Der hervorragende Fall für dieses «Nicht Fisch, nicht Fleisch» ist – und wir hören die Entrüstungsrufe der Leser – Theodor Fontane. Wie? Fontane, der gerade für seine Dialogkunst so gepriesene Schöpfer der preußischen Gesellschaftsromane, der Schöpfer der von vielen über die Madame Bovary gestellten Effi Briest?! Eben der.

Vieles an Fontane ist entzückend. Seine Essenz ist wie in einer dicken Phiole in seinem Alterswerk Der Stechlin konserviert, dessen Erscheinen im Oktober 1898 sein Verfasser um einen Monat verpaßte, abberufen vom Tod. Die Krankheit zum Tode hatte er seiner Hauptfigur auf den Leib geschrieben, dem Dubslav von Stechlin, Major a.D. von altem märkischen Adel und Bewohner des gleichnamigen Schlosses. «Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich – das ist ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht», hatte Fontane von seinem altersradikalen Roman angekündigt, und nicht übertrieben damit. Der Rest ist nicht Schweigen, der Rest ist: Dauergeplauder. Hoch gebildetes, amüsantes, geistreiches, oft bummeliges, manchmal biblisch feierliches und immer gleiches Dauergeplauder. Nur ganz wenige Momente gibt es, in denen die Sprache sich zurückzieht und sich der Grenze des Verstummens nähert. Ein solcher Moment, der durchaus Grandezza entfalten kann, ist die Szene, in der Dubslav von Stechlin begreift, daß seine Krankheit in die letzte Phase übergeht. Sein Diener Engelke überreicht ihm das rundliche Fläschchen mit der Medizin, die ihm besorgt worden ist. «Dreimal täglich zehn Tropfen» steht auf einem angebundenen Zettel.

Dubslav hielt die kleine Flasche gegen das Licht und tröpfelte die vorgeschriebene Zahl in einen Löffel Wasser. Als er sie genommen hatte, bewegte er die Lippen hin und her,

Fingerhut, Digitalis – ein Mittel gegen Herzinsuffizienz. Das ist nicht nur in der Wortkargheit, die alles Pathos abwehrt, sondern auch im Vergleich mit der Weinprobe stark. Es steckt eine gewisse Neugier darin: Wie wird er schmecken, der Tod? Ein ganz neues Bouquet?

Freilich, solche lakonischen Stellen im Stechlin sind rar. Selbst Dubslavs ruhiges Sterben mündet wieder in eine Sentenz; Fontanes Schwäche für die Sentenz ist ohnehin sein Hauptmerkmal.

Engelke ging, und Dubslav war wieder allein. Er fühlte, daß es zu Ende gehe. «Das ‹Ich› ist nichts – damit muß man sich durchdringen. Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er ‹Tod› heißt, darf uns nicht schrecken. In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sittlichen Menschen und hebt ihn.»

Er hing dem noch so nach und freute sich, alle Furcht überwunden zu haben. Aber dann kamen doch wieder Anfälle von Angst, und er seufzte: «Das Leben ist kurz, aber die Stunde ist lang.»

Ein mot, ein memorabler Aphorismus. Seufzt man so auf dem Sterbebett? Ergreifend oder doch wieder zu wohltemperiert und harmlos proverbial? Die dauerhaft mittlere Temperatur bei Fontane, bei dauerhaft dahinplätscherndem Gerede, das macht ihn à la longue so leicht ausrechenbar wie schwer ermüdend. Robert Neumann wirft eine Seite Fontane an einem Vormittag hin. Bei Gottfried Keller bräuchte er etwas länger.

Und ihm, Gottfried Keller, hatte ausgerechnet Fontane in einer sehr honorigen Besprechung einen bestimmten Vorwurf gemacht.

Das allerdings war ein Bumerang, der niemand anderen niederstreckt als ihn selbst. Noch einmal: Nichts gegen Fontane! Nichts vor allem gegen seine Erinnerungen Meine Kinderjahre und nichts gegen Vor dem Sturm, nichts gegen Irrungen, Wirrungen oder gar Effi Briest. Aber es ist der Fontane-Ton, dem er seine ganze preußische Gotteswelt überliefert, dieser immer gleiche Ton, den man irgendwann nur noch schwer erträgt. Es ist wie mit Wassermelonen, gegen die man prinzipiell nichts einwenden kann, an denen man sich aber irgendwann überißt.

Denn genau das, was als seine Stärke gilt, ist auf Dauer seine Schwäche: die Kunst der wörtlichen Rede. Alle Figuren sind hoch sprachbewußt und kommentieren beständig ihre eigene Wortwahl und Ausdrucksweise, das ist im Stechlin schon eine Marotte. Die Figuren klopfen die Sprache auf Phrasen und hohle Konvention ab, sie lassen sich sprachlich kein X für ein U vormachen und sind immer erst einmal ironisch. Und alle tun es auf die gleiche Art. Es wäre ein leichtes, aber auch müßiges, Stellen zu montieren, bei denen sich unmöglich unterscheiden ließe, ob sie von Dubslav oder Czako oder Woldemar, ob sie von Frau von Gundermann oder von Melusine gesprochen (respektive: gelacht) werden. Oder auch vom alten Briest. Sie alle klingen nach their master’s voice.

Als Beispiel nur für die Zweifler, die oben aufgeschrien haben, Fontanes Manier des «oder doch». Wer könnte die Figuren auseinanderhalten? Graf Barby sagt: «daß ich dem armen Wrschowitz seinen Musikdoktor gönnen oder doch mindestens verzeihen muß». Woldemar: «Er verändert sich dann nicht in dem, was er sagt, oder doch nur ganz wenig»; Armgard: «Wir sind ja eigentlich

Eben. Nicht so ganz oder eigentlich gar nicht könnte man sie unterscheiden. Und selbst wenn Fontane eine Figur einmal individuell sprechen lassen will, hält er es nicht lange durch. Es gibt da den tschechischen Musiklehrer Nils Wrschowitz, dem der Graf Barby den Doktortitel gönnt oder doch mindestens verzeiht. Fontane bemüht sich zunächst um die Markierung der fehlerhaften Syntax und des Akzents. Nach Berlin befragt, sagt Dr. Wrschowitz: «Eine serr gute Stadt, weil es hat Musikk und weil es hat Krittikk.» Und die Berliner Menschen? «Oberklasse gutt, Unterklasse serr gutt; Mittelklasse nicht serr gutt.» Der Leser versteht: Der tschechische Doktor ist des Deutschen nur passabel mächtig, der Artikel ist Glückssache, er meidet den komplizierten Satzbau, er meidet selbst das einfache Verb «sein». Doch schon bei Wrschowitz’ nächster Replik wankt die Sprach-Fassade leicht:

«Mittelklassberliner, wenn spricht andrer, fällt in Krampf. In versteckten Krampf oder auch in nicht versteckten Krampf. In verstecktem Krampf ist er ein Bild des Jammers, in nicht verstecktem Krampf ist er ein Affront.»

Der letzte Satz ist reinster Fontane, man hört nichts mehr von schiefer Syntax, Verbvermeidung und starkem Akzent. Ganz fällt die Fassade, als Wrschowitz sich zum Thema der einerseits Damen und andererseits Madams äußern soll. Wrschowitz führt über die Madam aus: «Und wenn sie zu Paul spricht, der ihr Jüngster ist, so sagt sie: ‹Jott, dein Vater.› Oh, die Madamm! Einige sagen, sie stürbe aus, andere sagen, sie stürbe nie.»

Unser radebrechender Tscheche imitiert plötzlich perfekt das Berlinerische, flicht Relativsätze ein, benützt die schwersten

Und man nimmt es ihnen nicht ab, wie sie plaudern, wo sie doch nichts anderes tun. Die Technik, die Welt ganz im Gespräch aufgehen zu lassen und ganz in Dialog zu überführen, ist eine literarische Neuerung, deren Verdienst dem Maître-Causeur nicht bestritten sei. Nicht einmal Landschaften und Orte werden auktorial beschrieben, auch das lagert der alte Fontane ins Geplauder aus. Hören wir, wie sich Dubslavs Sohn Woldemar, Hauptmann von Czako und Reserveoffizier von Rex zu Pferd dem Schloß Stechlin nähern:

«Alle Wetter, Stechlin, das ist ja reizend», wandte sich Czako zu dem am anderen Flügel reitenden Woldemar. «Ich find es geradezu märchenhaft, Fata Morgana – das heißt, ich habe noch keine gesehn. Die gelbe Wand, die da noch das letzte Tageslicht auffängt, das ist wohl Ihr Zauberschloß? Und das Stückchen Grau da links, das taxier ich auf eine Kirchenecke. Bleibt nur noch der Staketzaun an der andern Seite; – da wohnt natürlich der Schulmeister. Ich verbürge mich, daß ich’s damit getroffen. Aber die zwei schwarzen Riesen, die da grad in der Mitte stehen und sich von der gelben Wand abheben (‹abheben› ist übrigens auch trivial; entschuldigen Sie, Rex), die stehen ja da wie die Cherubim. Allerdings etwas zu schwarz. Was sind das für Leute?»

«Das sind Findlinge.»

«Findlinge?»

«Ja, Findlinge», wiederholte Woldemar. «Aber wenn Ihnen das Wort anstößig ist, so können Sie sie auch Monolithe nennen. Es ist merkwürdig, Czako, wie hochgradig

Dies alles im Sattel nebeneinanderher reitend gesprochen. Glaubt man’s? Nicht die Bohne.