Sein Zeitgenosse Friedrich Hebbel versprach jedem, der es schaffe, Stifters Nachsommer von Anfang bis Ende zu lesen, die Krone Polens. Es ist unbekannt, ob es Anwärter gab. Für Stifters späten, im mittelalterlichen Böhmen spielenden Roman Witiko hätte Hebbel den habsburgischen Thron ausloben können.
Zu Beginn von Witiko trifft der berittene Held im Wald auf ein Mädchen. Die beiden finden Wohlgefallen aneinander und beginnen ein Gespräch. Witiko wird von dem rotwangigen Mädchen nach seinem Herkommen befragt.
«Das ist so», entgegnet er:
im Mittage des Landes Böhmen haben meine Vorfahren im Walde gelebt. In alten Zeiten vor vielen hundert Jahren, da es noch gar kein deutsches Reich gegeben hat, da in dem Lande der Franken, das sehr groß war, die tapfern Hausmeier der alten Könige geherrscht haben, ist ein Mann aus dem Stamme der Fürsten Ursini in Rom, der auch Witiko wie ich geheißen hat, wegen Verfolgung eingedrungener Feinde mit seinem Weibe, mit seinen Kindern, mit seinen Anverwandten und mit einem kriegerischen Gefolge in das Land gegen Mitternacht gegangen, und bis an die Donau gekommen. Von dort wollte er in das Land Böhmen einbrechen. Aber Woyen, der Herzog Böhmens, der erstgeborne Sohn des Herzogs Mnata, der noch heidnisch war, und die Christen haßte, zog ihm mit einem Heere entgegen, und tötete in einer Niederlage, die Witiko erlitt, fast alle seine Leute. Da trug Witiko dem Herzoge Woyen ein Bündnis an, er wollte sich ihm unterwerfen, und die Marken Böhmens gegen die Fremden verteidigen, wenn ihm der Herzog in den waldigen Bergen, in welche er eingedrungen war, eine Wohnung geben wolle.
Wir brechen hier ab, aber es geht noch eine halbe Seite so weiter; angeblich ein Flirtgespräch, wie gesagt, keine Geschichtslektion, und rührend die Vorstellung, daß der Autor so fern jeder Ahnung davon zu sein scheint, wie gekünstelt und fürs Publikum gesprochen sich ein solcher Dia- oder Monolog anhören muß.
Stifters Umständlichkeit hat dabei überraschenderweise etwas Herzergreifendes. Vielleicht hätte er selbst ähnlich doziert, wenn er mit einem Mädchen hätte anbandeln müssen. Man könnte so weit gehen und sagen, diese Umständlichkeit bewahre ihn vor dem Kitsch. Wäre er auch noch abgefeimt, wäre Stifter schwer erträglich und genau der sanfte Unmensch des Nachsommers, als den ihn so schneidend Arno Schmidt charakterisiert hatte.
Das Pedantische, Ritualisierte, ja Zwanghafte in Stifters Prosa, sosehr sie im Falle Witikos von alt-chronikalischem Stil geprägt ist, hat sein Editor Wolfgang Matz als Abwehrpanzer gegen obsessive Ängste erklärt. Schon Thomas Mann sah hinter Stifters stiller, inniger Genauigkeit eine Neigung zum Exzessiven, Pathologischen wirksam. Matz faßt Stifters innerste Dynamik in dem Satz zusammen: «Nur wo das Leben zu Stein wird, ist es vom Tode erlöst.» Genau so versteinert liest sich die Prosa des späten Stifter, der seine Schriften immer stärker von allem lebenswirklich Bewegtem purgiert. Die Kunst darf vom Leben nicht berührt, der Puls und die Nöte des Lebens müssen in der Prosa ruhiggestellt werden. Noch kurz bevor er sich mit dem Rasiermesser die Halsschlagader durchschneidet, tilgt Stifter aus der unvollendeten Letzten Mappe die Beschreibung eines Selbstmordversuchs.
Als Stilist kommt Stifter einem manchmal wie jemand vor, der mit zwei linken Händen schnitzt. Es gibt viele großartige Sätze bei ihm, aber dann diese Umständlichkeit! Im Englischen sagt man dafür clumsy, und das wäre für Stifter noch moderat ausgedrückt. Bis er seinen Witiko auf dem Pferd erst einmal angezogen bekommt! Mit seiner Lederkappe, der er eine viertel Seite widmet, dem Wams, der innern Kleidung, der Beinbekleidung und dem Mantel oder Oberkleid von Tuch «oder überhaupt einem Wollstoffe», der leider zusammengeschnürt ist, «weshalb man die Gestalt und das Wesen dieses Dinges nicht zu ergründen vermochte. Nur die Farbe schien grau zu sein» – man lese es selber nach und ergründe das Wesen des eventuell grauen Witikoschen Mantelsacks. Und wie er ihn dann unter seiner stattlichen Kappe reiten läßt:
Das Pferd ging durch die Schlucht in langsamem Schritte. Als es über sie hinausgekommen war, ging es wohl schneller, aber immer nur im Tritte. Es ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Wäldchen hinein, ein Wäldchen hinaus, bis es beinahe Mittag geworden war.
Und so ritte es sich noch lange fort, hinunter und empor, hinein und hinaus und immer im gleichen Tritt … Aber hier müssen wir uns selber ins Wort fallen. Hatte nicht der Marquis Prosa, wie der große Alfred Polgar genannt wurde, erklärt, der Gegensatz von genial sei nicht ungenial, sondern: geschickt? Und wäre der Umkehrschluß nicht günstig für Stifter? Ungeschickt und genial muß sich nicht immer beißen, und tut es auch nicht bei ihm. Ist die folgende Schilderung von ihm geschickt? Sicher nicht, aber man könnte sie unter mindestens drei Kategorien als muster- und meisterhaft anführen. Der Erzähler im Waldgänger erinnert sich an die Naturbilder seiner Jugend:
sei es nun ein düsterer Föhrenwald, an dessen schwarzen Wurzeln die dunklen Wässer dahin wuschen – sei es ein lieber Fels, der emporragte und auf dem Haupte gesellschaftliche Pflanzen trug – seien es gegen ein Rinnsal herein gehende Birkenwälder, die den Fluß einsogen, scheinbar verbargen, und unsichtbar zu den weiteren ebeneren Ländern hinaus leiteten […]
Seien es die fast schon wagnerianisch wogenden alliterierenden «W», von den schwarzen Wurzeln bis zu den weiteren Ländern, sei es das Klangspiel der Vokale «a» und «u» – seien es die Adjektive, besonders das ungewöhnlich benutzte «gesellschaftlich» und selbst der «liebe» Fels – seien es die Verben, diskret alle, nicht prahlerisch, das Dahinwaschen, Einsaugen, Verbergen, Hinausleiten: Alles zusammen macht einen unnachahmlich guten Satz. Ebener geht es kaum.
Die wahre Kunst liegt bei Stifter weniger in der Beschreibung der Menschen, die so leblos und versteinert sein können wie das Personal in Witiko, und schon gar nicht liegt sie im Dialog. Sie liegt in der Schilderung der unschuldig-dämonischen Natur. In seinem letzten Werk Aus dem bairischen Walde wird der Erzähler eingeschneit.
Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder gerade empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort wie Stunde an Stunde verrann. Und wenn man von dem Fenster weg ging, sah man es im Geiste, und man ging lieber wieder zum Fenster.
Der letzte Halbsatz zeigt sogar Spuren eines resignierten Humors; sonst nicht Stifters Stärke. Seine wahren Stärken hängen damit zusammen, daß er im Grunde, wie sein baltischer Verwandter Eduard von Keyserling, ein Maler war. In der Erzählung Der beschriebene Tännling tupft er eine Morgenimpression hin, das schon im Hochwald fein aquarellierte Land jenseits der Donau mit seinen Getreidehängen und Obstwäldern und die sich dahinter abzeichnenden Ostalpen:
Nur an ganz durchsichtigen Morgen, an denen wegen bevorstehenden Regens die Gegend mit keinem färbenden Dufte bedeckt ist, sondern die Dinge in trauriger Klarheit dastehen, schweben in Südost über der schmalsten Waldlinie die norischen Alpen so weit und märchenhaft draußen, wie mattblaue, starr gewordene Wolken.
Sind wir uns einig? Das ist zum Niederknien zart und schön, auch darin, wie sich der schwere Fels in die luftige Wolke auflöst. Hier stimmt und trifft jeder Pinselstrich. Und dann der Schluß der frommen Legende, die erzählt, wie ein Holzfäller mit frisch geschliffenem Beil ein Eifersuchtsattentat plant, von dem ihn im letzten Moment die im Traum vernommene Stimme Mariens abhält. (Der «beschriebene» Tännling hat seinen Namen wegen der in seine Rinde eingegrabenen Kreuze und Herzen.)
Er ging sehr eilig, auf Wegen, die ihm bekannt schienen, bald rechts, bald links dem größeren Dickicht ausweichend, anfangs den jenseitigen Hang empor, dann auf der Kante schief hinüber, dann sachte gegen Rechts abwärts, bis er, da die Sonne eben vor einer Weile untergegangen war, am beschriebenen Tännling eintraf. Der Baum stand ruhig und sanft in der Abendluft empor. Seine oft gesehenen vielfach gebogenen und gezackten Äste ruheten gleichsam wie die ausgebreiteten Fittige eines Vogels in dem labenden Elemente. Hans lehnte sein Beil an den Stamm, und setzte sich gegenüber auf einen mosigen Stein.
Wer dem umständlichen Stifter für solche Stellen nicht den ganzen Witiko verzeiht, der hat statt des Herzens einen solchen moosigen Stein in der Brust.
Als stilistisches Merkmal bleibt eine charakteristische Bewegung festzuhalten. Es geht bei Stifter immer hin und her. Das Pferd hinein, hinaus. Der Schnee von links gegen rechts, von rechts gegen links. Der Holzfäller bald rechts, bald links. Was ist das für eine Bewegung, woran erinnert sie? Es ist der Gang eines gefangenen Tiers im Käfig.
Als Mensch muß Stifter unendlich sympathisch gewesen sein. Er kam nie über seine Jugendliebe hinweg, Fanny Greipl, die er 1836 an einen andern Mann und drei Jahre später an den Tod verlor. Die not- und trotzgeborene Ehe mit seiner Frau Amalia blieb zu seinem großen Unglück kinderlos. (Er glaubte, sie sei daran schuld, war es aber eher selber.) Die Nichte, die sie als Ziehtochter aufgenommen hatten, ertränkte sich achtzehnjährig in der Donau. Sein Brotberuf zermürbte ihn, als Schulrat war er unermüdlich in der Provinz unterwegs, um die Lage der Dorfschullehrer zu verbessern, die oft vor ihm in Schluchzen ausbrachen, weil sie von Wien im Stich gelassen wurden. Später, nach beachtlichem literarischen Erfolg, fraß und trank er sich halbsystematisch ins Grab. Seine Tagesration, fünf mehrgängige Mahlzeiten, zum zweiten Frühstück vor der gebratenen Gans gern ein paar Schnitzel mit Erdäpfeln, hätte genügt, ein kleines Kloster zu verköstigen. Gegen die Leberzirrhose halfen dann auch die Karlsbader Kuren nicht. Die Depressionen wurden finsterer. Die letzte Leidenschaft seines Lebens galt seiner Sammlung Kakteen.
Stifter als Naturschilderer ist nicht nur ein Aquarellist, er ist auch ein großer Akustiker. Man verbindet Stifter aus gutem Grund nicht mit Spannung, aber es gibt Ausnahmen, und sie haben alle mit dämonisch klirrender Natur zu tun. Seine Erzählung Margarita aus der Mappe meines Urgroßvaters wetteifert geradezu mit Kubricks Shining (wir übertreiben). – Es ist mitten im Winter, im bergigen Hochland herrscht eine seltene und nicht ungefährliche Wetterlage: Aus den höheren und verhältnismäßig wärmeren Regionen regnet es fein und dicht, der Regen verwandelt sich aber in Bodennähe in Eis. Es ist nicht Schnee, der vom Himmel fällt, sondern «reines fließendes Wasser, das erst an der Oberfläche der Erde gefror und die Dinge mit einem dünnen Schmelze überzog, derlei man in das Innere der Geschirre zu thun pflegt, damit sich die Flüssigkeiten nicht in den Thon ziehen können».
Der Ich-Erzähler ist ein pflichtbewußter Landarzt, der sich von diesem Wetter nicht abschrecken läßt und mit seinem Knecht auf dem Schlitten die vereinzelten Gehöfte seiner Patienten abklappert. Der Regen läßt nicht nach, jedes Teilchen des Schlittens ist in Eis wie in durchsichtigen flüssigen Zucker gehüllt, selbst «in den Mähnen, wie tausend bleiche Perlen, hingen die gefrornen Tropfen des Wassers, und zuletzt war es um die Hufhaare des Fuchses wie silberne Borden geheftet». Alles gefriert sofort, ist von Eis umschlossen, von der Decke des Pferdes hängen Silberfransen hernieder, die Filzkappe des Arztes wird zur Kriegshaube. Die Hufe des Pferdes hallen auf der Eisdecke wie starke Steine, die gegen Metallschilde geworfen werden. Der Wald wird zum Märchenwald; ein Busch sieht aus wie viele ineinander gewundene Kerzen oder wie lichte, glänzende Korallen. Und auch akustisch ist die Winterwelt verzaubert:
[D]as Zerbrechen des zarten Eises, wenn das Tier darauf trat, machte ein immerwährendes Geräusch, daher aber das Schweigen, als wir halten mußten, […] desto auffallender war. Und der Regen, dessen Rieseln durch die Nadeln man hören konnte, störte die Stille kaum, ja er vermehrte sie. Noch etwas anderes hörten wir später, da wir wieder hielten, was fast lieblich für die Ohren war. Die kleinen Stücke Eises, die sich an die dünnsten Zweige und an das langhaarige Moos der Bäume angehängt hatten, brachen herab, und wir gewahrten hinter uns in dem Walde an verschiedenen Stellen, die bald dort und bald da waren, das zarte Klingen und ein zitterndes Brechen, das gleich wieder stille war.
Die Schlittenfahrt durchs vereiste Hochland zieht sich über dreißig Seiten, und allmählich verwandelt sich das Märchenhafte ins Bedrohliche – und das fast nur über die Akustik. Der Landarzt und sein Knecht hören ein Geräusch, «das sehr seltsam war und das keiner von uns je vernommen hatte – es war, als ob viele Tausende oder gar Millionen von Glasstangen durcheinanderrasselten und in diesem Gewirre fort in die Entfernung zögen». Und dann immer wieder ein sonderbarer Knall, den sie sich zuerst gar nicht deuten können. Was geht hier vor im Wald?
Ein helles Krachen, gleichsam wie ein Schrei, ging vorher, dann folgte ein kurzes Wehen, Sausen, oder Streifen und dann der dumpfe, dröhnende Fall, mit dem ein mächtiger Stamm auf der Erde lag. Der Knall ging wie ein Brausen durch den Wald und durch die Dichte der dämpfenden Zweige; es war auch noch ein Klingeln und Geschimmer, als ob unendliches Glas durcheinander geschoben und gerüttelt würde – dann war es wieder wie vorher, die Stämme standen und ragten durch einander, nichts regte sich, und das still stehende Rauschen dauerte fort.
Ein Krachen wie ein Schrei – das ist die Klangfassung des physikalischen Vorgangs, daß die Bäume durch das Eis von innen aufgesprengt werden. Das dramatische Ende, als es endlich wärmer wird und die Schneeschmelze das Dorf hinwegzuspülen droht, muß hier nicht nacherzählt werden. Stifters Margarita bleibt das große klirrende Winterbild der deutschen Literatur und der seltene Fall eines meteorologischen Thrillers.