Thematisch gar nicht unverwandt dem Unverhofften Wiedersehen sind die zehn Jahre zuvor erschienenen Hymnen an die Nacht. Hier wie dort verschmilzt das Begräbnis mit der Hochzeit, die Liebe mit dem Tod. Aber es ist ein ganz anderer Tonus, eine andere Grundspannung: der heilig-nüchterne Hebel und das todeserotisch Verzückte des Salinenassessors Friedrich von Hardenberg, der sich seit seiner ersten Veröffentlichung im Athenäum Novalis nannte. Novalis hatte nach dem Tod seiner zehn Jahre jüngeren Geliebten Sophie von Kühn (sie starb 1797 zwei Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag) einen leicht wahnhaften und stark sexuell unterfütterten Mystizismus entwickelt, der sich in dem wirkkräftigen Gedichtzyklus Hymnen an die Nacht niederschlug. «Welche Wollust, welchen Genuß bietet dein Leben, die aufwögen des Todes Entzückungen?», heißt es in diesen Hymnen, ohne die Richard Wagners Tristan zwei Generationen später schwer zu denken wäre. Die Todesmystik, gepaart mit annähernd Fichteanischer Luzidität, sorgt für das besondere Stil-Tattoo, an dem man Novalis immer erkennen wird. In seinen Aperçus und Fragmenten und all seinem Blüthenstaub ist er darum auch keineswegs zu unterschätzen.
Als Erzähler aber kann er im Vergleich mit Hebel nur verlieren. Bei Hebel sitzt jedes Wort und ist kein Adjektiv zuviel, er ist anschaulich und farbig, die Pointen sind lässig wie aus der linken Hand geschnippt. Novalis dagegen wird als Stilist stark überschätzt. Er gehört zum Typus des ewig jungen, weil jung verstorbenen genialischen Dichters, den zu verklären der Nachwelt leichtfiel. Genützt hat ihm, daß er nebst Joseph von Eichendorff ein Symbol gefunden hatte, mit dem sich eine ganze Epoche bezeichnen zu lassen schien. Seit dem Heinrich von Ofterdingen wird in der Romantik die Blaue Blume gesucht, und Generationen von Studenten im Germanistik-Treibhaus, außerhalb dessen sie bald verdorrt wäre, mußten mitsuchen. Die Prosa des Hauptbuchs der deutschen Frühromantik ist, wie man schon bei den Adjektiven sah, von einer gewissen Einfallslosigkeit. Die zentrale Liebesszene liest sich so. Und ist sie nicht süß?
Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. Oder die Liebe ist selbst nichts, als die höchste Naturpoesie. Doch ich will dir nicht Dinge sagen, die du besser weißt, als ich.
Du bist ja der Vater der Liebe, sagte Heinrich, indem er Mathilden umschlang, und beyde seine Hand küßten.
Klingsohr umarmte sie und ging hinaus. Liebe Mathilde, sagte Heinrich nach einem langen Kusse, es ist mir wie im Traum, daß du mein bist, aber noch wunderbarer ist mir es, daß du es nicht immer gewesen bist. Mich dünkt, sagte Mathilde, ich kennte dich seit undenklichen Zeiten. – Kannst du mich denn lieben? – Ich weiß nicht, was Liebe ist, aber das kann ich dir sagen, daß mir ist, als finge ich erst jetzt zu leben an, und daß ich dir so gut bin, daß ich gleich für dich sterben wollte. – Meine Mathilde, erst jetzt fühle ich, was es heißt unsterblich zu seyn. – Lieber Heinrich, wie unendlich gut bist du, welcher herrliche Geist spricht aus dir. Ich bin ein armes unbedeutendes Mädchen. – Wie du mich tief beschämst! Bin ich doch nur durch dich, was ich bin. Ohne dich wäre ich nichts. Was ist ein Geist ohne Himmel, und du bist der Himmel, der mich trägt und erhält.
Man ahnt, warum Thomas Bernhard seinen Helden im Kalkwerk gegen den Ofterdingen wüten läßt. Als Stilist ist Novalis – gegen Hebel, gegen den Titan Jean Paul, gegen Joseph von Eichendorff, gegen Brentano, gegen Rahel Varnhagen, gegen Kleist erst! – ein unendlich liebenswürdiger und rührender Tropf.
So sieht’s aus – hätte Hebel gesagt.
In einem Roman der klassischen Literatur wird das Liebesglück des Helden folgendermaßen beschrieben: «Es ist hier eine Lücke in meinem Dasein. Ich starb, und wie ich erwachte, lag ich am Herzen des himmlischen Mädchens.»
Man ist nicht undankbar über die Lücke, denn sobald der Autor sie füllt, sehen wir uns der blassesten Prosa gegenüber, die man, neben dem in der Fadheit konkurrierenden Novalis, in der deutschen Literatur kanonisiert hat:
– und wie sie nun in voller Herzenslust mich betrachtete, wie sie, in kühner heiliger Freude, in ihre schönen Arme mich nahm und die Stirne mir küßte und den Mund, ha! wie das göttliche Haupt, sterbend in Wonne, mir am offnen Halse herabsank, und die süßen Lippen an der schlagenden Brust mir ruhten und der liebliche Othem an die Seele mir ging – o Bellarmin! die Sinne vergehn mir und der Geist entflieht.
Hand auf die schlagende Brust: Findet sich hier auch nur ein Beiwort, das von der Konvention abwiche?
Hölderlin ist, wie Rilke, Religion. Die Jünger stellen seinen einzigen, im Tübinger Stift begonnenen und von 1797 bis 1799 beendeten Roman Hyperion neben oder über Goethes Faust. Der Held Hyperion schreibt in diesem Roman, der ein paar berühmte Sentenzen enthält, in der Rückschau über sein unstetes Leben in Griechenland. Dieses Griechenland hat Hölderlin sich hauptsächlich aus einem englischen Reiseführer zusammengestellt (weshalb der «jackal» bei ihm zum «Jakal» und nicht Schakal wird). Man merkt es daran, daß es ohne jede Anschauung ist. Gesehen, geschmeckt, gerochen, gehört, betastet wird hier so gut wie nichts. Wie geliebt wird, haben wir gelesen – wobei Hölderlin das auch glutvoller kann, wie wir später sehen werden. Es wird nicht gegessen, getrunken, gewohnt, gefroren oder geschwitzt, keiner weiß, wovon Hyperion und wie er lebt, wie er sich von A nach B fortbewegt, außer einmal auf dem Pferd, keiner weiß, wie die Freunde untereinander verkehren – ein Wortgeklingel um ein dröhnendes Nichts der Anschauungslosigkeit. Es ist eine Welt der detailfeindlichen Abstraktion, eine Begriffswelt, an die immer nur appelliert wird. Und bei den Begriffen müssen es immer die größten sein. Unter dem Göttlichen, dem Unendlichen, dem Ein und Alles und der himmlischen Schönheit macht es der Nürtinger nicht. Es ist auf ätherischste Weise blutleer. Die mangelnde Anschauung wird durch name-dropping ersetzt. Alle heiligen Orts- und Kultnamen müssen, aus dem Lexikon oder dem Reiseführer zitiert, antanzen, um die Lücke zu verdecken, daß der Autor nichts gesehen hat. Zur selben Zeit, in der Hölderlin am Hyperion schrieb, bekannte Schiller dem Freund Goethe, bei der Zeichnung der Kraniche hemme ihn der Mangel einer lebendigen Anschauung. Gerne nahm Schiller Goethes Rat an, die Kraniche als Naturphänomen, als Zugvögel und im Schwarm darzustellen. Hölderlin hatte einen solchen Ratgeber nicht; und er wäre ihm wohl auch nicht gefolgt.
Das Ganze soll nun ein Briefroman sein. Wie Arno Schmidt schon mit Recht zum Werther bemerkte, ist die Form ganz verfehlt. Beim Briefroman stellen sich verschiedene Charaktere in verschiedenen, je eigenen Tonfällen vor und werden kontrastiert. Bellarmin, der Freund, dem Hyperion schreibt, bleibt unkonturiert, er hätte genausogut an den Weihnachtsmann schreiben können. Im zweiten Band dann: Briefauftritt Diotima, Hyperions Geliebte. Aha, jetzt wird der Ton sich ändern! Aber was lesen wir? Einen Klon Hyperions.
Der Tonfall ist immer der gleiche: rhetorisch überhitzt, juvenil-pathetisch mit seinen Achs! und Ohs! der Empfindsamkeit und den literarischen Echos aus Rousseau, Klopstock, Schiller, Jacobi, Fichte, Heinse; metaphernüberreich wie bei Jean Paul, aber ohne dessen Witz und zuletzt aus den immer gleichen drei, vier Bild-Quellen schöpfend, kaum einmal wirklich originell.
Das Hauptthema des Ersten Buchs, die Trauer um die vom tintenklecksenden Säkulum abgelösten früheren Heroischen Zeiten, war schon damals leicht abgestanden respektive angelesen. Und war doch andock- oder anschlußfähig für spätere wenig erfreuliche Deutungen. «Ihre Kraft ist ihre Freude» kommt schon wörtlich vor. Daß mit dem Alten unduldsam und durch Minensprengung radikal aufgeräumt werden müsse, rät Hyperions brachialer Freund Alabanda. «Gäb’ es eine Arbeit, einen Krieg für mich!» Ja, das wär’s, ein neuer Krieg! Das Vaterland muß gerettet werden, der dürre faule Baum darf nicht stehen, «er stiehlt ja Licht und Luft dem jungen Leben, das für eine neue Welt heranreift» – das las man hundertfünfzig Jahre später gern. Hyperion selbst widerspricht nicht, als der Vorschlag ergeht, die Söhne sollten aus der Wiege in den Strom geworfen werden, damit ihnen die Schande des nichtheroischen Zeitalters erspart bleibe.
Anders als der Faust ist Hyperion komplett ironiefrei; dafür getränkt von Selbstmitleid. Als Psychogramm, als Seelen-Röntgenbild eines vor Ruhmsucht und Ressentiment bebenden, sozial deklassierten jungen Manns ist der Roman instruktiv. Hölderlin legt es in den Mund Diotimas, daß sein Alter ego zu höheren Dingen geboren sei und die Welt seiner als eines neuen Apoll bedürfe. Diotima darf darum auch stolz von sich sagen: «[…] hab’ ich den Genius nicht in seinen Wolken erkannt?» Hyperion selbst erklärt, seine Perlen wolle er «vor die alberne Menge nicht werfen». Typisch dabei ist das Oszillieren zwischen Minderwertigkeitsgefühl und den Allmachts- und Größenphantasien des verkannten Genies. Und als Dokument der ausbrechenden Krankheit ist Hyperion von geradezu klinischer Präzision. «Warum so schröcklich Freude und Leid dir wechselt?» fragt ihn sein Freund. Das ständige Auf und Ab zwischen überspanntester Euphorie und Depression ist der genaue Spiegel der (damals noch nicht diagnostizierbaren) bipolaren Störung. Stilistisch abzulesen ist das Bipolare am jähen Wechsel zwischen emphatischen Anrufungen und Exklamationen des Göttlichen einer- und sich immer tiefer in den Seelenschlamm hinabbohrenden Satzbandwürmern andererseits. Die folgende Stelle nimmt schon den Einbruch des Nihilismus bei Büchner vorweg. Oder auch Arthur Schopenhauers Schluß der Welt als Wille und Vorstellung.
O ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns waltet, so gründlich einseht, daß wir geboren werden fürs Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an’s Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mählich überzugehen in’s Nichts – was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihr’s ernstlich bedenkt?
Dennoch, auch wenn man’s ernstlich bedenkt, solche Sätze ändern nichts daran. Hart zu sagen, und seine Jünger werden schäumen, aber: Romanprosa war letztlich nicht Hölderlins Sache, so wenig wie das Dramatische in seinem Empedokles. Ganz anders die Lyrik, das lange Gedicht in freien Rhythmen – ha! hier übertraf er alle Zeitgenossen und errang die literarische Ewigkeit, nach der es ihn so glühend verlangte. Hälfte des Lebens und Brod und Wein hätten eben weder Goethe noch Schiller verfassen können. Man kann als Stilist hier redlich langweilen und dort die Fahne des Siegs im Sturm erringen.
Nun könnte man einwenden: Man soll nichts Unmögliches verlangen. Hölderlin wollte einen philosophischen Roman schreiben, einen Gedankenroman. Wenn ihm der alabastern gerät, ist das nicht Stilisierungswille? Macht nicht das eben die Klassik oder den Klassizismus aus: die Stilisierung bis zur Unanschaulichkeit, bis zur Blässe und edlen Ausgedünntheit? Gehört nicht eben das zur Klassik wie der Posthornklang zur Romantik: der Wunsch zur Vereinfachung, zum Nichtentlegenen, zur Weißen Antike, in Verkennung ihrer originalen Buntheit? Hölderlins Prosa als Weiße Antike – so könnten seine Verteidiger argumentieren.
Und weiter gefragt: Vielleicht gab es das damals einfach noch nicht, bunten, detailfreudigen Realismus im Roman? Nun, im Werther sieht man immerhin eine Wiese blühen und sieht, wie Lotte einen Laib Brot schneidet. Und zehn Jahre zuvor war der Anton Reiser erschienen!