Der Schreckensmann: Karl Philipp Moritz

Es gab schönere Kindheiten. Was eine Untertreibung ist: Es gab vielleicht wenig schlimmere.

Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.

Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten, und ihm doch einer so nahe wie der andre war.

In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln.

Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.

So beginnt die von 1785 bis 1790 in vier Bänden publizierte autobiographische Romanschrift, in deren Verfasser Goethe einen unglücklichen jüngeren Bruder erkannte und Arno Schmidt den ersten Heroen der von ihm so getauften Schreckensmänner – kein Volk der Erde habe einen solchen Bekenntnisroman hervorgebracht. Hugo von Hofmannsthal nimmt einen Auszug in sein Deutsches Lesebuch auf, er sei eine Ergänzung zu Goethes Wilhelm Meister und enthalte alles, was dort als zu niedrig, finster oder skurril ausgeschieden worden sei. Trotz Hofmannsthal kaum noch präsent, wird der Roman 1930 von dem französischen Germanisten Robert Minder auf einem Bücherkarren bei der Berliner Staatsbibliothek aufgestöbert, für zwei Mark erworben und wieder in die geistige Zirkulation überführt. Der Fanfarenstoß Arno Schmidts tat ein Übriges. Noch Handke rühmt den Verfasser des Schmerzensbuchs als großen Durchschauer nicht nur seiner selbst, sondern auch seines Lesers Peter Handke.

Es ist ein früher realistischer Roman aus der Welt der kleinen Leute, in der jeder Kanten Brot gezählt wird, «scharfbelichtete Bilder aus dem Winkeldasein von Schustern, Gerbern, Hutmachern, Essigbrauern», wie Minder es sagte, eine Welt auch des religiösen Sektierertums, in der man sich zweimal nachts zum innigen Gebet erhebt und die Abtötung der Sinne betreibt. Der Held führt seit seiner Kindheit mit den religiös zerstrittenen Eltern ein Hundedasein, er ist bitterarm, wird immerzu gedemütigt, er muß als Lehrling eines despotischen Hutmachers nachts im Eiswasser

Er machte sich nehmlich eine große Sammlung von Kirsch- und Pflaumenkernen, setzte sich damit auf den Boden, und stellte sie in Schlachtordnung gegen einander – die schönsten darunter zeichnete er durch Buchstaben und Figuren, die er mit Dinte darauf malte, von den übrigen aus, und machte sie zu Heerführern – dann nahm er einen Hammer und stellte mit zugemachten Augen das blinde Verhängnis vor, indem er den Hammer bald hie, bald dorthin fallen ließ – wenn er dann die Augen wieder eröffnete, so sah er mit einem geheimen Wohlgefallen, die schreckliche Verwüstung, wie hier ein Held und dort einer mitten unter dem unrühmlichen Haufen gefallen war, und zerschmettert da lag – dann wog er das Schicksal der beiden Heere gegen einander ab und zählte von beiden die Gebliebenen.

Was sich bei Moritz vor unsern Augen vollzieht, ist die Geburt der modernen Psychologie. Kein anderer als Moritz gründete denn auch 1783 die erste psychologische Zeitschrift Deutschlands, das Magazin für Erfahrungsseelenkunde. Die Viermonatsschrift hielt sich zehn Jahre lang, wurde von Moses Mendelssohn und vielen anderen jüdischen Beiträgern unterstützt, sie sammelte Fallbeispiele von psychischen Devianzen, Fälle von Mördern und Selbstmördern, Fälle von Kleptomanie, religiösem Wahn und sexuellem Mißbrauch. Besonderen Wert legte sie, lange vor Freud, auf die Erfahrungen der frühesten Kindheit und auf die Deutung des Traums. Moritz’ Magazin war noch 1852 lieferbar, als sich Heinrich Heine ein Exemplar schicken lassen wollte, der Moritz, etwas fragwürdig, für seine «köstliche Naivität» lobt.

Das Psychologische geht bei Moritz dabei oft ins Metaphysische über. Einmal wird er Zeuge eines denkwürdigen Gesprächs:

Vor einiger Zeit hörte ich ein paar Bauren zusammen reden, wovon der eine erzählte, wie er beim Aderlassen in Ohnmacht gefallen sei. Darüber kamen sie auf den Tod zu sprechen, und nachdem sie eine Weile ernsthaft davon geredet hatten, kam ihnen auf einmal die Sache so sonderbar vor, daß sie in lautes Gelächter darüber ausbrachen.

Sollte selbst der Tod vielleicht wirklich auch eine lächerliche Seite haben? Die Vorstellungen von demselben mögen nach der verschiednen Denkart und Fähigkeit der Köpfe auch erstaunlich verschieden sein. Und es würde vielleicht nicht unnütz sein, mehrere solcher verschiednen Vorstellungen nebeneinander zu stellen.

Es ist hier nicht die Frage, ob der Tod wirklich etwas Lächerliches hat, das wird man überwiegend anders sehen und statuieren; es soll nur festgehalten werden, daß man bei Moritz immer wieder auf solche eigenwilligen Betrachtungen und Gedanken stößt. Daß ihn Jean Paul ein Grenz-Genie nennt und auch Schopenhauer ihn beipflichtend erwähnt, hat seinen guten Grund. Stilist ist Moritz weniger in dem Sinne, daß man ihn schon nach wenigen Sätzen