Grimms Ton

Große Stilisten auf ganz unscheinbare und versteckte, aber lang nachhallende Art waren auch zwei Autoren, die man als solche gar nicht gleich im Blick hat. Man kennt sie auswendig, aber übersieht sie als Sprachschöpfer: die Brüder Grimm. Die Grimmsche Märchensammlung, vorgeblich dem Volksmund abgelauscht, ist die wirkmächtigste Märchensammlung der Welt. Der von Goethe geschöpfte Begriff der Weltliteratur trifft wenige Werke so genau wie Grimms Märchen. Die Sprache dieser Märchen, eine mit Golddukaten gefüllte Truhe, ist wie die Sprache der Luther-Bibel, an der sich Wilhelm Grimm orientiert hatte, Teil des Weltkulturerbes.

Und sie hat mit Volkssprache so wenig zu tun wie die Volkslyrik Brechts. Sie ist ein Kunstprodukt, der Märchenton ist eine Erfindung Wilhelm Grimms. Man vergleiche, wie das Märchen vom Froschkönig in der ersten Fassung von 1810 anhebt und wie sich der Ton bis zur dritten Fassung 1857 wandelt:

So hatten es die Brüder Grimm damals für die Sammlung Clemens Brentanos komprimiert. An den äußeren Umständen von Prinzessin, Brunnen und Kugelverlust hat sich in den nächsten fünfzig Jahren nichts geändert. Aber lesen dürfen wir es jetzt so:

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen; wenn nun der Tag sehr heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens: und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.

Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, daß man keinen Grund sah. Da fing sie an zu weinen und weinte immer lauter und konnte sich gar nicht trösten. Und wie sie so klagte, rief ihr jemand

All das, was in der ersten, kahlen Fassung noch fehlt, all der Zierat im vermeintlich original behaglichen Märchenton ist eine Erfindung Wilhelm Grimms. Jeder kennt seinen Ton, keiner kennt ihn; er ist als Stilist anonym geworden. Seinen Namen zu verlieren und im Meer des Gemeinguts aufzugehen – ist es vielleicht die größte Ehre, die ein Autor erlangen kann? So sah es Robert Gernhardt, der sich freute, wenn er eigene Zeilen als Volksmund auf Klotüren gekritzelt fand.

Auch das kann einen Stilisten auszeichnen: daß er seinen Sätzen Fangarme verleiht, die sich sofort im Leserhirn festsaugen. Friedrich Schiller war ein solcher Kraken-Stilist, der sich amüsiert hätte über die Reaktion der Leser in späteren Jahrhunderten, die beim Durchblättern seiner Dramen ausrufen, das sei ja leicht zu schreiben gewesen, das seien ja alles Sprichwörter und Zitate!

Um bei den Grimms zu bleiben: Ein Purist und gewiegter Fuchs könnte argumentieren, daß die letzte Froschkönig-Fassung schon wieder etwas overdone sei und der Charme des Märchentons doch gerade im Kahlen, Archaischen und Ungeschmückten liege – Gotik statt Barock. Und daß ein Märchen wie das kurze und schmucklose vom Herrn Korbes, eines der bizarrsten Märchen überhaupt, in dem ein Ei, eine Ente, eine Steck- und eine Nähnadel und ein fataler Mühlstein sich gegen jenen Herrn Korbes verbünden, um ihn erst zu triezen und dann zu erschlagen – das Märchen, das mit dem abgründigen Satz endet: «Der Herr Korbes muß ein recht böser Mann gewesen sein» –, daß gerade solche vom Kargen ins offen Groteske spielende Märchen doch die allersonderbarsten seien?

Es war einmal eine Königstochter, die ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen. Sie hatte eine goldene Kugel, die war ihr liebstes Spielwerk, die warf sie in die Höhe und fing sie wieder in der Luft und hatte ihre Lust daran. Einmal war die Kugel gar hoch geflogen, sie hatte die Hand schon ausgestreckt und die Finger gekrümmt, um sie wieder zu fangen, da schlug sie neben vorbei auf die Erde, rollte und rollte und geradezu in das Wasser hinein.

Die Königstochter blickte ihr erschrocken nach, der Brunnen war aber so tief, daß kein Grund zu sehen war. Da fing sie an jämmerlich zu weinen und zu klagen: «ach! wenn ich meine Kugel wieder hätte, da wollt’ ich alles darum geben, meine Kleider, meine Edelgesteine, meine Perlen und was es auf der Welt nur wär’.» Wie sie so klagte, steckte ein Frosch seinen Kopf aus dem Wasser und sprach: «Königstochter, was jammerst du so erbärmlich?»

Das «was es auf der Welt nur wär’» ist natürlich unbezahlbar. Trotzdem wäre es ewig schade um die Formel «In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat». Von diesen Märchenformeln gilt: Und weil sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Es hat vielleicht irgend etwas zu bedeuten, daß auch ein anderer Gipfelpunkt der Sprach- und Stilkunst dieser Epoche nicht ein Werk der freien Fiktion ist, sondern eine Hybrid-Form: die Shakespeare-Übersetzung von Schlegel und Tieck. Sie ist bis heute nicht übertroffen, und es genügt die Weglaßprobe, um es sich