefunden. Man hört das dumpfe Aufprallen des betäubten Tiers auf dem Boden der Schlachthalle.