Das Verb – aber die Stilisten wußten es immer – wird leicht unterschätzt. Das Verb ist das Mitochondrion des Satzes, sein kleines pulsierendes Kraftzentrum. Das gut gefundene Verb macht den Satz oder kann ihn machen. Dabei gilt hier Valérys Regel am eindeutigsten: Entre deux mots, il faut choisir le moindre. Der schlechte Stilist will mit seinem Verb Effekt machen. Dem guten unterläuft das farbige Verb gleichsam natürlich und wie nebenbei. Wenn Heimito von Doderer den Mai in Wien beschreibt: «Der Frühling begann rasch anzusteigen, flegelte sich überall dazwischen mit seinem verwirrendem Lichtprunk» – was wäre der Witz des Satzes ohne das Wort «flegeln»? Warum wurde der folgende Satz aus Tucholskys Schloß Gripsholm so berühmt: «Wir lagen auf der Wiese und baumelten mit der Seele»? Ohne das Baumeln, in der Verbindung mit dem Abstraktum, kennte ihn keiner.
Im folgenden Satz sind es ausschließlich die Verben, mit denen Kafka sich herausredet. Von Felice Bauer vorsichtig nach seinen Plänen für die Zukunft befragt, antwortet ihr Verlobter: «Ich habe natürlich gar keine Pläne, gar keine Aussichten, in die Zukunft gehen kann ich nicht, in die Zukunft stürzen, in die Zukunft mich wälzen, in die Zukunft stolpern, das kann ich und am besten kann ich liegen bleiben.»
Abweichend von der Regel Valérys kann es auch einmal ein ungewöhnliches, neu erfundenes Verb sein, das eine Satzfolge zum Strahlen bringt. Ein Beispiel wäre Elke Erbs Gedicht Das mit dem Baum. Eine offenbar alte und kranke Frau denkt an gefällte, entastete Bäume, «grau und kahl», mit denen sie sich vergleicht.
Da liegt er. Seit dem Sommer.
Im Dorf sehe ich mehrere solche
Sie werden mich übersterben.
Meine Handflächen meinen: Schade um sie.
Die Bäume werden sie nicht überleben, sondern übersterben. Das auf den Kopf gestellte Verb ist die Pointe des Gedichts, ja des ganzen Bands, den es elegisch beschließt.
Außer den farbigen gibt es nun auch die weißen Verben, wie Durs Grünbein sie nennt, der ihnen ein vierstrophiges Gedicht widmet. Zählte «übersterben» zu den weißen Verben?
Die weißen Verben sind alle unsichtbar
Sie kreisen um Tätigkeiten, die man nicht lernt.
Sie heißen verschwinden, verlöschen, verenden
Und führen in menschenleeres Gebiet.
Unmerklich schleichen sie durch den Raum.
Und die letzte Strophe:
Die weißen Verben machen kaum von sich reden.
Sie arbeiten gründlich, auf sie ist Verlaß.
Es gibt sie, wie es die Liebe gibt.
Sie operieren verdeckt
Und rücken still im Schutz der Hauptwörter vor.
Sie zielen auf Horizonte, die nichts erreicht.
Ganz selten einmal wagen die Verben sich aus dem Schutz der Hauptwörter hervor und bilden eine eigene Kolonne. Drei Beispiele: In Rudolf Borchardts Jugenderinnerungen genießt das achtjährige Kind wie elektrisiert die plötzliche Einsamkeit: «Alles in mir war in eine Tätigkeit besonderer Art versetzt, spann, verband, verwandelte, schaltete aus, belebte, übersah.» Ein anderes Beispiel aus Ernst Blochs Geist der Utopie: «Wir ruhen um uns, rufen, schaffen, beschleunigen, beten, befehlen, eingedenken, legen die Antwort so nahe als möglich, die Krusten um uns herum aufzulockern und die Masken an uns abzuwerfen.» Und ein letztes Beispiel aus der Feder Rahel Varnhagens, eine Klage über ihren allzu großen Scharfblick:
Drum bleibt mir schweigen, schonen, ärgern, meiden, betrachten, zerstreuen, gebrauchen, ungeschickt wütig sein, und nach obenein mich mit größter Geläufigkeit tadeln zu lassen, von ordentlichen Tieren!
In der Regel aber hält und halte das Verb sich bedeckt. Spielen kann man auch mit den schlichtesten. Noch das einfachste Verb hat die proteische Eigenschaft, sich mit den Modi und Tempi zu verändern. Besonders das stark gebeugte Verb lädt zu musikalischen Variationen ein. Gehen, ging, gegangen – guter Titel; müßte man mal probieren. «Der flieget nie, der heut nicht flog» – der Chor der Hexen in Goethes Walpurgisnacht. Auch der Wechsel von Indikativ zu Konjunktiv erlaubt diese reizvolle Modulation. «Ihre Augen waren von strahlendem, phantastischem Blau, als spiegelten ganze Himmelsräume sich in ihnen, und immer auf mich gerichtet, ohne daß die Wimpern geschlagen hätten», heißt es in Lernet-Holenias Der Baron Bagge, und nun der Wechsel von a zum final gesetzten ü: «etwa wie Augen von Göttinnen, von denen man sagt, daß ihre Wimpern nicht schlügen».
Der schwere Konjunktiv kann zu schwer sein, er kann aber auch eine Zeile unsterblich machen. Das ist der Fall in Heines Gedicht Mein Herz, mein Herz ist traurig aus dem Liederbuch von 1827. Das lyrische Ich schildert seinen Blick von der alten Bastei auf eine idyllische Landschaft. Sein Herz ist traurig, doch lustig leuchtet der Mai. Ein Knabe fährt im Kahne und angelt und pfeift dazu.
Die Mägde bleichen Wäsche,
Und springen im Gras’ herum;
Das Mühlrad stäubt Diamanten,
Ich höre sein fernes Gesumm’.
Am alten grauen Thurme
Ein Schilderhäuschen steht;
Ein rothgeröckter Bursche
Dort auf und nieder geht.
Er spielt mit seiner Flinte,
Die funkelt im Sonnenroth,
Er präsentirt und schultert –
Ich wollt’, er schösse mich todt.
Auf das starke schösse zielt das ganze Gedicht, das den Leser fünf Strophen lang in Unschuld wiegt. Das Schlußverb erst macht es unvergeßlich. Und selbst sein Verächter Karl Kraus hätte anerkennen müssen, wie zärtlich Heine hier das stumme «h» hegt.
Was das Gedicht aber ebenfalls zeigt: Es müssen alle Wörter zusammenspielen, auch das Adjektiv des «rothgeröckten» Burschen, auch das Substantiv der «Diamanten», die das Mühlrad stäubt, dessen «Gesumm’» man in der Ferne vernimmt. Stilistisch am heikelsten ist dabei das Adjektiv, das Adverb, das nicht zwingend notwendige Beiwort. Es ist der Diamant der Prosa und verlangt ein eigenes Kapitelchen.