Soll das nun heißen, daß es in der großen Literatur auf den Inhalt überhaupt nicht ankommt und allein die Form entscheidet, die Sprache, der Stil? Wie ist überhaupt das Verhältnis von Inhalt und Form?
Fast eine Parabel auf dieses Verhältnis, und eine sehr lustige dazu, findet sich in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. Alexander von Humboldt fährt im Boot auf dem Rio Negro, an Bord sind neben seinem Begleiter Bonpland und vier Ruderern einige an ihren Gittern rüttelnde Zwergaffen; einer bekommt sogar die Käfigtür auf und belästigt die Passagiere. Die Zeit wird lang, der Ruderer Mario bittet Humboldt, er möge doch auch einmal etwas erzählen.
Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach den Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.
Die Ruderer unter der Himmelskuppel – ratlos. Hat Humboldt falsch referiert? Hat er verfälscht, übertrieben, ausgeschmückt, hat er Wichtiges weggelassen oder unzulässig verkürzt? Hat er sich einfach falsch erinnert? Nichts von alledem. Er war ganz korrekt. Er hat nur das Wichtigste übersehen, die Form. «Wandrers Nachtlied», Goethes im September 1780 an die Holzwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau geschriebenes Gedicht, das bekannteste der deutschen Klassik, lebt nicht vom referierbaren Inhalt. Die geschätzten Leser kennen es ohnehin auswendig:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! balde
Ruhest du auch.
Was hat das Gedicht mehr als die Prosa-Zusammenfassung Alexander von Humboldts bei Daniel Kehlmann? Es hat die Reime (Ruh – Du, Hauch – auch, Walde – balde; ohne das schon damals archaisierende «balde», in der unverkürzten Form, bräche das Gedicht zusammen). Es hat den Rhythmus, den Klang, die Assonanzen-Abfolge der «R» (Ruh, spürest, warte, ruhest) und «W» (Wipfeln, schweigen, warte). Es hat nicht den Wind, sondern den «Hauch», der stärker ist, weil er schwächer ist und das Pneuma anklingen läßt. Es hat statt der Vögel (in dieser Fassung) «Vögelein», und sie sind nicht nur ruhig, sondern sie schweigen, was sie vermenschlicht, weil es einen bewußten Entschluß und Absicht unterstellt. Es hat, durch das «Warte nur!», das uns direkt anspricht und nicht nur Memento mori ist fürs lyrische Ich, den direkten Griff an die Gurgel des Lesers. Und es verheißt diesem Ich und uns Lesern nicht, bald tot zu sein, sondern zu «ruhen» – ein großer atmosphärischer Unterschied und vielleicht auch ein sachlicher, weil man aus der Ruhe wiedererweckt werden kann.
Die Sachlage bei Humboldt und Goethe ist nicht haar- oder hauchgenau die gleiche, aber doch ungefähr. Der Stil, die Form fügt der Sache etwas hinzu. Aber das stimmt nicht, könnte man argumentieren: Der Stil ist, in der Literatur, doch die Sache selbst! Literatur besteht aus aneinandergereihten Sätzen, und außerhalb dieser Sätze gibt es nichts. Darum ist es unsinnig, den Inhalt eines Gedichts oder Romans von seinem Stil abzulösen. Der Inhalt sei gut, vom Stil müsse man nicht sprechen – so geht das nicht in der Literatur. Es geht so wenig, wie es bei einem Musikstück ginge, von dem man sagte, bis auf die Noten sei alles prima.
So ganz stimmt aber auch das nicht.
Sprache ist, anders als die Musik, double use. Bei Musik kann man sich allerhand vorstellen, bei Programmusik soll man sich sogar allerhand vorstellen, Musik weckt reichste und subtilste Empfindungen und mag als Sprache für sich bezeichnet werden, aber sie verweist nicht unmittelbar auf ein Außerhalb. Man kann sagen, der Anfang von Schostakowitschs op 87 aus den Präludien und Fugen erzähle auf gut zwei Minuten ein ganzes Leben, mit jugendlichen Hoffnungen, rasch sich zuziehenden Himmeln, Enttäuschungen und milder Altersmelancholie, man kann es fühlen, miterleben und begründen, aber gerade mit dem Begründen wird man dabei immer im Metaphorisch-Appellierenden bleiben – wer’s anders hören will, wird es anders hören. Es gibt in der Musik zwar semantische Traditionen (wofür steht C-Dur?), aber kein Wörterbuch, in dem eine Note auf eine Sache oder einen Begriff verweist.
Sprache, also geformte Prosa, hat ihre musikalische Seite, aber sie verweist auf etwas Außersprachliches, auf etwas außerhalb. Das Schild NO EXIT kann in roter oder schwarzer Schrift geprägt sein, es gibt uns immer eine Information. (Nämlich die, daß hier notfalls ein Ausgang wäre.)
Das ist die eine Seite. Auf die andere Seite, die überwiegend musikalische, fiele zum Beispiel das poème en prose, ein zwittriges und etwas zwielichtiges Zwischengenre, und die Sprachmusik überhaupt – da ist es fast egal, worum es geht, da schwebt das Gedachte noch als Zirruswölkchen über den Sätzen, die sich wiegen im Reigen von Assonanzen und rhetorischem Glanz; Vokalgeschmuse, sich kosende Konsonanten, der ganze Venusberg an Sprachwollust.
Dennoch oder doppelt recht hat Peter Hacks, wenn er schreibt, ein Werk der Poesie bestehe nicht einfach aus Wörtern, sondern aus Wörtern, die etwas meinen. «Es gibt keine Sprachmelodie, die nicht zunächst Gedankenmelodie wäre. Die Musik, die in einem Gedicht ist, ist ein Musizieren mit Begriffen; wenn das nicht wäre, könnte man ja gleich Geige spielen.»
Wer hier nur stumm und verbittert nicken würde, ist Penthesilea. Der Doppelcharakter der Sprache wird in Kleists Drama in zwei Zeilen gefaßt. Penthesilea hat lange auf Achilles eingeredet und ihm ihre komplizierte Lage erläutert. Und er? Er hat, wie es scheint, nicht richtig zugehört. Darauf Penthesilea, außer sich und zornentbrannt, zu ihrer Dienerin:
Was ich ihm zugeflüstert, hat sein Ohr
Mit der Musik der Rede bloß getroffen?
Mit der Musik der Rede bloß. Bei aller Musik der Sprache gibt es nun aber immer noch sachliche Inhalte. Wie zum Beispiel die Frage: «Zu dir oder zu mir?» Was hier heißt: den Brauttempel in Themiscyra aufbauen, wie Penthesilea es will und ihr Gesetz es fordert – oder im Heerlager bei Achill Hochzeit feiern? Mißverständnisse dieser Art können böse enden. Da kann man von Hunde- und Frauenzähnen zerrissen werden oder sich mit glühenden Metapher-Dolchen entleiben müssen – wir werden darauf zurückkommen. Es gilt auch hier das Aptum: nicht bloß Musik! Es sei denn, es gälte der Musik. Wenn Wagners Rheintöchter singen: «Weia! Waga! Woge, du Welle! walle zur Wiege! Wagalaweia! Wallala weiala weia!», dann ist es ganz richtig. Sonst aber: nicht nur Musik. Und umgekehrt: nicht nur sang- und klanglose Wortparaden. Es sei denn, es gälte Gesetzestexte (und selbst die, oder gerade die, lassen sich besser oder schlechter ausrichten).
Man kann, um es zusammenzufassen, bei der guten Prosa weder vom Klanglichen absehen noch vom gedachten, durchs Wort bezeichneten Inhalt. Die Trennung wäre künstlich, es ist die höhere Einheit, die sich im Stil bewähren muß, oder anders: Erst wenn es ein nennenswerter Stil ist, gibt es diese höhere Einheit von Gedanke und Klang, von Rhythmus und Begriff.
Mit diesem Doppelcharakter der Sprache hängt aber auch zusammen, daß Stil allein noch nicht über Romane entscheidet. Es kann große Stilisten geben, die dennoch keine großen Autoren wurden – es fehlt ihnen vielleicht an anderen notwendigen Fertigkeiten oder Talenten, die das Verfassen eines Romans verlangt. Ein großer Stilist wie Rudolf Borchardt hat (außer seinen Kindheitserinnerungen und dem postum veröffentlichten Weltpuff Berlin) kaum ein lesbares fiktionales Werk verfaßt. Umgekehrt kann es, wie Ludwig Börne bemerkt, vortreffliche Werke geben, welche in einem schlechten Stile geschrieben sind. Kenner des Russischen, und nicht nur Nabokov, führen für letzteres gerne Dostojewski an. Stil ist nicht immer die notwendige Voraussetzung für ein großes Buch. Balzac mag ein Riese sein, ein Stilist ist er sicher nicht. Joseph Conrad wird nicht wegen seines Stils gelesen wie Henry James (der zumindest im Spätwerk wohl eher trotz seines Stils gelesen wird). In Stefan Zweigs Die Welt von Gestern finden sich auf fünfhundert Seiten zwei neu gesehene Metaphern und fast kein überraschendes Adjektiv, trotzdem ist es ein großes, bewegendes Zeitzeugnis. Heinrich Böll wird von vielen als bedeutender Autor angesehen; als Stilisten werden ihn die wenigsten reklamieren.
Eine paradoxe Folgerung aus diesen Erwägungen zog Karl Kraus: Er las keine Romane. Seine Begründung: «Es scheint mir überhaupt keine andere Wortkunst zu geben, als die des Satzes, während der Roman nicht beim Satz, sondern beim Stoff beginnt.» Damit spart man sich natürlich eine Menge Lektüre.