Die wörtliche Rede. Sosias und die Wahlverwandtschaften

Fast unbemerkt sind wir mit den letzten Seiten auf ein Gebiet geraten, das in der erzählenden Prosa eines der wichtigsten ist. Wer hier scheitert, kann der glänzendste Metaphoriker sein, er ist gescheitert. Wer hier glänzt, tröstet über vieles andere Scheitern hinweg. Erzählende Prosa handelt von Menschen, die in der Regel miteinander sprechen. Es müssen dabei nicht einmal Menschen sein; in Märchen oder bei Kafka reden auch Tiere und Dinge miteinander. Aber: Sie sprechen. Selbst bei Beckett. Und der Autor ist ihr puppeteer. Er muß seine Figuren in wörtlicher Rede präsentieren, sie müssen sich in wörtlicher Rede austauschen, die uns, den Lesern, plausibel vorkommt.

Wer Dialoge schreibt, braucht vor allem ein gutes Ohr, aber das genügt nicht. Der Autor könnte ein Aufnahmegerät einschalten und das Gespeicherte später abschreiben, es hülfe nur nichts: Er muß das Gesprochene stilisieren. Und hier beginnen die Fragen und Probleme.

Gute Dialoge sind schwer. Wie stilisiert müssen und dürfen sie

Einer der glänzendsten Dialog-Dichter überhaupt ist Kleist. Unvergeßlich, wie sein Amphitryon beginnt, den Thomas Mann mit vertretbarer Emphase als das geistreichste, tiefste und schönste Theaterspielwerk der Welt bezeichnete. Wir müssen hier gleich zu Beginn etwas gründlicher werden, in der stillen Hoffnung, nur das Gründliche sei wahrhaft unterhaltend.

Auftritt Sosias, Diener des Amphitryon, des großen Feldherrn, der gerade eine Schlacht gegen die Athener gewonnen hat. Sosias ist ausgeschickt, Amphitryons Gemahlin Alkmene die gute Nachricht zu überbringen und Amphitryons baldige Heimkehr anzukündigen. Es ist Nacht, Sosias trägt eine Laterne und bereitet sich auf seinen Auftritt vor. Er hat die eigentliche Schlacht versäumt, sich im Zelt verkrochen und nichts vom Getümmel mitbekommen, jetzt muß er improvisieren; er probt seinen Bericht für die Fürstin, spricht die Laterne als Alkmene an und wundert sich über sein rhetorisches Ingenium. («Daß mich die Pest! Wo kömmt der Witz mir her?») Da hört er ein Geräusch, und es tritt ihm vor der Tür des Palasts jemand entgegen. Es ist, was Sosias nicht wissen kann, der Gott Merkur; auch er ein Diener seines Herrn, nämlich Jupiters. Und auch er hat einen Auftrag zu erfüllen: Merkur muß den Diener daran hindern, die Liebesnacht zu stören, die Jupiter gerade, getarnt in der Gestalt Amphitryons, mit der ahnungslosen Alkmene verbringt.

Sosias weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Fremde droht ihm umstandslos Prügel an: «Seit der vergangnen Woche fand ich keinen, / Dem ich die Knochen hätte brechen können. / Mein Arm

MERKUR vertritt ihm den Weg.

Halt dort! Wer geht dort?

 

SOSIAS: Ich.

MERKUR: Was für ein Ich?

SOSIAS: Meins mit Verlaub. Und meines, denk ich, geht

Hier unverzollt gleich andern. Mut Sosias!

«Was für ein Ich?» Nicht etwa: «Wer bitte genau?» Wie Peter Szondi gezeigt hat, löst Kleist sich schon in dieser kleinen Ausweitung vom Vorbild des Molièreschen Amphitryon, dem er sein Drama nachgebildet hat. Bei Molière fragt Merkur: «Qui, moi?», was bloß meint, daß er mit der Antwort Sosias’ nicht zufrieden ist. Bei Kleist wird existentiell, was bei Molière noch höfische Gesellschaftskomödie ist. «Was für ein Ich?» Das ist die Frage, an der Sosias nachgerade verzweifeln wird. Denn Merkur spricht ihm das Sosias-Sein schlechterdings ab.

MERKUR: – Dein Name ist?

SOSIAS: Sosias.

MERKUR: So –?

SOSIAS: Sosias.

MERKUR: Hör, dir zerschlag ich alle Knochen.

SOSIAS: Bist du

Bei Sinnen?

MERKUR: Wer gibt das Recht dir, Unverschämter,

Den Namen des Sosias anzunehmen?

Gegeben wird er mir, ich nehm ihn nicht.

Mag es mein Vater dir verantworten.

Noch läßt sich Sosias nichts bieten, noch ist er ironisch wortgewandt, dreht dem Vorredner die Verben «geben» und «nehmen» im Mund herum und ahnt nicht, wie massiv ihn der Fremde zerrütten wird. Kleist baut hübsch langsam die Spannung auf, die sich auf nicht weniger gründet als auf die Frage nach dem Ich-Sein, dem Kern der Identität. Gibt es diesen Kern überhaupt? Durch das schnelle Hin- und Herspringen und Einander-ins-Wort-Fallen wird der Dialog zu einem Florettgefecht. Der nächste Stoß:

MERKUR: Hat man von solcher Frechheit je gehört?

Du wagst mir schamlos ins Gesicht zu sagen,

Daß du Sosias bist?

SOSIAS: Ja, allerdings.

Und das aus dem gerechten Grunde, weil es

Die großen Götter wollen; weil es nicht

In meiner Macht steht, gegen sie zu kämpfen,

Ein andrer sein zu wollen als ich bin;

Weil ich muß Ich, Amphitryons Diener sein,

Wenn ich auch zehenmal Amphitryon,

Sein Vetter lieber, oder Schwager wäre.

Er muß Ich sein, ob er will oder nicht, und wäre er auch lieber vom Fürstengeschlecht: Prägnanter, komischer, lebendiger kann ein Theaterdialog nicht sein. Doch so einfach kommt Sosias nicht davon, der Fremde prügelt weiter auf ihn ein. Noch leistet Sosias verbale Gegenwehr und verteidigt sein Recht aufs Ich:

Dein Stock kann machen, daß ich nicht mehr bin;

Doch nicht, daß ich nicht Ich bin, weil ich bin.

Sosias jetzo der geschlagne, fühle.

Sosias ist der eigentliche Denker des Stücks, viel mehr als sein Herr Amphitryon. Ganz leise hört man im Hintergrund Fichtes Ich-Philosophie nachhallen, aber wie viel vergnüglicher, dabei keineswegs seichter, ist sie bei Kleist. Allein, Sosias’ tapfre Widerrede ist vergeblich. Merkur läßt nicht locker, und die Stockschläge beginnen Sosias zu zermürben. Bei aller Zermürbtheit ist er ein Chef des Understatements.

MERKUR: Du sprachst, du hättest dich Sosias sonst genannt?

SOSIAS: Wahr ists, daß ich bis diesen Augenblick gewähnt,

Die Sache hätte ihre Richtigkeit.

Doch das Gewicht hat deiner Gründe mich

Belehrt: ich sehe jetzt, daß ich mich irrte.

MERKUR: Ich bins, der sich Sosias nennt.

SOSIAS: Sosias –?

Du –?

Damit ist die Katze aus dem Sack: Er, Merkur, ist der wahre und einzige Diener Amphitryons, er ist der echte Sosias. Aber was ist dann mit unserm armen Träger desselben Namens? Der bislang zu Unrecht wähnte, es habe schon seine Richtigkeit damit, daß er, Sosias, kein andrer als Sosias sei?

SOSIAS: Fahr in die Höll! Ich kann mich nicht vernichten,

Verwandeln nicht, aus meiner Haut nicht fahren,

Und meine Haut dir um die Schultern hängen.

Ward, seit die Welt steht, so etwas erlebt?

Träum ich etwa? Hab ich zur Morgenstärkung

Bin ich mich meiner völlig nicht bewußt?

Und seine Haut ihm um die Schultern hängen – sehr witzig und drastisch, so witzig wie Sosias’ flüchtiges Erwägen, ob er es mit der Morgenstärkung vielleicht übertrieben hat. Ist er nicht dennoch seiner völlig sich bewußt?! Es hilft nur alles nichts; allmählich wird Sosias irre am eigenen Ich. Der Fremde behauptet nicht nur, Sosias zu sein, er weiß es noch genauer: Er ist «Gemahl der Charis, / Die mich mit ihren Launen wütend macht.» Das bezeugt leider Insiderwissen. Sosias wird es immer schwärzer vor Augen. Der andere kennt also auch sein zänkisches Weib? Noch dazu fällt ihm plötzlich auf, daß der Fremde so aussieht wie er selbst: «Man muß, mein Seel, ein bißchen an ihn glauben. / Zu dem, da ich ihn jetzt ins Auge fasse, / Hat er Gestalt von mir und Wuchs und Wesen / Und die spitzbübsche Miene, die mir eigen.»

Das letzte Wort «eigen» fällt rhythmisch aus dem Takt, es müßte auf der zweiten Silbe betont sein, wie etwa «zupaß», und Schiller hätte es sich nicht durchgehen lassen. Aber das ist eben Kleist, kein Pedant zum Glück, sondern ein Teufelskerl, der sich Freiheiten nimmt. Am schönsten ist, daß Sosias sich eingesteht, «ein bißchen» müsse man an den andern glauben. Welcher andere Dramatiker hätte dieses «ein bißchen», das den Übergang vom Saulus zum Paulus, von Sosias zum Nicht-mehr-Sosias markiert, so zart und wirkungsvoll gesetzt?

Sosias nimmt sich nun vor, den zweiten Sosias zu prüfen und mit Detailfragen auf die Probe zu stellen. Kann der Doppelgänger Dinge wissen, die nur er, Sosias, wissen kann? Bei Jupiter, alle seine Fragen werden prompt und präzis beantwortet; als Gott ist Merkur allwissend oder doch umfassend orientiert.

für sich. Er weiß um alles. – Alle Teufel jetzt!

Ich fang im Ernst an mir zu zweifeln an. […]

Zwar wenn ich mich betaste, wollt ich schwören,

Daß dieser Leib Sosias ist.

Wie find ich nun aus diesem Labyrinth? –

Was ich getan, da ich ganz einsam war,

Was niemand hat gesehen, kann niemand wissen,

Falls er nicht wirklich Ich ist, so wie ich.

Es folgt sein letztes Aufbäumen, sein letzter Versuch, sich ans eigene Ich zu klammern. Er fragt den Fremden, was er, Sosias, während der Schlacht in einem unbeobachteten Moment im Zelt getan habe. Als Merkur auch darauf die richtige Antwort weiß (er hat sich heimlich mit Schinken und Wein regaliert), gibt Sosias sich geschlagen.

Ich sehe, alter Freund, nunmehr, daß du

Die ganze Portion Sosias bist,

Die man auf dieser Erde brauchen kann.

Das Wort «Portion» trifft es besonders gut, weil es um Wein und Schinken ging. Es bleibt nach der Niederlage und dem Ich-Entzug nur noch eine Frage:

Da ich Sosias nicht bin, wer ich bin?

Denn etwas, gibst du zu, muß ich doch sein.

Worauf sich immerhin eine Art Kompromiß abzeichnet. Merkur antwortet, bevor er ihn allerdings wieder verprügelt:

MERKUR: Wenn ich nicht mehr Sosias werde sein,

Sei dus, es ist mir recht, ich willge drein.

Kleist versteckt die Tiefe an der heiteren Oberfläche. Seine Figuren reden nicht, wie irgend jemand im wirklichen Leben spräche, aber sie sprechen miteinander, sie deklamieren nicht, sie hören einander zu, fallen sich ins Wort, sie drücken sich farbig und drastisch und dann auch wieder zart, ja erhaben aus. Jupiter zur Erklärung, wer er sei: «Das Licht, der Äther, und das Flüssige, / Das was da war, was ist, und was sein wird» – man lasse es sich auf der Zunge zergehen. Ihre Rede, streng rhythmisiert, weshalb auch dem «zehnmal» noch ein Dehnungs-e zum «zehenmal» eingeflickt werden muß, ungeachtet allen Pediküren-Nebensinns, diese Rede sprüht vor Leben, wie man merkt, wenn man etwa einen Wilhelm Tell danebenhält, in dem die Akteure einander in ellenlangen Monologen die Geschichte der Schweiz erklären – höherer Schulfunk,

Nun gelten bei Bühnendialogen andere Stil- oder vielmehr praktische Regeln als bei Romandialogen: Man muß sie sprechen können, der Autor hat die Schauspieler im Auge oder Ohr zu behalten, er ist nicht ganz Herr seiner stilistischen Entscheidungen und muß Fragen der Atemtechnik berücksichtigen, das Gleichgewicht von Konsonanten und Vokalen beachten, alles das, was auf der Bühne wichtiger ist als im Buch.

In Romanen ist der Autor freier in den Dialogen. In einem Märchen kann er ohnehin machen, was er will, in einer realistischen Erzählung hat er als einzige Einschränkung, daß der Leser ihm glauben sollte. Hier greift das Prinzip, das Martin Wieland aufgestellt hat, lange bevor es den Begriff des realistischen Romans gab: Es muß nicht so gewesen sein, wie es geschildert wird, ganz sicher war es nicht so, denn es handelt sich um Fiktion, aber entscheidend ist, daß es so hätte gewesen sein können. Auf den Dialog übertragen: Deine Figuren müssen nicht so gesprochen haben, sie haben ziemlich sicher nicht so gesprochen (es wären denn Figuren Doderers), aber es wäre schön, wenn sie so hätten sprechen können. Sie werden fast immer – und die Ausnahmen wie Woyzeck oder Berlin Alexanderplatz sind eben deshalb berühmt – besser, flüssiger, gewandter sprechen, als man es in Wirklichkeit tut. Aber diese erlaubte und oft nötige Stilisierung kann einen Grad erreichen, bei dem der Leser unruhig oder mißmutig wird. So sollen die gesprochen haben? Wer’s glaubt, wird selig!

In tiefen Groll kann dieser Mißmut umschlagen, wenn der Leser merkt, daß er gemeint ist, dem der Autor etwas beibringen will, daß die Figuren Informationen austauschen, die sie im wirklichen Leben nie austauschen würden, weil sie beiden längst bekannt sind. Es ist eine sehr verbreitete Unsitte.

Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich älteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen mußte. Wir wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen im Besitz eines großen Vermögens ließ; ich später, eben zu der Zeit, da du von Reisen zurückkamst. So fanden wir uns wieder.

Ach so? Und das wußte er alles nicht? Hieße der folgende Satz: «Eduard litt in den letzten Monaten an schwerem Gedächtnisverlust und Charlotte mußte ihm stets aufs neue wieder …» – dann wäre der Monolog noch immer nicht gut, aber weniger lächerlich. Gedächtnisschwund zählt jedoch nicht zu den Mängeln des Helden, wie Uwe Timm in seiner Poetik-Vorlesung richtig bemerkt. Es ist der Autor, der uns Leser über die Umstände ins Bild setzen will, und dafür benützt er die Figuren als Sprechpuppen – Sünde und schwerer Kunstfehler.