Hebel hat viel unterrichtet, er muß ein großer Pädagoge gewesen sein. Belehren und Unterhalten vermählen sich bei ihm in festlich schlichter Kunstprosa. Daß Hebel gerade als Stilist ein Vorbild für Walter Benjamin und für Ernst Bloch war, spricht für alle drei. Auch Goethe schon rühmte Hebels raffiniert schlichten Volkston: So leicht alles hingegossen scheine, so gehöre bekanntlich viel mehr dazu, etwas zu schreiben, dem man die Kunst und den Fleiß nicht ansehe und das «in der nämlichen Form um den Beifall der Gebildeten zugleich und der Ungebildeten ringt».
Geboren wurde Johann Peter Hebel 1760 in Basel als Sohn eines Leinwebers. Mit dreizehn war er Vollwaise, ein Jahr später ging er aufs Gymnasium in Karlsruhe, wo er bis zu seinem Tod 1827 lebte. Hebel wurde Professor für Hebräisch, Latein, Griechisch und Naturwissenschaften, er war Schulrektor, Kirchenrat und endlich Redakteur, weshalb wir ihn heute noch kennen. 1811 erschien sein Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, eine Sammlung pädagogischer Geschichten und Anekdoten, die Hebel seit 1804 für den Badischen Landkalender und den Rheinischen Hausfreund verfaßt hatte. Hebel hat sich diese Anekdoten nicht alle selbst ausgedacht, viele zog er aus anderen Quellen, doch ließ er’s nicht beim bloßen Abschreiben bewenden, wie er in der Vorrede erklärt, «sondern bemühte sich, diesen Kindern des Scherzes und der Laune auch ein nettes und lustiges Röcklein umzuhängen», kurzum: Literatur daraus zu machen.
Und so klingt es, wenn der rheinländische Hausfreund seine teils gebildeten Leser über allerhand Kurioses in der Tierwelt unterrichtet:
Die kleinsten Vögel, die man kennt, heißen Kolibri. Sie sind in Südamerika daheim, haben wunderschöne Farben von Gold- und Silberglanz, legen Eilein, so nicht größer sind, als eine Erbse; und werden nicht mit Schroten geschossen, sondern mit kleinen Sandkörnlein, weil sonst nichts Ganzes an ihnen bliebe. Neben ihnen wohnt eine Spinne, die ist so groß, daß sie diese armen Tierlein wie Mucken fängt und aussaugt. Doch das weiß der geneigte Leser schon, denn er ist ein belesener Mann.
So verbeugt sich Hebel mit, wie es bei Thomas Mann einmal heißt, nicht nachweisbarer Ironie vor seiner Leserschaft, die doch immerhin etwas von ihm lernen und erfahren soll von der weiten Welt. Die Neigung zu Diminutiven – Eilein, Körnlein, Tierlein – zeigt die Gattung an: Der gute Hirte spricht zu seinen Kindern.
Der größte unter allen Vögeln, die fliegen können, ist der Kondor, ein Landsmann des Kolibri. Dieser mißt mit ausgespannten Flügeln 16 Fuß, seine Flügelfedern sind vorne fingersdick, also daß man schön Fraktur damit schreiben könnte; und das Rauschen seiner Flügel gleicht einem fernen Donner.
Aber der allergrößte Vogel ist der Strauß in den Wüsteneien von Asien und Afrika, der aber wegen seiner Schwere und wegen der Kürze seiner Fittiche gar nicht fliegen kann, sondern immer muß auf der Erde bleiben. Doch trägt er seinen Kopf 9 bis 10 Fuß hoch in der Luft, kann weit herumschauen, und könnte, wie ein guter Freund neben einem Reiter auf seinem Roß herlaufen und mit ihm reden, wenn ihm nicht Vernunft und Sprache versagt wären.
Der letzte Satz deutet schon auf ein charakteristisches Stilmittel des Hausfreunds, die humoristische Empathie mit dem Nicht-Menschlichen. Hebel beendet seinen Klein und groß überschriebenen Vortrag mit einem Verweis auf manche Irrtümer der Vor-Aufklärung:
In den fabelhaften Zeiten hat man geglaubt, daß es eine ganze Nation von Menschen gebe, die von dem Boden weg nur 2 Fuß hoch seien. Der Lügenprophet Mahomet aber behauptete einmal, er habe den Erzengel Gabriel gesehen, und es sei von seinem rechten Auge über den Nasenwinkel bis zum linken, ein Zwischenraum von 70000 Tagreisen.
Was doch stark übertrieben klingt. Der Protestant Johann Peter Hebel war übrigens den andern Weltreligionen gegenüber tolerant und aufgeschlossen, es gibt viele (auch das muß Goethe geschätzt haben) morgenlandfreundliche Bemerkungen im Schatzkästlein. Als Professor für Hebräisch war er, im Vergleich etwa zu Fichte oder den Romantikern überhaupt, geradezu philosemitisch. Ein Beispiel wäre die Anekdote mit der Überschrift Der wohlbezahlte Spaßvogel.
Wie man in den Wald schreit, so schreit es wieder heraus. Ein Spaßvogel wollte in den neunziger Jahren einen Juden in Frankfurt zum besten haben. Er sprach also zu ihm: «Weißt du auch, Mauschel, daß in Zukunft die Juden in ganz Frankreich auf Eseln reiten müssen?» Dem hat der Jude also geantwortet: «Wenn das ist, artiger Herr, so wollen wir zwei auf dem deutschen Boden bleiben, wenn schon Ihr kein Jude seid.»
Man muß es wegen mancher Spracheigentümlichkeiten vielleicht zweimal lesen, um es recht aufzufassen. Es beginnt gleich mit dem «wohlbezahlt» in der Überschrift, was meint: dem gut heimgezahlt wurde; und endet mit dem «wenn schon Ihr kein Jude seid», was heißt: obwohl Ihr keiner seid. Die Conclusio, daß der Spaßvogel, wenn er denn kein Jude ist, demnach der Esel sei – aber die geneigte Leserin war nicht so begriffsstutzig und hat es gleich kapiert.
Hebel verkörpert, wie Wieland und Goethe und die Brüder Humboldt, den schönsten Geist der deutschen Aufklärung. Die Leute glauben viel Abwegiges, was er ihnen ausreden will. Sie glauben zum Beispiel, daß ein Komet Unglück bringe, daß er die Unglücke herbeizöge oder wie ein Postreiter anzeige. Aber nein, belehrt Hebel seine Leser: Irgendwo auf dem weiten Erdenrund, diesseits oder jenseits des Meeres, geschehe alle Jahre so gewiß ein großes Unglück, «daß diejenigen, welche aus einem Kometen Schlimmes prophezeien, gewonnen Spiel haben, er mag kommen, wann er will. Gerade als wenn ein schlauer Gesell in einem großen Dorf oder Marktflecken in der Neujahrsnacht auf der Straße stünde und nach den Sternen schaute und sagte: ‹Ich sehe kuriose Sachen da oben, dieses Jahr stirbt jemand im Dorf.›»
Nicht nur über den Kometen-Aberglauben, auch über Sonne, Mond und die Sterne respektive Planeten will Hebel seine Leser aufklären, indem er vertraulich mit ihnen plaudert. «So etwas erzählt der Hausfreund nicht allen Leuten; aber seinen Lesern kann er nichts vorenthalten, damit sie sehen, was wir Sterndeuter und Kalendermacher für respektable Leute sind, so die Sterne des Himmels überschauen, wie ein Hirt seine Schäflein oder ein Schulherr seine Kinder, und merkt gleich, wenn eins fehlt.»
Man hört, daß er auch Prediger war und den Ton der Bibel aufgreift, wie es später Thomas Mann im Joseph tun wird.
Der predigende Hausfreund ahnt jedoch, daß er beim Publikum nicht so leicht durchdringen wird. Aufklärung ist mühsam, wenn die Sinne einem täglich etwas anderes vorgaukeln. Die Sonne geht auf und unter, das geozentrische Weltbild ist nicht so leicht, um ein Wortspiel zu wagen, auszuhebeln. Wie man meine, die Sonne gehe in 24 Stunden um die Erde herum, «so meinen wir, alle Sterne gehen auch in größern und kleinern Zirkeln um die Erde herum. Aber nein. Die Erde vollendet in 24 Stunden ihren Wirbel um sich selbst, und kommt so an den Sternen vorbei, nicht die Sterne an ihr. Doch darauf kommt es so viel nicht an.» Es folgt der leicht resignierte Schluß: «Aber der geneigte Leser glaubt’s nicht. Ich weiß es schon.»
In seinen Schlußsätzen ist Hebel immer besonders stark. Sie sind knapp und prägnant. «So sieht’s aus.» – «Was du zu tun hast, mach’s auch so!» – «So viel man weiß, gern wüßte man noch mehr.» Nach Ausführungen über die Weite der Milchstraße, wo ein paar hundert Sterne aussähen wie ein Nebelfleck, den man mit einem badischen Kreuzer bedecken könnte: «Es gehört nicht viel Verstand dazu, daß er einem still stehe.»
Wie man bemerkt haben wird, sind Hebels Geschichten von untergründiger, lakonischer Komik. Diese Komik entsteht vorwiegend durch Vermenschlichung. Vögel wie der Strauß werden wegen fehlender Gesprächspartner bedauert. Planeten werden bedauert wie auseinandergerissene Familien: Einer sei in vier Stücke zersprungen, «und muß ein rechtes Betrübnis gewesen sein, wenn ein Vater oder eine Mutter auf einem Stück geblieben ist, und die Kinder auf einem andern, und konnten hernach nichts mehr von einander erfahren, und einander durch niemand grüßen lassen». Auch über den Grottenolm macht Hebel sich Gedanken:
Solch ein Tierlein in seiner verschlossenen Brunnenstube hat ein geheimliches Leben und Wesen, sieht nie die Sonne auf- oder untergehen, erfährt nichts davon, daß der Prinz von Brasilien nach Amerika ausgewandert ist, und daß die englischen Waren auf dem festen Land verboten sind, weiß nicht, ob’s noch mehr solche Brunnenstuben in der Welt gibt, oder ob die seinige die einzige ist, und ist doch in seinem nassen Element des Lebens froh, und hat keine Klage und keine Langeweile.
Langeweile kommt nicht auf, wenn Hebel in seinem trockenen Ton aus Anlaß solipsistischer Grottenolme über die Weltpolitik und das Vermischte des Tages erzählt. Allein, er kann auch bewegend sein. Die schönste Perle im Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes ist die berühmte Geschichte Unverhofftes Wiedersehen. Man kann sich an diesen zwei Seiten Prosa, die man unsterblich nennen darf, nicht satt lesen, so wie man sich an manchen Musikstücken, einer Suite von Bach, einem Schubert-Lied, nicht satt hören kann. Je öfter man das Unverhoffte Wiedersehen liest, desto stärker berührt es einen, und desto mehr bewundert man Hebels Kunst.
Unverhofftes Wiedersehen ist eigentlich eine Kürzest-Novelle mit der dazugehörigen unerhörten Begebenheit. Ein junger Bergmann und frisch Verlobter wird acht Tage vor seiner Hochzeit im Bergwerk von Falun verschüttet. Die verwitwete Braut bleibt ihm zeit ihres Lebens treu. Zum Finale setzt Hebel ein Stilmittel ein, das seither Epoche gemacht hat; wer immer etwas Ähnliches versucht, steht in seiner Schuld. Hebel läßt in fünf Sätzen ein halbes Jahrhundert vorbeiziehen:
Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte russisch Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.
Es ist eine einzigartige Engführung historischer Zeit in ruhigem parataktischen Ton, eine Art Prosa-Daumenkino, das fünfzig Jahre bewegt vergehen läßt, die Zeit, in der die Verlobte um ihren verschütteten Liebsten trauert. Hebel ruft bei den Lesern ein historisches Großereignis nach dem anderen in Erinnerung, um endlich zurückzugleiten ins allmähliche Verstreichen der Alltags-Zeit mit ihren täglichen Verrichtungen; der Übergang findet in dem Gelenksatz statt: «die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säten und schnitten» – allein über dieses «und» könnte man lange schreiben. Von den Ackerleuten geht es dann so ungezwungen wie elegant über die Müller und Schmiede zu den Bergleuten in ihrer unterirdischen Werkstatt zurück – das starke Bild der Werkstatt ist das Schlußwort der Periode. Es folgt die unerhörte Begebenheit:
Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ellen tief unter dem Boden gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war, also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben, oder ein wenig eingeschlafen wär, an der Arbeit.
Kein Mensch weiß, wer der schlafende Jüngling ist, bis seine ehemalige Verlobte, grau und zusammengeschrumpft, mit einer Krücke an den Platz kommt, ihren Bräutigam erkennt und «mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz» auf der geliebten Leiche niedersinkt; allein er öffnet den Mund nimmer zum Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen.
Den anderen Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und ihn die Bergleute holten, schloß sie ein Kästlein auf, legte sie ihm das schwarzseidene Halstuch mit roten Streifen um, und begleitete ihn alsdann in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeittag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: «Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehen im kühlen Hochzeitbett, und laß dir die Zeit nicht lange werden. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird’s wieder Tag. – Was die Erde einmal wieder gegeben hat, wird sie zum zweitenmal auch nicht behalten», sagte sie, als sie fortging, und noch einmal umschaute.
Es ist der letzte Halbsatz, der dem Leser sanft den Boden unter den Füßen wegzieht: daß sie noch ein letztes Mal «umschaut». Aus einem rätselhaften Grund ist es besonders stark durch das fehlende «sich». Wer dieses Stück ohne Tränen lesen kann, der sei um seine innere Gefaßtheit beneidet.