Wir sind ein paar Stufen hochgestiegen, die Wortarten haben wir halbwegs überblickt. Wenden wir uns den Sätzen zu, aus denen sich diese Wörter zusammenfügen. Es gibt hier grundsätzlich zwei unterschiedliche Typen.
Man kann einfache und kurze Sätze schreiben.
Man kann auch einfache und lange Sätze schreiben, bei denen folgt der eine Satzteil auf den nächsten, und dem folgt noch ein weiterer, und so kann die Satz-Lokomotive mit ihren vielen kleinen Waggons lange und gemächlich über die Gleise vor sich hin tuckern, die Masten wandern vorbei, ein Rauchwölkchen zieht vorm Fenster entlang, auf den Weiden grasen die Kühe, am Horizont erhebt sich ein Bergmassiv, auf dem Gipfel leuchtet ein Zipfelchen Schnee, der Schnee liegt schon im Abendrot der untergehenden Sonne, und so kann es ewig weitergehen.
Und dann kann man, gerade im Deutschen, das sich durch hohe Beweglichkeit in der Satzgliedstellung auszeichnet, woraus sich andere Gepflogenheiten der Syntax ergeben, als sie etwa das Französische und Englische mit ihren häufigeren Partizip-Konstruktionen bieten – weshalb besonders die Engländer, aber auch Mark Twain so oft am Deutsch verzweifelten, vor allem an der finiten Stellung des Verbs –, ebenso Sätze schreiben, in denen sich ein Haupt- oder Matrixsatz zwar durchzieht wie ein kaum sichtbarer langer Strang, um den sich aber Tentakeln von Nebensätzen winden, die sich ihrerseits verästeln und verzweigen können, so daß der Hauptstrang gleichsam überwuchert wird und der Verfasser, er mag das Geflecht so gewissenhaft zupfen und zurechtlegen, wie er will, darauf zu achten hat, daß des Lesers Geduld, die trainierter sein muß als bei dem Passagier jener Satz-Lokomotive, der viel Zeit hat, sein Butterbrot auszupacken und einen Apfel zu schälen, dessen rotes Bäckchen das Abendrot zu reflektieren scheint, sich nicht dennoch vor dem endlichen point final erschöpft.
Man nennt es Parataxe und Hypotaxe. Welche ziehen wir vor?
Wahrnehmungspsychologisch oder selbst neurologisch betrachtet, verarbeitet man lieber kurze Einheiten als lange. Man hat lieber klare Bezüge als komplizierte. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite kann man auch ungeduldig werden über zuviel Redundanz, dann schwingt das Pendel in die andere Richtung, das Unbekannte lockt, die vertraute Sicherheit wird langweilig, und die ewigen Bernhardschen oder Brucknerschen Wiederholungen gehen uns auf den Geist. Zwischen diesen Polen bewegt sich der Stil.
Das folgende Beispiel ist der letzte Satz aus Elias Canettis Augenspiel, hier schreibt er mit allem ihm zur Verfügung stehenden Pathos, das ist sein letztes Wort, es wird keine weiteren Werke seiner Autobiographie geben, es ist sein Abschied von der Mutter, nichts wird diesen Schlußsatz mehr übertreffen, er hat sich damit ausgeschrieben, nur Notizen werden noch folgen … Lesen wir also diesen Schlußsatz.
Es hört sich an, als ob er leise zu ihr singen würde, nicht von sich, keine Klage, nur von ihr, nur sie hat gelitten, nur sie darf klagen, er aber tröstet sie und beschwört sie und verspricht ihr immer wieder, daß sie da ist, sie allein, mit ihm allein, niemand sonst, jeder stört sie, darum will er, daß ich ihn mit ihr allein lasse, zwei oder drei Tage, und obwohl sie begraben ist, liegt sie da, wo sie krank immer war und in Worten holt er sie und sie kann ihn nicht verlassen.
Ist es ergreifend? Ja, vielleicht. Aber die Parataxe, nervt sie nicht doch?
Oft ist der rhetorische Kurzsatzstil manierierter, als es weitschweifige Satzbögen sind. Was dahintersteht, ist der trotzige Anspruch der Arte povera. Klar könnten wir auch elegant sein, wenn wir wollten, aber wir wollen es nicht! Wir lehnen es ab, wir machen auch noch aus Holz, Bindfaden und Pappmaché Kunst, wir kommen auch mit kurzen Sätzen klar, atemlos, wie wir aus Empörung sind! Uns egal, ob ihr das schön findet, es soll auch nicht schön sein, bei uns gibt es auch Kotwurstkünstler – siehe Streeruwitz, Kreuzungen –, findet ihr die etwa schön? Eben, und das sollt ihr auch nicht.
«Er war jung gewesen. Mit ihr war er jung gewesen. Sie war die Zeugin seiner Jugend. Dass seine Brüste nicht so schlaff waren. Dass sein Körper. Einmal. Kegel. Er hatte von sich das Bild von Kegel. Ineinandergreifende Kegel. Zu gehen.»
Mit Kind und Kegel fliehen zu wollen vor solcher Prosa ist das eine; ihr Stil abzusprechen das andere. Daß Kurzsatz-Perioden nicht pseudonaiv oder bockig sein müssen, zeigt sich in der folgenden Passage aus Joseph Roths Radetzkymarsch. Es findet sich kein einziger Relativsatz in ihr. Sie ist ein Beispiel für ruhig fließende Parataxe, ein Beispiel auch für gelungene, rhythmisierte Wiederholung. Inhaltlich befinden wir uns auf dem Höhepunkt des Romans: Herr von Trotta nimmt Abschied von seinem Kaiser, von der Welt von Gestern; er nimmt Abschied von der Habsburgermonarchie.
Die Bäume im Schönbrunner Park rauschten und raschelten, der Regen peitschte sie, sacht, geduldig, ausgiebig. Der Abend kam. Neugierige kamen. Der Park füllte sich. Der Regen hörte nicht auf. Die Wartenden lösten sich ab, sie gingen, sie kamen. Herr von Trotta blieb. Die Nacht brach ein, die Stufen waren leer, die Leute gingen schlafen. Herr von Trotta drückte sich gegen das Tor. Er hörte Wagen vorbeifahren, manchmal klinkte jemand über seinem Kopf ein Fenster auf. Stimmen riefen. Man öffnete das Tor, man schloß es wieder. Man sah ihn nicht. Der Regen rieselte, unermüdlich, sacht, die Bäume raschelten und rauschten.
Die Bäume rauschten und raschelten; sie raschelten und rauschten. Große Prosa, oder nicht? Stefan Zweig, Roths Freund und Förderer, hätte immer ein paar Lampions in den Park gehängt.
Ein Fest, ja eine Orgie der Hypotaxe zelebriert der Briefwechsel zwischen Franz Overbeck und Erwin Rohde. Rohde als klassischer Philologe, Overbeck als kritischer Theologe, beides Nietzsche-Freunde und Verehrer Schopenhauers, liebten ihren Satzbau komplex. In seinem Vorstellungsbrief an Herrn Professor Overbeck vom September 1873 dankt Rohde für die Zusendung von dessen theologischer Streitschrift und erklärt, warum er lebhafteste Sympathie für sie empfinde. Der Adressat des Briefes dürfte den Inhalt des folgenden Satzes verstanden haben (falls er ihn entziffern konnte, Rohdes Handschrift war notorisch unlesbar); der heutige Leser hat selbst mit der Druckfassung leichte Schwierigkeiten.
Wo bliebe denn eigentlich zuletzt ein wirklicher Inhalt, im Alles nach sich bestimmenden Lebensprinzip, wenn nicht nur unsern übrigen, von Nietzsche so drastisch gezeichneten «Bildungsphilistern» erlaubt sein soll, alles Edelste, das Leben bildende und sich nachziehende, in eine kühle «objective» Ferne zu rücken, wo man denn von seiner Existenz wissen kann und dabei doch ruhig und in seinem eignen Lebensgefühl unberührt auf seinem Canapee sitzen bleiben kann, – wenn nun auch das Christenthum von denjenigen, die es ganz wegzuwerfen den Muth nicht haben in eine solche Distance der «wissenschaftlichen» Betrachtung gerückt wird, ohne daß sein eigentlicher Lebensgehalt – den von einem Theologen so entschieden als einen asketischen bezeichnet zu sehen, wie ich ihn aus Schopenhauer kannte, mich sehr erfreut hat – auf die Gesinnung der Betrachtenden irgend einen Einfluß zu gewinnen brauchte.
Hier verzweifelt wohl nicht nur der Engländer; dabei wird der Satz beim dritten Mal lesen ganz klar. Na gut, beim vierten Mal. Auf einer gedachten Skala von simpler Parataxe zu kaum noch verständlicher Hypotaxe stünden Rohde und Overbeck, in der Gesellschaft von Rudolf Borchardt, am rechten Ende. Am linken Ende dieser Skala ständen die Sprache der Kleinkinder und der Stummelsatz-Stil der Marlene Stree.ru.witz.
Letzterer, Rudolf Borchardt, hätte sich als Stilist auch dann einen Namen gemacht, wenn es keine Zeile mehr von ihm gäbe als die folgende lange Periode und Feier des Frühlings, in der Borchardt das Kommunikationsnetz der Pflanzen erklärt. Der Satz ist aus seinem Buch Der leidenschaftliche Gärtner und erweist Borchardt als leidenschaftlichen Hypotaktiker.
Daß die Farben der Korolle, mit augenartig und mienenartig ausgehängten Lockzeichen, daß die Gesten der Werbungsorgane rings um den stillen Sitz der Braut, daß der zarte und der gewaltige Duft, die mächtig aus dem Laube ragende Tracht, und das verstecke Äugeln aus dem wirren Grün, unzählige Mittel sind, dem wurzelgebundenen Geschöpfe ein weitgespanntes Gebiet der Kräftestrahlung, statt der ihm versagten Fortbewegung, zu schaffen und alles in diesem Gebiete Einkehrende sich als Gast zu unterwerfen, – das weiß der Mensch, der einer dieser Gäste nicht minder ist, als Biene, Käfer und Vogel; denn diese Ladung, eine mit der neuen Jahrzeit ausbrechende Urgewalt der sich erneuernden Schöpfung, verwandelt die Welt, zu der auch er als Kreatur gehört, unwiderstehlich und hüllt sie in einen göttlichen Mantel der Erregung und Erwartung.
Schreib’s einer nach! Ein ähnlich gewaltiger Hypotaktiker wie Borchardt war Heinrich von Kleist. Er stünde auf gedachter Skala neben Overbeck und Rohde, anders als diese dabei jedoch rhythmisch hochkontrolliert.
Seine so berühmte wie, wenn man ehrlich ist, zwischendurch fast unlesbare Novelle Michael Kohlhaas zeigt Kleist in all seiner kalt-fiebrigen, keine Rast duldenden Vehemenz: Er selbst ist der Kohlhaas des Stils, er kommt nicht zur Ruhe, er wütet immer weiter voran in gestrecktem Dauergalopp; der Leser, der ihm in der ersten Etappe noch folgt, ringt in der zweiten nach Atem und droht ermattet zurückzufallen. Genie? Kaum ein größeres hat seine Zeit gesehen; kein größeres Stück als Amphitryon und Der zerbrochne Krug. Kleists Prosa hat von diesem dramatischen Geist profitiert, wenn er sie zu zügeln weiß; im Kohlhaas kennt sie zwischendurch kein Halten mehr und geht mit ihm durch.
Das dramatisch Federnde und Bewegte – wenn man von Prosa sagen kann, sie sei federnd, dann von der Prosa Kleists – nimmt uns zu Anfang noch ein:
Kohlhaas, über eine so unverschämte Forderung betreten, sagte dem Junker, der sich die Wamsschöße frierend vor den Leib hielt, daß er die Rappen ja verkaufen wolle, doch dieser, da in demselben Augenblick ein Windstoß eine ganze Last von Regen und Hagel durchs Tor jagte, rief, um der Sache ein Ende zu machen: wenn er die Pferde nicht loslassen will, so schmeißt ihn wieder über den Schlagbaum zurück; und ging ab.
Der dramatische Gestus zeigt sich schon am letzten Halbsatz: «und ging ab»; eine szenische Anweisung. Ebenfalls im dramatischen Geist die syntaktisch gleichwohl verwickelte Antwort des von der Tronkenburg gejagten und verprügelten Knechts auf Kohlhaas’ Vorhaltungen.
Der Knecht, auf dessen blassem Gesicht sich, bei diesen Worten, eine Röte fleckig zeigte, schwieg eine Weile; und: da habt Ihr recht, Herr! antwortete er; denn einen Schwefelfaden, den ich durch Gottes Fügung bei mir trug, um das Raubnest, aus dem ich verjagt worden war, in Brand zu stecken, warf ich, als ich ein Kind darin jammern hörte, in das Elbwasser, und dachte: mag es Gottes Blitz einäschern; ich wills nicht!
Diese Hemmungen wird der Knecht kurz darauf verlieren, durch die unbändige Wut des Herrn Kohlhaas angestachelt.
Was, grammatisch gesehen, die Wut der angelsächsischen und französischen Leser anstacheln muß, ist die furchtbare Angewohnheit des Deutschen, das Verb sich bis zum Schluß aufzusparen (nur der Österreicher zieht es gern einmal liberal vor). Aber Kleists Verhältnis zu Frankreich war ohnehin gespannt. Da macht er sich aus dieser finiten Verbstellung ein besonderes Plaisir. Im folgenden Beispiel hieße der eigentliche Hauptsatz (es geht um die Verschickung eines Sendschreibens): «Dabei wurden einige Fragmente angehängt.»
Bei Kleist lautet der Satz so:
Dabei wurden einige Fragmente der Kriminalverhandlung, die der Roßhändler auf dem Schlosse zu Lützen, in Bezug auf die oben erwähnten Schändlichkeiten, über ihn hatte anstellen lassen, zur Belehrung des Volks über diesen nichtsnutzigen, schon damals dem Galgen bestimmten, und, wie schon erwähnt, nur durch das Patent das der Kurfürst erließ, geretteten Kerl, angehängt.
Mark Twain – wir sehen dich deine Fäuste schütteln!
Im Mittelteil der Novelle geht es um das juristische Schicksal des Michael Kohlhaas, um das unerhört komplizierte, den Kopf verwirrende Hin und Her zwischen den kurfürstlichen Landesherren, zwischen Sachsen, Brandenburg und am Ende Wien, und hier nun, könnte man zur Rechtfertigung der immer kürzere Satzglieder immer aufwendiger verschachtelnden Kleistschen Hypotaxe anführen, hier nun bildet diese Hypotaxe sowohl die Kleinstaaterei als auch die juristische Kompliziertheit gewissermaßen spiegelbildlich ab. Das wäre als ästhetisches Argument auch gar nicht von der Hand zu weisen. Lesbarer wird dieser Mittelteil darum aber noch lange nicht. Erst zum Schluß, sobald eine geheimnisvolle Wahrsagerin mit einer dem Kohlhaas anvertrauten und vom Kurfürsten bitter begehrten schriftlichen Prophezeiung ins Spiel kommt – dem MacGuffin, wie man mit Hitchcock sagen würde –, gewinnt wieder der Dramatiker in Kleist die Überhand.
Und wie schön dann, wenn sich der motus animi continuus, den Thomas Mann im Tod in Venedig anführt, in Kleists Prosa so weit beruhigt, daß auch einmal ein einfacher Satz dabei herauskommen kann. So einer wie zum Schluß des klassischen Denkstücks Über das Marionettentheater, in dem der Ich-Erzähler von einem Tänzer über die Marionetten, die Grazie und die Vertreibung aus dem Paradies belehrt wird und zur Conclusio kommt:
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?
Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
Wo stünden die Brüder Heinrich und Thomas auf unserer gedachten Skala? Thomas Mann hat die Syntax hauptsächlich von Nietzsche gelernt, der sie wiederum von Schopenhauer hat. Der Satz darf den Gedanken- und Redefluß nachbilden, mit kleinen Stauungen und Schnellen und Mäandern und Kaskaden. Und ab und zu einem Wasserfall.
Heinrich Manns größter Roman Henri Quatre beginnt mit einem Kindheitsidyll. Es überwiegt die Parataxe.
Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer. Von einem der schmalen Wege zum andern kletterte er durch eine Wildnis von Farren, die besonnt dufteten oder im Schatten ihn abkühlten, wenn er sich hineinlegte. Der Fels sprang vor, und jenseits toste der Wasserfall, er stürzte herab aus Himmelshöhe. Die ganz bewaldeten Berge mit den Augen messen, scharfe Augen, sie fanden auf einem weit entfernten Stein zwischen den Bäumen die kleine graue Gemse! Den Blick verlieren in die Tiefe des blau schwebenden Himmels! Hinaufrufen mit heller Stimme aus Lebenslust! Laufen, auf bloßen Füßen immer in Bewegung! Atmen, den Körper baden innen und außen mit warmer, leichter Luft! Dies waren die ersten Mühen und Freuden des Knaben, er hieß Henri.
Alle mit einem Ausrufungszeichen abgeschlossenen Sätze sind aus der Perspektive des Kindes erzählt. Anfang und Schluß sind auktorial. Relativsätze sind selten, Heinrich Mann stellt gern Hauptsätze nebeneinander, am liebsten drei, und verbindet sie durch ein Komma. Selbst wenn der Relativanschluß sich fast zwingend anbietet, vermeidet er ihn. Im Roman Empfang bei der Welt heißt es nicht: «Eine Stimme, der keine andere gleicht», sondern: «Eine Stimme, keine andere gleicht ihr!» Selbst beim schönen Henri-Quatre-Anfang spürt man seine Anfälligkeit für Manierismen, der er später, und gar in schwächeren Werken, wehrlos unterliegt.
«Wie kam er grade auf das Wort? Karl, es hören, und er verlor den Dolch, der fiel und fortsprang.»
Dies eine der typischsten Heinrich-Marotten, stark an der Grenze zur keineswegs freiwilligen Komik. Solche Sätze? Wir, sie lesen, und müssen schmunzeln. Immer recht lebendig haben will es Heinrich, da läßt er jede Mine springen. Das Mittel der Exklamation, das schon der Knabe Henri zu nutzen weiß, verwendet er anderswo ohne jede Hemmung. In dem 1925 veröffentlichten Roman Der Kopf, Abschluß der sogenannten Kaiserreich-Trilogie, lesen wir:
Die Frau, die er liebte, um derentwillen er floh, alles abbrach, alles wagte! Kommt sie schon? Die verabredete Stunde! Aber daß sie nur jetzt mich nicht ertappt! Jetzt, da ich die Beute meiner Zweifel bin. Erhabenheit des unbeugsamen Geistes, Empörung noch unerbittlicher Moral – sollten sie nichts weiter gewesen sein als Fallstricke der Sinne? Flucht! Aufruhr! – aber wann, in welchem Zeitpunkt?
In welchem Zeitpunkt das umschlägt in leise delirierenden Kitsch, bliebe zu untersuchen. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß Parataktiker immer leichter zu lesen sind. Heinrich Mann macht sich geradezu einen Spaß daraus, die Sätze so zu bauen, daß sie zwar gerade eben noch den syntaktischen Regeln gehorchen, daß es aber ordentlich quietscht, weil er jedes einzelne Wort in die möglichst untypische Ecke stellt. Das liest sich dann manchmal wie von Google übersetzt. Um noch einmal den in den Fallstricken der Sinne sich verheddernden Helden des Kopf zu zitieren, der die Frau, die er liebte, auf dem Bahnhof sucht: «Der Zug – da bin ich! Aufgerissen die Türen, sie saß hinter keiner.» – Nie ward Neumann fettere Beute.
Auf dem Felde der Syntax treten die feindlichen Brüder mit ungleichen Waffen gegeneinander an: Krummschwert gegen Florett, Hauptsatzreihung gegen Schachtelsatz. Thomas Manns größter Roman, nach Auffassung vieler Verehrer (nicht nach unserer), beginnt in einer Stillage, die nicht schärfer mit der des Bruders kontrastieren könnte.
Mit aller Bestimmtheit will ich versichern, daß es keineswegs aus dem Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen über das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser ersten und gewiß sehr vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke. Einzig die Annahme bestimmt mich dazu, daß der Leser – ich sage besser: der zukünftige Leser; denn für den Augenblick besteht ja noch nicht die geringste Aussicht, daß meine Schrift das Licht der Öffentlichkeit erblicken könnte, – es sei denn, daß sie durch ein Wunder unsere umdrohte Festung Europas zu verlassen und denen draußen einen Hauch von den Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; – ich bitte wieder ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, daß man wünschen wird, über das Wer und Wie des Schreibenden beiläufig unterrichtet zu sein, schicke ich diesen Eröffnungen einige wenige Notizen über mein eigenes Individuum voraus, – nicht ohne die Gewärtigung freilich, gerade dadurch dem Leser Zweifel zu erwecken, ob er sich auch in den richtigen Händen befindet, will sagen: ob ich meiner ganzen Existenz nach der rechte Mann für eine Aufgabe bin, zu der vielleicht das Herz mehr als irgendwelche berechtigende Wesensverwandtschaft mich zieht.
Die Angewohnheit des Mitten-im-Satz-wieder-neu-Anhebens hat Thomas Mann von Nietzsche übernommen, einem der Vorbilder für Adrian Leverkühn. Natürlich ist das Figurensprache und schon persifliert. Thomas Mann will seinen Erzähler Serenus Zeitblom, einen altmodischen Humanisten in Herzensnot, durch die Sprachform charakterisieren. Aber er hält diese überzogene Figurensprache nicht durch – der Leser hätte sie auch nicht lange ertragen –, nach einigen Kapiteln schreibt Zeitblom genau wie sein Mentor, vor allem syntaktisch sind es die immer gleichen Muster und Satzbaupläne, wie man das technisch nennt, und nur im 25. Kapitel mit Leverkühns auf Notenpapier niedergelegtem Bericht seiner Teufelsbegegnung in Palestrina, den Zeitblom verwahrt hatte und jetzt pietätvoll zitternd dem Leser mitteilt, ändert sich der Ton. Wer ihm, Thomas Mann, dieses Kapitel diktiert oder eingeflüstert hat, außer Theodor W. Adorno, will man dabei wirklich nicht so genau wissen.
Als Thomas Mann das Alterswerk seines Freundes Hermann Hesse las, erschrak er über die stofflichen und formalen Ähnlichkeiten mit dem Doktor Faustus. Und wenn wir vergleichen: Auch syntaktisch war Das Glasperlenspiel auf der Höhe der Zeitblomschen Prosa, hier und dort sogar, weil weniger leicht auszurechnen, origineller. Hesses Prosa sei, notiert Thomas Mann zwar einmal im Tagebuch, «nicht immer die feinste und neueste», auch nicht «die musikalischste». Dennoch hätte auch Thomas Mann den folgenden Satz kaum hinbekommen, obwohl der Anfang atmosphärisch nah am Tonio Kröger und das syntaktische Atemholen und Wiederansetzen mit «daß» typisch für Manns Spätstil ist. Hesses Satz aus dem Glasperlenspiel zieht sich über eine halbe Seite und hält zwischen Para- und Hypotaxe eine feine Balance. Die Pointe besteht darin, daß der lange Vorlauf nur auf ein einziges Wort, das vorletzte, zielt.
Das heimatlose Leben führte ihn da- und dorthin, es machte ihn härter und gleichgültiger, auch klüger und resignierter, doch träumte er nachts immer wieder von Pravati und seinem einstmaligen Glück, oder was er nun so nannte, träumte viele Male auch von seiner Verfolgung und Flucht, schreckliche und herzbeklemmende Träume wie etwa diesen: daß er durch die Wälder fliehe, hinter sich mit Trommeln und Jagdhörnern die Verfolger, und daß er durch Wald und Sumpf, durch Dörnicht und über brechende morsche Brücken hinweg etwas trage, eine Last, einen Packen, etwas Eingewickeltes, Verhülltes, Unbekanntes, wovon er nur wußte, es sei kostbar und dürfe unter keinen Umständen aus den Händen gegeben werden, etwas Wertvolles und Gefährdetes, einen Schatz, etwas Gestohlenes vielleicht, gewickelt in ein Tuch, einen farbigen Stoff mit einem braunrot und blauen Muster, wie es das Festkleid Pravatis gehabt hatte – daß er also, mit diesem Packen, Raub oder Schatz beladen, unter Gefahren und Mühsalen fliehe und schleiche, unter tiefhängenden Ästen und überhängenden Felsen gebückt hindurch, an Schlangen vorbei und über schwindelnd schmale Stege über Flüssen voll von Krokodilen, daß er schließlich gehetzt und erschöpft stehenbleibe, daß er an den Knoten nestle, mit denen sein Packen verschnürt war, daß er sie einen um den anderen löse und das Tuch entbreite, und daß der Schatz, den er nun herausnahm und in schaudernden Händen hielt, sein eigener Kopf sei.
Der Satz, sooft man ihn liest, ist klanglich, rhythmisch und im Zusammengreifen der Satzglieder makellos: die lange, lange Rampe für die finale Enthauptung. Und wenn der Pedant jetzt fragt: Können «Hände» schaudern, oder muß das nicht die ganze Person tun, wird man ihm entgegnen: Doch, Schaudern und Zittern können hier einmal ineinander übergehen. Und wenn der Hesse-Skeptiker, vielleicht durch frühe Siddharta-Lektüre abgeschreckt, sich angesichts der Schlangengruben und von Krokodilen brodelnden Flüsse an Indiana Jones erinnert fühlt, dann weise man ihn zurecht und antworte: Ja, mag sein; aber Ehre, wem einmal Ehre gebührt.
Ein Autor, den man auf dieser Skala nicht einordnen könnte, ist Franz Kafka. Wenn man seine Anfangs- und Schlußsätze mit denen Thomas Manns vergleicht, steht er näher am linken, parataktischen Ende. Der Process beginnt: «Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Er endet mit dem Satz: «‹Wie ein Hund!› sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.» Die Erzählung Die Verwandlung beginnt: «Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.» Sie endet mit dem Satz:
Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.
Nur noch einmal zum Vergleich den Schluß des Zauberberg:
Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?
29 Wörter bei Kafka, 22 bei Thomas Mann. Aber nicht die Länge entscheidet über das Skalenende, in dessen Nähe man rückt. Kafkas Satz ist ganz einfach gegliedert, jeder begabte Zwölftklässler könnte ihn verfassen, was den Satzbau betrifft. Thomas Manns Schlußsatz, ein Hauptsatz mit zwei Einschaltungen, ist syntaktisch und rhythmisch viel geballter und rückt den Verfasser ans rechte Skalenende.
Aber dann schaut zu, wenn Kafka syntaktisch die Zügel schießenläßt!
Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.
Tja – Kafka. Wer sonst könnte so etwas Schräges verfassen? Robert Neumann jedenfalls nicht. Man kann, wenn man den Satz betrachtet, in diesem Fall noch weniger vom Inhalt absehen als sonst, auch wenn wir offiziell noch beim Thema der Syntax stehen.
Kafkas fünf Zeilen, ein einziger langer Satz, drücken das aus, was Schopenhauer in seinem Hauptwerk als den mystischen Moment des desengaño beschrieb: die große Enttäuschung, wenn sich die Einbildung als Einbildung, der festgewobene Trug als Trug erweist und der Schleier der Maja fällt. Indianer? Von wegen. Es gibt keine Sporen, es gibt keine Zügel, es gibt keinen zitternden Boden, nur öde Heide, und vom Pferd verschwinden vor dem kräftigen Leib, der als nächstes zerfallen wird, schon einmal Hals und Kopf. Wie dieses ruckweise Herunterreißen des Schleiers sich bei Kafka aber auch syntaktisch abbildet, das eben ist Genie – man kann sich keine andere Satzform vorstellen, die den Inhalt genauer abbildete. Auch daß der Satz kein richtiges Ende hat, gehört dazu, er bricht einfach ab, wie Kinder ein Spiel abbrechen, wenn es ihnen fad geworden ist. Er bricht ab, statt ordentlich zu enden, weil der Prozeß der Desillusionierung immer weitergeht, er hat kein natürliches Ende, es sei denn, er griffe zum Schluß – und hier würde es allerdings gruselig – nach dem Roß auch auf den Reiter und das Subjekt des Satzes selber über, auf das unbestimmte «man».
Irgendwelche Regeln also? Para oder Hypo? Als Regel gilt hier höchstens, daß Abwechslung nicht schadet. Wie Botho Strauß schreibt, zwischen Kalauer und Tiefsinn schwankend: «Das Abwechslungsreich blieb unerobert bisher in der Geschichte.»
Hemingway hielt es für einen effektvollen Trick, zum Ende einer Erzählung hin die Sätze immer kürzer werden zu lassen. In Prousts Recherche, die berühmt ist für ihre seitenlangen Perioden, gibt es einen ähnlichen Effekt, einen unverhofft kurzen Satz, der nur durch die Vorbereitung heraussticht und im Gedächtnis bleibt. Der Schriftsteller Bergotte ist gestorben, in der Nacht nach seinem Tod wachen in den beleuchteten Schaufenstern jeweils zu dreien angeordnete Bücher wie Engel mit entfalteten Flügeln. «Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen?»
Wir hatten mit einer Zugfahrt begonnen, wir wollen mit einer Zugfahrt enden. Ein Beispiel für die gelungene Verlangsamung, den schönen gleitenden Übergang vom langen Satz bis zum point final, mit dem der Prosa-Zug zum Halten kommt, findet sich zum Schluß des vierten Kapitels in Kurt Tucholskys Schloß Gripsholm. Das Liebespaar sitzt im Abteil auf dem Weg zu seinem schwedischen Urlaubsziel:
Und da tat sie etwas, wofür ich sie besonders liebte, sie tat es gern in den merkwürdigsten, in den psychologischen Augenblicken: sie legte die Zunge zwischen die Zähne und zog sie rasch zurück: sie spuckte blind. Und dafür bekam sie einen Kuß – auf dieser Reise schienen wir immer in leeren Abteilen zu sitzen – und gleich wandte sie einen frisch gelernten dänischen Fluch an: «Der Teufel soll dich hellrosa besticken!» und nun fingen wir an, zu singen. […]
Und grade, als wir im besten Singen waren, da tauchten die ersten Häuser der großen Stadt auf. Weichen knackten, der Zug schepperte über eine niedrige Brücke, hielt. Komm raus! Die Koffer. Der Träger. Ein Wagen. Hotel. Guten Tag. Stockholm.