Die entzückendste Charakteristik Gottfried Kellers stammt von einem völlig anders gearteten Stilisten, von Hugo von Hofmannsthal. In seinen Erfundenen Gesprächen und Briefen widmet er Keller ein ganzes Kapitel. Ein fiktiver Legationssekretär bemerkt darin Kellers feine und sichere Schilderung gemischter Zustände. Von denen sei die Welt so voll, daß man auf fast nichts anderes stoße als die sonderbarsten Kombinationen von «Anmaßung und Unsicherheit, von Hochmut und Bassesse, von Großtuerei und Feigheit, von Prahlerei, die in Hilflosigkeit umschlägt, oder von Eitelkeit, die zur Böswilligkeit abbiegt». Dies vollziehe sich in kaum definierbaren Übergängen, die im Schatten lägen. In den Büchern von Keller liege aber dies so im Licht, als wäre einer mit einem Schwamm von Öl über die dunkelsten Stellen eines verjährten Bildes gefahren.
Auch der Maler der Erfundenen Gespräche stimmt ein in dieses Lob. Im Grünen Heinrich werde von der Farbe und dem Schatten und dem Licht ein Gebrauch gemacht, «daß man nicht weiß, wo man mit sich hin soll vor tiefem Vergnügen». Schließlich, vom Goetheaner Hofmannsthal das höchste Lob, wieder jenem Maler in den Mund gelegt:
Und daß er dies von einer mysteriösen, meinetwegen demiurgischen Kraft ableitet, ist mir auch recht. So erklärt sich’s doch einigermaßen, daß diese Bücher ihre schönste Wirkung, eine seelenhafte Freiheit und Heiterkeit, gar nicht in den Kopf ausstrahlen, sondern wirklich direkt ins Blut, so daß sie einem im Leben weiterhelfen und das Nächste leichter machen, was man wirklich selbst von Goethe kaum sagen kann.
Besser kann man nicht ausdrücken, was den Reiz Gottfried Kellers ausmacht. Wenn auch ein paar dunkle Stellen fehlen in diesem Bild. Auch der Maître de style Ludwig Reiners steht nicht an, Gottfried Keller zu einem der größten Stilisten zu erklären (obwohl er den Anfang von Romeo und Julia auf dem Dorfe fachgerecht zerlegt). Er bekennt aber, daß dessen Eigenart nur schwer mit rationalen Mitteln aufzulösen sei. Und er hat recht: Es gibt Prosa-Qualitäten, die schlecht begrifflich zu fassen sind.
Wir wollen ihn einmal etwas länger ausreden lassen, weil sich Kellers Zauber nicht an wenigen Sätzen zeigt; es ist der Ton, auf den man sich einstimmen muß. Die folgende Szene stammt aus ebenjener Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe.
Die Kinder, aus denen das tragische Paar Romeo und Julia werden wird, spielen auf dem Feld mit einer Puppe. Der Junge entdeckt ein kleines Loch an ihrem Knie, aus dem Kleie strömt, und vergrößert es mit den Nägeln. Eins gibt das andere, das Mädchen weint und schlägt mit der Puppe nach ihm, der Junge tut, als ob es ihm weh täte, und schreit au! «[…] so natürlich, daß sie zufrieden war und nun mit ihm gemeinschaftlich die Zerstörung und Zerlegung fortsetzte.»
Sie bohrten Loch auf Loch in den Marterleib und ließen aller Enden die Kleie entströmen, welche sie sorgfältig auf einem flachen Steine zu einem Häufchen sammelten, umrührten und aufmerksam betrachteten. Das einzige Feste, was noch an der Puppe bestand, war der Kopf und mußte jetzt vorzüglich die Aufmerksamkeit der Kinder erregen; sie trennten ihn sorgfältig los von dem ausgequetschten Leichnam und guckten erstaunt in sein hohles Innere. Als sie die bedenkliche Höhlung sahen und auch die Kleie sahen, war es der nächste und natürlichste Gedankensprung, den Kopf mit der Kleie auszufüllen, und so waren die Fingerchen der Kinder nun beschäftigt, um die Wette Kleie in den Kopf zu tun, so daß zum ersten Mal in seinem Leben etwas in ihm steckte. Der Knabe mochte es aber immer noch für ein totes Wissen halten, weil er plötzlich eine große blaue Fliege fing und, die summende zwischen beiden hohlen Händen haltend, dem Mädchen gebot, den Kopf von der Kleie zu entleeren. Hierauf wurde die Fliege in den Kopf hineingesperrt und das Loch mit Gras verstopft. Die Kinder hielten den Kopf an die Ohren und setzen ihn dann feierlich auf einen Stein, da er noch mit der roten Mohnblüte bedeckt war, so glich der Tönende jetzt einem weissagenden Haupte und die Kinder lauschten in tiefer Stille seinen Kunden und Märchen, indessen sie sich umschlungen hielten.
Womit das Unheil seinen Lauf nimmt in einer der schönsten Liebesnovellen der deutschsprachigen Literatur. Die puppensezierenden Kinder Sali und Vrenchen können nicht zueinanderkommen, als sie sich später ineinander verlieben. Der Streit um ein Ackergrundstück hat ihre Väter zu erbitterten Feinden gemacht, ihr tödlicher Streit hat beide Familien ruiniert. Sali und Vrenchen, beide bettelarm, beide in Mitschuld verstrickt, wissen beide, daß es keine gemeinsame Zukunft für sie gibt. Trotzdem können sie nicht voneinander lassen. Am Tag, an dem sie sich für immer trennen wollen, feiern sie noch einmal ausgelassen in einer Dorfschenke. Ein dämonischer Geiger fiedelt ihnen auf, sie trinken und werden symbolisch getraut. Sie folgen dem Fiedler, sie tanzen und küssen sich und tauschen die billigen Ringe, die sie für den Abschied gekauft haben.
Und dann kommt es über sie. Beide haben sie denselben Gedanken, Sali spricht ihn aus: «Es gibt Eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen dann aus der Welt – dort ist das tiefe Wasser – dort scheidet uns Niemand mehr und wir sind zusammen gewesen – ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich sein. –»
Sie gehen zum Fluß und sehen ein an der Landungsstelle vertautes Heuschiff. Sali nennt es eine «schwimmende Bettstelle und ein Bett, wie noch keine Braut gehabt!». Er trägt Vrenchen auf seinen Armen aufs Schiff. Ihr Brautlager wird ihnen zum Todesbett – Novalis hätte es sich nicht schöner wünschen können. Bei Gottfried Keller liest sich das Ende so:
Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten, bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen Hütten; hier geriet er in eine Stille, daß er einem ruhigen See glich und das Schiff beinah still hielt, dort strömte er um Felsen und ließ die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die Morgenröte aufstieg, tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus dem silbergrauen Strome. Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten Fluten.
Es ist Prosa zum Demütigwerden. Keller bannt in klingende, schimmernde Sprache, was Novalis nur vorgeschwebt war. Man mußte poetischer Realist werden, um die Romantik auf ihre wahre Höhe zu bringen. Und man mußte das scharfe Auge haben und motivisch verweben. Der Mond ist rot wie die Mohnblüte der prophetischen Puppe, wie überhaupt die Kinderszene schon alles Spätere vorwegnimmt.
Keller konnte zart sein, und er konnte – anders sein. In Zürich kursierte ein Wort über ihn. Der Hagestolz Keller war zum Nachtessen oft bei anderen zu Gast. Diese Abende pflegten in drei Phasen zu zerfallen. In der ersten Phase schwieg Keller moros. In der zweiten blühte er auf und unterhielt die Runde durch Charme und funkelnden Witz. In der dritten Phase suchte er sich ein armes Opfer, das er bösartig niedermachte. Darum sagten die Zürcher über ihn: Der Keller tränke einen bösen Wein.
Von einem Hagestolz handelt auch seine historische Erzählung Der Landvogt von Greifensee. Auch in ihr blitzt, wie bei der Marter der Puppe, eine gewisse bedächtige Grausamkeit auf.
Worum handelt es sich? Der allein lebende Landvogt Salomon von Greifensee lädt zu einem festlichen Tag auf seinem Schloß alle fünf Frauen zu sich ein, mit denen er einmal angebandelt hatte. Mit keiner der fünf war es zu mehr als nur Händchenhalten oder einem Kuß gekommen, bei allen wurde nichts aus der gewünschten Verlobung. Jede einzelne dieser scheiternden fünf Liebesanbahnungen wird nun der Reihenfolge nach erzählt. Die tragischen Töne fehlen ganz, alles bleibt ironisch temperiert und bar jeder Sinnesglut; asexuell, wie wohl auch Kellers Leben verlief, der sich im Landvogt nicht nur in dessen Ambition als Landschaftsmaler zu spiegeln scheint. Zum Finale treffen alle beim Landvogt ein, es gibt keinerlei Mißtöne, die Damen verstehen sich untereinander, ein prachtvoller und würdig ordinierter Tag wird begangen. Zum Finale eine kleine launige Scharade: Die fünf Verflossenen sollen darüber abstimmen, ob der nun doch in den Hafen der Ehe einsteuernde Salomon entweder seine alte Haushälterin wählen möge oder aber das junge Mädchen, das sie als Zofe den Tag über bedient und ihnen die Gerichte serviert hat. Mit knapper Mehrheit votiert der Frauenrat für das junge Mädchen. Das indessen ein schöner geschminkter Knabe war, der Pfarrerssohn, und damit ausfällt, ebenso wie die Hausverwahrerin – das Ganze war ein Scherz, der Landvogt denkt nicht im Traum daran, sein Single-Dasein aufzugeben. Er wird weiterhin wechselnde Landvogteien regieren, unermüdlich malend, jagend und reitend, bis er im hohen Alter friedlich stirbt.
Heiter, galant und von vollkommenem Dekorum: Viel malerisches Detail verwendet Keller für die wohlgedeckten Tafeln, für die Lustfahrten auf dem See in Nachen mit grünen Lauben und bunten Wimpeln und Waldhornmusik; viel Detail für Putz und Habit der Damen und Herren, den er besonders akribisch auspinselt: die Haube von Marderpelz, die Lederhandschuhe, die Granatknöpfe in den Manschetten, das Rohr mit silbernem Knauf – da sitzt kein Hut schief und kein Schnürbändel locker, die Welt der protestantischen Etikette, meint man, will sich hermetisch abdichten gegen das Ungesittete, das Triebhafte, das Dionysische. Selbst die Feuerköpfe unter der Jugend debattieren zwar in Clubs über Fragen der Stände und der Verfassung, allerdings nur im geheimen, «weil der Scharfrichter mit seiner geschliffenen Korrekturfeder dicht bei der Hand war», wie es unnachahmlich heißt.
Hier, in der kühlen Ironie der Korrekturfeder, spürt man aber schon etwas anderes. Was uns in der so heiter-galanten Erzählung unterderhand alles mitgeteilt wird, immer im Ton dieser kühlen, ja eisigen Ironie, ist von atemverschlagender Brutalität. Die Haushälterin des Landvogts bringt in jungen Jahren neun Kinder zur Welt. Jedes einzelne dieser Kinder stirbt. Als kinderlose Witwe arbeitet sie sich beim Landvogt zu Tode. Kindertod ist überhaupt eine Bagatelle. In zustimmendem Ton wird vom Landvogt berichtet, wie er behaglich pfeiferauchend am Bett eines moribunden Zehnjährigen sitzt und ihm in «einfachen und treffenden Worten von der Hoffnungslosigkeit seiner Lage, von der Notwendigkeit, sich zu fassen und eine kleine Zeit zu leiden» spricht. Man hätte sie gerne gehört, diese treffenden tröstlichen Worte im Pfeifendunst – vorstellen kann man sie sich nicht.
Es ist eine untergründige Grausamkeit bei Keller zu spüren, die auch sein zölibatärer Landvogt ausstrahlt. Daß er jahrzehntelang kein Liebesleben hat, es sei denn der schöne Transvestit deute auf andere Präferenzen, muß es sich an anderer Stelle rächen? Erkaltet die Empathie, wenn er seine Sinnlichkeit immerzu tiefkühlen muß? Aber der Mensch an sich ist grausam, wie Salomon beim Mittagstisch den Damen am historischen Beispiel aus dem Bürgerkrieg 1444 erläutert. Ohne daß es ihnen den Appetit verschlüge, hören seine Damen von den sechzig Zürcher Männern, die ihre Burg lange gegen die Übermacht der Belagerer gehalten hatten und nach ihrer Niederlage vom rachsüchtigen Volk in einer Abstimmung, welche so überwältigend ausfällt, «daß gar nicht gezählt wurde», allesamt zum Tod verurteilt wurden. Der Landvogt schildert,
wie der Hauptmann der Zürcher, um den Seinigen mit dem männlichen Beispiel in der Todesnot voranzugehen, zuerst das Haupt hinzulegen verlangte, damit keiner glaube, er hoffe etwa auf eine Sinnesänderung oder ein unvorhergesehenes Ereignis; wie dann der Scharfrichter erst von Haupt zu Haupt, dann je bei dem zehnten Mann innehielt und der Gnade gewärtig war, ja selbst um dieselbe flehte, allein stets zur Antwort erhielt: Schweig und richte! bis sechzig Unschuldige in ihrem Blute lagen, die letzten noch bei Fackelschein enthauptet. Nur ein paar unmündige Knaben und gebrochene Greise entgingen dem Gerichte, mehr aus Unachtsamkeit oder Müdigkeit des richtenden Volkes als aus dessen Barmherzigkeit.
Dies beim Mittagstisch zur leicht grusligen Ergötzung der speisenden Zuhörerinnen.
Stilistisch ist das Ganze unerreicht; Kühle hat dem Stil noch immer aufgeholfen, und Keller, der Zwerg, ist unter den Stilisten ein Gigant.
Und woran genau liegt es nun? An Details wie der blauen summenden Fliege, die das «tote Wissen» im hohlen Puppenkopf ersetzt. Am weissagenden Haupte dieser Puppe, deren Kunden die sich umschlingenden Kinder lauschen. Am untergehenden Mond, der eine glänzende Bahn den Strom hinauf legt, auf dem die Liebenden ihre erste und letzte gemeinsame Nacht verbringen.
Wenn man etwas nicht begrifflich fassen kann, endet man bei einem Bild. Bei alten Keramiktöpfen ist das Schöne das Geflecht der feinen Äderchen und Risse, das Craquelé – schöner, als es die reine polierte Glätte wäre. Es gibt, kann man versuchsweise sagen, diese Craquelé-Schönheit auch in der Prosa. Der schöne Stil hat sein jeweils eigenes Craquelé, kleine Abweichungen, Unregelmäßigkeiten, selbst Regelwidriges, dabei Muster ausbildend und Tiefengeflecht. Craquelé-arme Prosa ist berechenbar und überraschungslos. Bei Keller kann man von keinem Satz auf den nächsten schließen, alles weicht ab von Glätte und Norm. Gottfried Keller ist ganz Craquelé.