Theodor Storm. Das läßt sich dämmen!

Den Husumer Juristen Theodor Storm verbindet nicht viel mit Jeremias Gotthelf, um so überraschender die thematische Nähe zwischen der Schwarzen Spinne und Storms Schimmelreiter. Bei

Thomas Mann war der Sache auf der Spur. Sein 1930 publizierter Storm-Essay beginnt ganz konventionell und ad usum Delphini, wächst sich aber rasch zu etwas Bekenntnishaftem aus. Es dauert nicht lange, und Thomas Mann kommt nicht um die Feststellung umhin: Korrekt sei eigentlich, anders als bei Fontane, nichts bei Theodor Storm. Warum ist nichts bei ihm korrekt? Und nun entfaltet Thomas Mann mit vorzüglicher Courtoisie und aller gebührenden Zurückhaltung ein Bild, das uns den Advokaten als einen pädophilen, sinnlich-kalten, dabei rauschempfänglichen Egomanen zeigt.

«Rauschempfänglich»; diesen Typus hatte Mann im Tod in Venedig zwanzig Jahre zuvor mit Gustav von Aschenbach unwürdig zugrunde gehen lassen. Sein Essay über Storm zählt zu seinen intimsten, gerade weil der Gegenstand so weit entfernt von ihm scheint. Es ist durchaus Selbstbekenntnis, wenn er anläßlich Storms zu dem Schluß gelangt, Dichtertum sei die «lebensmögliche Form der Inkorrektheit». Der Autor des Schimmelreiter, will Thomas Mann uns andeuten, durchaus in eigener Sache, kannte Passionsgeschichten, die Untiefen des Sexus, die Dämonen des verbotenen Begehrens.

Er war nah dran. Aber beim Hauptwerk fiel ihm außer nordheidnischem Spuk und Aberglaube nicht viel auf. Dabei ist es fast schon erheiternd, wie in Storms Novelle die Gischt aus den Subtexten hervorspritzt und die glatte Textoberfläche überschwemmt.

An der entscheidenden Stelle führt Storm uns den Deichgraf Hauke Haien in dem Moment vor, in dem ein folgenschwerer Entschluß in ihm reift. Die Prosa ist gelassen, weniger umständlich als bei Stifter, weniger ausgeprägt als bei Gotthelf oder Keller und dem Autor stilistisch vor allem durch das küstenspezifische

Noch immer stand er und seine Blicke schweiften scharf und bedächtig nach allen Seiten über das grüne Vorland; dann ging er zurück bis wo auch hier ein schmaler Streifen grünen Weidelands die vor ihm liegende breite Landfläche ablöste. Hart an dem Deiche aber schoß ein starker Meeresstrom durch diese, der fast das ganze Vorland von dem Festlande trennte und zu einer Hallig machte; eine rohe Holzbrücke führte nach dort hinüber, damit man mit Vieh und Heu- und Getreidewagen hinüber- und wieder zurückgelangen könne. Jetzt war es Ebbezeit und die goldene Septembersonne glitzerte auf dem etwa hundert Schritte breiten Schlickstreifen und auf dem tiefen Priel in seiner Mitte, durch den auch jetzt das Meer noch seine Wasser trieb. ‹Das läßt sich dämmen!›, sprach Hauke bei sich selber, nachdem er diesem Spiele eine Zeitlang zugesehen.

«Das läßt sich dämmen!» ist der Kernsatz des Spätwerks Theodor Storms. So wie «Die läßt sich verführen» der Kernsatz der Memoiren Giacomo Casanovas wäre. Unsinniger Vergleich! Storm beendete die Novelle 1888 als alter und magenkrebskranker Mann wenige Monate vor seinem Tod. Wenn ihn eines auf der Welt nicht mehr interessierte, dann war es Verführung. Viel mehr beschäftigte ihn das zähe, ehrgeizige Durchhalten seiner Hauptfigur, die Hoffnung auf den Ruhm der Nachwelt durch das gut und solide gearbeitete Werk, das ihm wie dem Deichgraf noch Generationen später Respekt verschaffen würde. Daß er das Thema der Erotik

Nur schweigt Storm aber nicht darüber, das ist das auffallende. Der Erzähler wäre nicht gezwungen, auf die Schlafgewohnheiten des Deichgrafen einzugehen. Doch nicht genug, daß er den unerfüllten Kinderwunsch der Ehefrau Elke zum untergründigen Hauptthema macht, er führt den Leser auch mit ins Schlafzimmer, wo sich das zur Nachwuchserzeugung Notwendige ganz offenkundig nicht abspielt. Es ist auffällig, wieviel Wert der Erzähler auf den Umstand legt, daß der Deichgraf Hauke von frühester Frühe bis tief in die Nacht hinein arbeitet und bis auf die Sonntagsmesse keinen ausdrücklich «Verkehr» genannten Umgang mit seiner Frau Elke hat, die ebenfalls bis zur Erschöpfung arbeitet. Selbst an Sonntagnachmittagen sitzt Hauke vertieft in Rechenaufgaben, Zeichnungen und Rissen und endet «oft weit nach Mitternacht. Dann schlich er in die gemeinsame Schlafkammer […] und sein Weib, damit er endlich nur zur Ruhe komme, lag wie schlafend mit geschlossenen Augen, obgleich sie mit klopfendem Herzen nur auf ihn gewartet hatte; dann küßte er mitunter ihre Stirn und sprach ein leises Liebeswort dabei und legte sich selbst zum Schlafe, der ihm oft nur zum ersten Hahnenkraht zu Willen war.»

Damit könnte es sein Bewenden haben, aber der Erzähler kommt auf die Schlafgepflogenheiten ein zweites Mal zurück, wie der Täter zum Ort des Verbrechens. Der neue Deich, den Hauke gegen allen Widerstand durchgesetzt hat, kostet ihn noch mehr Kraft als früher.

Dieser Plan war für Hauke ein schwer Stück Arbeit gewesen, und wenn ihm durch Vermittelung des Oberdeichgrafen neben einem Deichboten nicht auch noch ein Deichschreiber wäre zugeordnet worden, er würde es so bald nicht fertig

Deich, Deich, Deich; im letzten passivisch gebauten Halbsatz verliert sich darüber sogar das Subjekt: Es war in die Nacht hinein gearbeitet. Und das alles wofür?

Wenn er dann todmüde sein Lager suchte, so hatte nicht wie vordem sein Weib in nur verstelltem Schlafe seiner gewartet; auch sie hatte so vollgemessen ihre tägliche Arbeit, daß sie nachts wie am Grunde eines tiefen Brunnens in unstörbarem Schlafe lag.

Und wann wird am Nachwuchs gearbeitet? Eben, nie. Dafür wächst und gedeiht der Deich.

Der Zusammenhang ist nicht zu übersehen. Der Damm wird gebaut gegen das Anbranden der Triebe, es ächzt und rumort und wütet unterhalb der Oberfläche, aber doch so, daß der Leser immer wieder darauf gestoßen wird. Immerzu muß von Sonnenaufgang an der Schimmel zuschanden geritten und das Ufer verdämmt werden, nur damit nachts keine Kraft mehr bleibt für die eheliche Pflicht. Nur im unerbittlichen Drang zum Dammbau, zur Abdichtung und Versiegelung zeigt sich das stürmische und unkontrollierte Tosen untergründiger Energien. Das Kind, das nach neun Jahren vom Deichgraf doch noch gezeugt wird, ist ein Töchterchen und geistesschwach, double punition, nach damaliger Auffassung. Selbst die alte Vorstellung, daß nur die lustvolle Empfängnis für gesunde Nachkommenschaft sorge, findet hier ihren symbolischen Niederschlag.

Das Motiv spielt auch in den nebelfeuchten Untergrund hinein. Storms Titelmotiv ist aus der germanischen Mythologie und der Schauerromantik übernommen: der aus dem Skelett

Das leicht Zwanghafte an Storm, das Hypochondrisch-Halbverklemmte bei beträchtlichem libidinösen Unterstrom, hat eine künstlerisch bedenkliche Folge. Die Subtexte quellen über. Aber die Novelle benetzt kein Tröpfchen Humor.