Damit haben wir uns das Stichwort für eine kurze Abschweifung gegeben, für die wir die reine Stilbetrachtung für einen Moment verlassen müssen. Nein, verlassen wollen, nicht müssen: Das Thema des Kunstfehlers ist, jedenfalls für enthusiastische Kritiker, eines der attraktivsten überhaupt.
Die Kategorie des Kunstfehlers tritt erst bei Werken von einigem Rang in Kraft. Die Leute, die mit langen Detektoren den Strand nach Münzen absuchen, packen ihre Gerätschaft auch nicht für den Gang über ein Metalldeck aus. Erst bei Meisterwerken oder fast vollkommenen Gebilden wird der Kunstfehler interessant.
Die Möglichkeiten solcher Fehler sind vielfältig. Die einfachsten und unerheblichsten sind die rein sachlichen. Wenn Daniel Kehlmann in der Vermessung der Welt einen belgischen Diplomaten zu einem Zeitpunkt auftreten läßt, als es den Staat Belgien noch nicht gab, ist es einer dieser nachweisbaren (und völlig unbedeutenden) Kunstfehler. Man kann ihn in einer späteren Ausgabe tilgen. Diesem Genre von Kunstfehlern ist gerade bei den Klassikern oft fleißig und biderb nachgegangen worden – Hier irrt Goethe, man kennt das Vorbild.
Komplexer schon sind Fehler in der Erzählperspektive. Der Autor hält sich nicht an die seelische Ausstattung, die er seinen Figuren mitgegeben hat, die Figuren wissen mehr, als sie wissen dürften. Der Autor mißachtet die Logik der Erzählung, weil er uns etwas mitteilen will, für das er die Figuren als Boten benutzt, wie wir es in den Wahlverwandtschaften gesehen haben. Auch die Beispiele dafür sind Legion. Eines auf höchstem Niveau wäre der schon zitierte Roman Was davor geschah von Martin Mosebach, einem der farbigsten Stilisten der Gegenwartsliteratur. Mosebachs Hauptfigur Hans-Jörg macht eine Reise nach Ägypten, wo er, anders als sein Autor, nie gewesen sein will. Einmal dort angekommen, weiß dieser Hans-Jörg plötzlich erstaunlich viel über Sitten und Gebräuche, er weiß, daß im ägyptischen Militär nur analphabetische Fellachen landen, weil die andern sich freikaufen – kurzum, es sind ihm über Nacht Kenntnisse zugewachsen, die er seinem Autor, nicht jedoch der Erzähllogik verdankt. Immerhin möglich, daß dem trüben Hans-Jörg die Kenntnisse durch seinen Begleiter Salam vermittelt wurden, der Ägypten hinreichend gut kennt.
Eine andere, ähnliche Kategorie der Kunstfehler ist die der Unglaubwürdigkeit, der Plot-Schlamperei oder sagen wir: der Plot-largesse. Auch hierfür wären die Beispiele Legion. Eines der schönsten ist Stendhals Kartause von Parma, in der es von Unwahrscheinlichkeiten wimmelt. Erinnern wir uns, wie der inhaftierte Held Fabrizio von seinem Gefängnisturm aus in der Nacht mit der Herzogin, die ihrerseits auf einem Turm steht, Botschaften tauscht, und zwar per Lampe und Lichtsignal. Was heißt, daß sie die Buchstaben je nach Stellung im Alphabet ein bis sechsundzwanzig Mal aufblitzen lassen müssen, so lange jedenfalls, bis sie sich – ebenfalls per Lichtsignal – auf diverse Abkürzungen verständigt haben. Die Herzogin teilt Fabrizio bei einem dieser nächtlichen Morse-Treffen nun unter anderem mit: «Ich liebe dich. Verzage nicht. Gesundheit. Hoffnung! Übe deine Kräfte in der Zelle, du wirst starke Arme nötig haben.» Im Original: «Je t’aime, bon courage, santé, bon espoir! Exerce tes forces dans ta chambre, tu auras besoin de la force de tes bras.»
Da braucht allerdings auch die Herzogin einen starken Arm, um ihre Laterne diese – Moment … – neunhundertsechsundfünfzig Mal aufblitzen zu lassen.
Aber so komisch es ist, wenn man nur eine Sekunde an die mögliche Realisierung denkt: Solche Fehler ändern gar nichts an Stendhals Rang und seinem Charme, dem so viele Leser erlegen sind, darunter Walter Benjamin und Proust.
Auch ihm, dem Gott der Prosa und der Recherche, unterlaufen Kunstfehler. Sehr viele schlichte und nachweisbare, wie der Stimmbruch, von dem er eine seiner filles en fleur noch verschont weiß, aber auch subtile und gleichwohl kapitale, die etwas mit der Tempoführung zu tun haben. Kunstfehler dieser Art, die man nicht beweisen, sondern gewissermaßen nur schmecken kann, sind die allerinteressantesten. Überdehnt er es nicht, der Meister der genüßlich entfalteten japanischen Wasserstadt, wenn er uns über tausend Seiten Marcels Geliebte Albertine ans Herz schmiedet, wenn er sie dann sterben und für einen Moment scheinbar wiederauferstehen läßt und wenn er diesen Moment vor der finalen Generalenttäuschung perfider- und leservergessenderweise durch eine fünfzehn Seiten lange Schilderung der Kunstschätze Venedigs hinauszögert? Doch, er überdehnt.
Und Thomas Mann, der Meister des Leitmotivs, überzieht er es nicht auch bisweilen, nudelt es sich nicht gelegentlich ab, verdreht man nicht irgendwann die Augen, wenn der Lotte in Weimar wieder einmal das Kinn zittert und Goethe wieder zufällig nur an jene Themen denkt, die Thomas Mann im Joseph-Roman gerade bearbeitet, den er für die Lotte unterbrach? Wenn niemand einmal «Ja» oder «Meinetwegen» sagen kann, sondern alle immer nur «Allenfalls»? Doch, doch, auch Tommy überzieht.
Ein Spezialfall wäre Heimito von Doderer, auf den wir noch genügend oft zu sprechen kommen werden. Auch bei ihm würde der Metalldetektor unentwegt fiepen. Doderer bricht fast jedes Gesetz der Erzählkunst. Aber er, der Zen-Meister der Prosa, kann es, und darum schmeißt man schon bald begeistert den Detektor weg.