In seinem schmalen und klaren Buch Umblättern und andere Obsessionen schreibt Michael Köhlmeier über seine Legasthenie. Er habe immer langsam und mühsam lesen müssen, mit den Lippen die Buchstaben nachformend, diesem Handikap seien aber auch Vorteile entsprungen. Der sehr langsam Lesende sei besser gerüstet, gute Literatur von schlechter zu unterscheiden. «Wiederholungen, Klischees, Ungenauigkeiten, Umständlichkeiten, geringer Wortschatz, zu wenige oder zu viele Worte mit Strahlkraft (Strahlkraft meint in diesem Zusammenhang, dass die Worte selten bis seltsam, besonders wohlklingend oder in ihrem Umfeld ungewöhnlich sind), all das fällt dem Langsamen unerbittlicher auf die Nerven als dem Hurtigen. Der Langsame, seine Lebens- und Leseökonomie bedenkend, kann es sich nicht leisten, schlechte Bücher zu lesen!»
Köhlmeiers Erklärung liest sich wie die Beschreibung ex negativo des guten Stils. Und wir stoßen hier wieder auf die versteckte Kategorie des Aptum: Nicht nur zu wenige, auch zu viele Wörter mit Strahlkraft können stören. Das Maß entscheidet.
Ein Lyrik-Beispiel für dieses richtige Maß an Wörtern mit Strahlkraft wäre Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann, ein zu Recht berühmtes, raffiniertes Rondo, bei dem alles an dem schillernd strahlenden Verb «gestundet» hängt. Alle anderen Wörter sind schlicht und eingängig; dann strahlen wieder die «Marschhöfe», das Zentrum der zweiten Strophe. In der dritten Strophe ist es die schön alliterierende Metapher, das «Licht der Lupinen», aber auch der im Hochdeutschen ungeläufige «spurende» Blick. Es ist genau das richtige Maß an gewöhnlichen und leicht ungewöhnlichen Wörtern.
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Man stundet einem Schuldner vorläufig dessen Außenstände. Bachmann verschiebt das aufs Kapital der Lebenszeit. Auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar, das heißt: Du merkst, du wirst älter, es kann dich jederzeit erwischen. Bachmanns aus der Sphäre des Finanzjuristischen ins Existentielle gehobene Formulierung ist der tragende Einfall des Gedichts.
Die Stilistin hat etwas winzig Neues in die Welt gebracht. Sie hatte Einfälle. Der Einfall ist eine der wichtigsten Kategorien des Stils. Er macht sich vor allem durch sein Fehlen oder durch Fülle bemerkbar. Bei Polgar haben wir einen Einfall pro Satz. Bei Schnitzler haben wir keinen Einfall pro Seite – gut ist er trotzdem. Die meisten Einfälle pro Seite hatte Vladimir Nabokov. Aber auch Hildegard Knef hat eine Menge.
Was definiert den Einfall? Nichts. Wenn er sich definieren ließe, wäre es keiner mehr. Der Einfall ist die kleine überraschende Abschweifung vom protokollierten Weg, das Pflücken der von andern unbeachteten schönen Beere; die witzige Verschiebung oder Umdeutung, die syntaktische oder rhythmische Kühnheit, das Wortspiel, die Metapher, der neue Gedanke. Oder auch im Großformat: die neue Romanform. Auch der Ulysses von James Joyce, ursprünglich als kurze Erzählung geplant, verdankt sich der Urzeugung eines Einfalls – laß deinen Helden einen Tag durch Dublin ziehen, und lege als mythologische Schicht den Odysseus der Antike darunter.
Die meisten Einfälle verdanken sich einer winzigen Verschiebung. «Die geringe Abweichung macht den Stil», bemerkt Botho Strauß. Aus der kleinen Abweichung speist sich große Poesie, oft aber auch der Witz. «Schöner Fisch, hat der einen Namen?» – «Koi Uwe.» Vom a zum o, das ist die kleine witzerzeugende Differenz. Max Goldt, ein Meister des Buchtitels, gab gelegentlich zu, eine Textsammlung nur deshalb Der Krapfen auf dem Sims betitelt zu haben, weil er den Verleser «Der Karpfen auf dem Sims» hervorkitzeln wollte.