Klassik: Die Gewaltigen

Wenn man Briefsammlungen aus der Zeit der Weimarer Klassik liest, fallen stilistisch drei Autoren heraus, deren Personalstil so unverwechselbar und prägnant ist, daß man sie nach wenigen Zeilen erkennt: Lessing, Wieland und Goethe. Man kann es schlecht begründen, aber man merkt sofort, daß hier Größenunterschiede vorliegen wie zwischen Hauskätzchen und Löwe: all die empfindsamen Schwärmer der Zeit auf der einen Seite und dann der trockene, ironische Wieland, der große stoische Lessing, der quecksilbrige Goethe.

Goethe? «Man kann ihn so wenig loben als man an dem Lorbeerbaum einen Lorbeerkranz hängt», sagte Jean Paul, der dennoch auch wußte: «Göthe in den Wanderjahren mehr ein Buchbinder als ein Buchmacher.» Gerade der Spätstil Goethes hat manche Skeptiker auf den Plan gerufen. Peter Sloterdijk schreibt über ihn: «Durchgehend ist der Gebrauch des Adjektivs beim alten Prosa-Goethe harmoniesüchtig, zwanghaft dem Guten und Positiven ergeben, wie von einem Daseinsdekorateur hingesetzt. Der Einsatz des Verbums ist zeremoniell überzogen. Den Gedanken an die Handlung hat der alte Herr längst aufgegeben, statt dessen bietet er immer öfter Veduten an, am liebsten von Parks mit Schlössern und Stuben, in denen ruhiggestellte Frauen am Stickrahmen sitzen – man möchte schwören, sie arbeiten auch an Bildern von Schlössern mit Parks und leisen Frauen mittendrin.»

Nun, vielleicht nicht gleich schwören, aber doch argwöhnen. Und doch hat derselbe alte Goethe, der die Prosa auf und ab

«An seinen Platz ein jeder Gauch!» – «Weg das Hassen! Weg das Neiden!» – «Tretet nicht so mastig auf / Wie Elefantenkälber» – «Der Frühling webt schon in den Birken, / Und selbst die Fichte fühlt ihn schon» – «Es schweigt der Wind, es flieht der Stern» – «Wie strack mit eignem kräftigen Triebe / Der Stamm sich in die Lüfte trägt» – «Eilig zum Ägäischen Meere / Würd uns jede Lust zuteil» – «Da seh ich junge Hexchen nackt und bloß, / Und alte, die sich klug verhüllen» – «Satan, unsern Herrn Papa, / Nach Würden zu verehren» – «Denn, geht es zu des Bösen Haus, das Weib hat tausend Schritt voraus» – «Au! Mitten im Gesang sprang / Ein rotes Mäuschen ihr aus dem Munde» – «Nur immer diese Lust zum Wahn!» – «In dem Klaren mag ich gern / Und auch im Trüben fischen» – «Auf Teufel reimt der Zweifel nur» – «zaudern und plaudern […] Der Morgen dämmert auf».

Oder um zuletzt die Sternschnuppe zu zitieren: «Liege nun im Grase quer / Wer hilft mir auf die Beine?»

Goethe ist ein Sprachturm, den wir hier weder erklimmen noch auch nur umrunden können. Jedes Pfeilchen, das wir gegen ihn abschießen, ist mutwillig und platzt an ihm ab. Goethe ist Gott; aber ein fehlbarer und in einer Welt der Vielgötterei. Auf andere Art sind auch Jean Paul oder Wieland oder Lessing Gott, übrigens viel ausgeprägtere Prosa-Stilisten, als Goethe es nach seiner Sturm-und-Drang-Zeit war.

Den jungen Goethe hatte der als Atheist verschriene Herder durch sein galantes und gefälliges Wesen beeindruckt. Uns beeindruckt er durch seinen frühen Beitrag zur Klimadebatte. Herder in seinen Ideen zur Geschichte der Menschheit:

Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre.

Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirket.

Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren’s nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert. Ohne Polizei und Kunst wäre Ägypten ein Schlamm des Nils worden: es ist ihm abgewonnen, und sowohl hier als im weitern Asien hinauf hat die lebendige Schöpfung sich dem künstlichen Klima bequemet.

Und in der Tat, sie hat es uns gelehrt.

Noch einhelliger als bei Herder fiel das Lob der Zeitgenossen im Falle Lessings aus. Ludwig Börne schreibt über ihn:

Die deutsche Sprache hat – der Himmel sei dafür gepriesen – keinen Stil, sondern alle mögliche Freiheit, und dennoch gibt es so wenige deutsche Schriftsteller, die das schöne Recht, jede eigentümliche Denkart auch auf eigentümliche Weise darzustellen, zu ihrem Vorteile benutzten! Die wenigen unter ihnen, die einen Stil haben, kann man an den Fingern abzählen, und es bleiben noch Finger übrig. Vielleicht ist Lessing der einzige, von dem man bestimmt behaupten kann: er hat einen Stil.

Nun denn! Was Börne, selbst ein eminenter Stilist, von Lessing bündig festsetzt, wird von Friedrich Schlegel etwas genauer beschrieben. Es ist geradezu schwärmerisch, wie er sich über ihn ausläßt. Oder war der letzte Satz vergiftet?

Das beste, was Lessing sagt, ist, was er, wie erraten und gefunden, in ein paar gediegenen Worten voll Kraft, Geist und Salz hinwirft, Worte, in denen, was die dunkelsten Stellen sind im Gebiet des menschlichen Geistes oft wie vom Blitz plötzlich erleuchtet, das Heiligste höchst keck und fast frevelhaft, das Allgemeinste sonderbar und launig ausgedrückt wird. Einzeln und kompakt, ohne Zergliederung und

Lessing und der grob vernachlässigte Wieland seien den Lesern damit zur gefälligen Lektüre anempfohlen, auch wenn wir auf weitere Proben verzichten müssen. Nur noch ein Wort zu Goethes engstem Freund, über dessen frühen Tod er lang nicht hinwegkam und um dessen Schädel, bei ihm verwahrt, er einen Ehrenkult trieb.

Über Schiller als Lyriker und über den Schiller des Wilhelm Tell hat Burkhard Müller in seiner Studie Der König hat geweint sehr Freches und Richtiges gesagt.

Zu Schiller als Lyriker nämlich, daß er das sei, was man in der Medizin als seelentaub bezeichne: nicht nur gehörsschwach, sondern neurologisch unfähig, Klang zu verarbeiten. Es habe ihn nicht davon abgehalten, Gedichte zu schreiben – «wie wenn ein Tauber unbedingt das Tanzen lernen wollte.» Hart geurteilt, aber ganz ungerecht?

Müllers Stilkritik der Schillerschen Dramensprache von dem Augenblick an, in dem Schiller sich dem Blankvers zuwendet, ist unübertroffen, weshalb hier nur auf sie zu verweisen ist. Kurz gesagt, bedauert Müller, daß mit dem Blankvers jeder Gedanke, jeder Affekt mit demselben gravitätischen Schritt gehe, bis hin zu den fünf Bärenfüßen, auf denen der Tell wandle. «Wenn Tell sich setzt, so muss er dazu sagen: ‹Auf diese Bank von Stein will ich mich setzen.› Der Hintern gerät ihm so feierlich wie das Gesicht und das Gesicht so breit wie der Hintern.» Müller schließt mit dem Seufzer, er gäbe was darum, wenn Schiller den Tell unterlassen hätte. Aber schon beim weithin gerühmten Don Carlos, aus dem

Übers rein Stilistische hinaus geht das Fazit, das Müller nach Analyse des Don Carlos zieht und dem wir uns umstandslos anschließen wollen. Man müsse vom Idealismus nur ein klein wenig die Decke des Enthusiasmus heben, und es trete sein unmenschlicher Kern zutage. «Bei Schiller wird so entsetzlich leicht gestorben.»