Doch genug der Abschweifung, kommen wir zurück zur Frage der guten, glaubwürdigen wörtlichen Rede. Betrachten wir einen anderen reizvollen Fall etwas ausführlicher, ein Zweifelsfall, um es vorwegzunehmen. Es geht um den Zauberberg und dort um den Monolog einer Nebenfigur. Es spricht der Mannheimer Ferdinand Wehsal, der sich hoffnungslos nach Madame Chauchat verzehrt. Er ist die Gegenfigur zu Hans Castorp, der seine Walpurgisnacht mit Clawdia Chauchat gehabt hatte. Castorp leiht Wehsal, der ihn glühend darum beneidet, auf einer Kutschenfahrt widerwillig sein Ohr; sie sind auf dem Weg zu den Wasserfällen, von denen wir noch hören werden.
Es sei fürchterlich, was er von seiner Begierde nach Chauchat auszustehen habe, erklärt Wehsal seinem Beisitzer. Man könne damit weder leben noch sterben – «wen es hat, der kann es nicht wegwünschen, man müßte sein Leben wegwünschen, womit es sich amalgamiert hat, und das kann man eben nicht, – was hätte man davon, zu sterben? Nachher, – mit Vergnügen. In ihren Armen, – herzlich gern. Aber vorher, das ist Unsinn, denn das Leben, das ist das Verlangen, und das Verlangen das Leben, und kann nicht gegen sich selber sein, das ist die gottverfluchte Zwickmühle.»
Ferdinand Wehsal referiert damit ziemlich wortgetreu Schopenhauers Lehre vom Geschlechtstrieb als dem Kern des Willens zum Leben, womit er schon dieselben leichten Zweifel auslöst wie mit seiner Verwendung des Verbs «amalgamieren», das um 1912 nicht in jedermanns Wortgebrauch war. Auch der biblische Ton, in den Wehsal immer stärker verfällt, paßt nicht recht zu dem schlichten Mannheimer. Von der Tortur der Fleischesbegierde, erklärt er Castorp, könne man einzig und allein auf dem Wege und unter der Bedingung loswollen, daß sie gestillt werde: «Das ist die Einrichtung, und wen es nicht hat, der hält sich nicht weiter dabei auf, aber wer es hat, der lernt unsern Herrn Jesum Christum kennen, dem gehen die Augen über.» Gott im Himmel, was sei es doch für eine Einrichtung und Angelegenheit, daß das Fleisch so nach dem Fleische begehre, nur, weil es nicht das eigene sei, sondern einer fremden Seele gehöre – und wie anspruchslos auch wieder in seiner verschämten Freundlichkeit! Wolle er sie morden? (Immer hat Thomas Mann es mit dem Morden, wenn es um Sex geht.) Wolle er ihr Blut vergießen? Er wolle sie ja nur liebkosen! Und es sei auch etwas Höheres dabei, er sei doch kein Vieh, auf seine Art sei er doch auch ein Mensch!
Die Fleischesbegierde gehet dahin und dorthin, sie ist nicht gebunden und nicht fixiert, und darum so heißen wir sie viehisch. So sie aber fixiert ist auf eine Menschenperson mit einem Angesicht, alsdann so redet unser Mund von der Liebe. Mich verlangt doch nicht bloß nach ihrem Körperrumpf und nach der Fleischpuppe ihres Leibes, sondern wenn in ihrem Angesicht auch nur ein kleines Etwas anders gestaltet wäre, siehe, so verlangte mich’s möglicherweise nach ihrem ganzen Leibe gar nicht, und daher so zeiget sich’s, daß ich ihre Seele liebe, und daß ich sie mit der Seele liebe.
Und so geht es noch eine Seite weiter, obwohl Hans Castorp ihn – «Wehsal, pst! leise doch!» – ermahnt, daß der Kutscher ihnen zuhöre, er sehe es ihm am Rücken an. Am Ende befiehlt er ihm dann doch, den Mund zu halten, als Wehsal von der Schandhölle seiner Nächte zu erzählen beginnt, aus denen er «mit Schweiß und Schmach und Lust bedeckt» erwache.
Wehsals Rede über die Qualen der Begierde ist wuchtig. Das kleine Problem: Sie ist zu wuchtig. Man nimmt der Figur kein Wort davon ab, zu solch archaisierender Verve wäre das Würstchen, bislang durch keinerlei Brillanz hervorgetreten, nie in der Lage, solche Reden hätte allenfalls ein Rudolf Borchardt auf einer Kutschenfahrt improvisiert. Und wenn wir schon einmal dabei sind: Auch Castorps auf französisch vorgetragener und äußerst ziselierter Liebesmonolog an Madame Chauchat im Kapitel «Walpurgisnacht» übersteigt bei weitem die Sprachkenntnisse, die man dem jungen Ingenieursanwärter zutrauen kann; selbst sein Schöpfer schwitzte Wochen darüber und mußte sich lektorierende Hilfe von Bruno Frank verschaffen.
Aber trägt der Einwand wirklich, und ist nicht jeder Roman-Dialog stilisiert? Will man nur authentische Redeprotokolle, nur Woyzeck-Gestammel (und schon das ist höchst stilisiert)? Natürlich nicht. Der Autor sollte sich nur an die Regeln halten, die er selbst aufgestellt hat. Der Zauberberg, vordergründig ein realistischer Roman, zeichnet sich gerade durch die individuelle und glaubwürdige Sprache seiner Figuren aus. Der Hofrat Behrens und sein Assistent Krokowski, der wortkarge Joachim und die Rhetoren Naphta und Settembrini, sie alle sprechen auf ganz eigene Art und unverwechselbar. Mit Ferdinand Wehsal bricht Thomas Mann dies selbst aufgestellte Gesetz – aber sei’s drum, in seiner Not gab dem Mannheimer der Geist offenbar Zungen ein.
Von Manns spätem Roman Der Erwählte verlangt kein Mensch, daß die Figuren glaubwürdig oder realistisch sprechen, hier sind wir in der Sphäre der humoristischen Legende, und die Figuren sprechen in einem erfundenen und außerordentlich komischen Sprachenmix. Man erinnere sich nur an die Fischer, die auf stürmischer See das Fäßchen mit kostbarem Inhalt (dem Säugling und späteren Papst) aufgegabelt haben und bei ihrer Ankunft im Hafen vom Abt nach ihrem Fang befragt werden:
«Heho, hallo, Herr, is noch mal gutgegangen», erwiderten sie. «Fische? Nee, dat’s nu’n littel bit tau veel verlangt. Wi könn von Lucke seggen, dat uns de Fisch nicht hebben, denn dat was Euch ’ne Freise, Herr, un weren Euch coups de vent, da macht Ihr Euch, Herr, gar keen Einbildung von. Da mußt immer een Mann die Seen drawen aus dem Boot und de annere mit all sin Macht den Timon holden, un sonst was an keen Ding en Denken an.»
«‹Wie sie reden›, dachte der Abt. ‹Höchst ordinär›.»
Noch ordinärer fast als das Platt aus der Zeit der Buddenbrooks. Als der Abt dann doch das Fäßchen entdeckt, das die Fischer zu kaschieren versuchen, werden sie verlegen: «Puhr Pipels Stoff», murmelten jene. «Da kehrt ein Herr gar nicht vor.»
Poor people’s stuff. Man merkt den Fischern an, daß Thomas Mann lange in Amerika gelebt hat. Und, kehren wir dran? Who cares!
Es spricht nicht das geringste gegen stilisierte Dialoge, die klassische dramatische Literatur verschwände ohne sie. Es spricht auch nicht zwingend etwas gegen gleichförmige Figurensprache in der dramatischen Literatur. Dies zumindest ist der bedenkenswerte Einwand, den Burkhard Müller in seiner Schiller-Studie vorträgt. Müller weist dort die Vorstellung, jede Figur müsse durch ihre eigene Sprache, ihre eigene Beschädigung charakterisiert sein, müsse gewissermaßen anders hinken, als naiv modern zurück. Schiller und vor ihm Lessing hätten es als Zumutung von sich gewiesen, gar als Verrat an ihren Figuren, gäben sie ihnen nicht jeder von ihnen gleichmäßig das Beste mit, das sie als Autoren hätten, ihre Sprache. Man möge es unrealistisch finden, aber beide Autoren gestünden ausnahmslos jeder Figur dieselbe Noblesse zu.
Ein ernst zu nehmender Einwand, obschon … Daß ausnahmslos alle Figuren schillerisieren, wie Burkhard Müller es nennt, fällt selbst ihm störend auf, wenn es um das spätere dramatische Werk geht.
Schwierig wird es dann, wenn ein realistischer Roman vorgibt, seine Figuren glaubwürdig sprechen zu lassen, der Leser es ihm aber nicht abnimmt.