Der Stil der Marie von Ebner-Eschenbach, eine Ausnahmeerscheinung der österreichischen Literatur nicht nur darum, weil sie im Jahr 1900 als erste Frau die Ehrendoktorwürde der Stadt Wien erhält, sondern vor allem darum, weil sie als eine der wenigen das Wort «scheinbar» korrekt verwendet – dieser Stil zeichnet sich zunächst aus durch beständig leise mitvibrierende Ironie. Nabokov sprach, auf Jane Austen gemünzt, vom «Grübchenstil», und tatsächlich zeigt auch die Freifrau auf Gemälden solche leicht mokanten, verschmitzten und hochsympathischen Grübchen.
Ihre Ironie blitzt vor allem in ihrer Figurenzeichnung auf. Die rhetorisch versierte, bigotte Gouvernante Fräulein Nanette aus der Erzählung Božena schmeichelt sich bei dem alleinstehenden Witwer Heißenstein ein. Sie dient sich ihm als Ersatzmutter für seine Tochter an. Wie solle er, der Witwer, nur dem «erziehlichen Momente» gerecht werden, der alles sei, alles! «Sie legte auf dieses letzte Wort ein Gewicht, das zusammengeballt schien aus der Überzeugungskraft von tausend fanatischen Seelen, empfahl sich mit bescheidener Würde und enteilte mit so gleichmäßigen kleinen Schritten, daß es war, als rolle sie auf unsichtbaren Rädern über den Kies des Weges dahin.»
Das ist komisch, wenn auch nah bei der Karikatur, oder gerade darum. In der folgenden Beschreibung ist es das Wort «endlich», das Ebner-Eschenbachs Sinn für Komik verrät. «Sein unproportioniert großes Kinn bewegte sich ein paarmal hin und her in der hohen, halbmilitärischen Krawatte, in der es endlich zur Hälfte verschwand […].»
Ansonsten hält sich die Autorin, wie hier nicht nachzubilden, fast immer an das erwartbare, gern auch melodramatische Beiwort, wie sie überhaupt oft überinstrumentiert. Hemingway würde erbleichen bei einem Satz wie diesem: «Frau Nanette zitterte unhörbar, und Vater und Tochter standen einander lautlos gegenüber»; gelten Stehen und Zittern doch als eher geräuscharme Tätigkeiten.
Es gehört zur Ironie Ebner-Eschenbachs, daß sie das Klischee nicht meidet, es aber ins Uneigentliche rückt. So jedenfalls würde man ihre Klischees und ihre Adjektivwahl verteidigen. Es ist aber viel guter Wille nötig, in einer Szene wie der folgenden, dem Höhepunkt der Handlung, noch Ironie-Marker zu entdecken.
Regula erbebte vom Wirbel bis zur Sohle. Der Gegner selbst hatte ihr den vergifteten Pfeil in die Hand gedrückt, den sie nur abschnellen brauchte, um tödlich zu treffen und sich zu befreien von dem lechzenden Durst nach Rache, der in ihrem Innern so qualvoll brannte und Befriedigung heischte. Eine Sekunde lang zögerte sie … Ihr Wort war verpfändet, aber ein Narr, der Betrügern Wort hält, Regula ist nicht gewillt, das Unrecht zu beschützen, sondern – es zu entlarven!
Nein, die Freifrau lehnt hier manchmal bedenklich nahe an der Gartenlaube. Ganz anders in ihren Kurzerzählungen, in denen sie arme Dörfler zu Wort kommen läßt, Choleriker, böse Buben, Pfarrer, fromme Mütter, oberösterreichische Dickschädel, den Förster in jenem Gespräch mit der Gräfin, das wir zitiert haben. Hier schießt die Volkssprache in ihre Prosa, auch der Dialekt, und schon blüht sie in kräftigsten Farben. Kräftigen und auch düsteren: Die dörfliche Welt, die Ebner-Eschenbach schildert, ist archaisch und grausam. Trinkende prügelnde Väter; eisern regierender katholischer Rigorismus, die Männer behandeln die Frauen oft wie Vieh. In der Erzählung Die Totenwacht schildert Ebner-Eschenbach aus der Innensicht die lebenslange Traumatisierung einer als Mädchen vergewaltigten Frau, die sich am Sarg ihrer Mutter gegen ihren Peiniger Georg behauptet. Sie, Anna, hat immer darüber geschwiegen, das Kind starb nach einem Jahr, nachdem sie es trotz der Zeugungsumstände liebgewonnen hatte, sie haderte deshalb mit Gott, und jetzt, neben der toten Mutter, bricht es aus ihr heraus:
«Wenn das meine Mutter g’wußt hätt! … Aber sie hat’s nicht g’wußt; ich hab ihr’s nicht sagen können, die Scham hat mir’s Wort in der Kehl’n zusammeng’würgt … So is’s auf mir sitzenblieben wie ein Mühlstein. Ich hab’s g’schleppt durch mein ganzes Leben. Wie mich jemand ein bissel lang ang’schaut hat, is mir’s wie Feuer zum Kopf g’stiegn’n: Meinst vielleicht das? Aufschrei’n hätt ich mögen: Menschen, Menschen, glaubt’s nix Schlecht’s von mir, ich bin nicht schlecht! … Verkriechen hätt ich mich mögen, so tief, so weit, daß keine Seel mir hätt nachkommen können … Was hätt ich nicht alles anfangen mögen? O mein Heiland, der du für uns g’litten hast, mir hast nix wegg’litten, mein Teil is ganz übrig ’blieb’n!»
Das ist irgendwo zwischen Büchner und Gerhart Hauptmann und doch ganz eigenartig. Georg, der Vergewaltiger, auch er Opfer eines diktatorischen Vaters, hält in dieser Totennacht um Annas Hand an, er erkennt, daß er sie liebt, schon immer geliebt hat, er bittet sie kniefällig, ihn zu erhören; er ist reich, sie bitterarm; aber Anna weigert sich:
«Ich kann nicht», sprach sie. «Jeder Bissen, den ich aus einer Schüssel mit dir essen müßt, schwellet’ mir im Mund; ich könnt nicht schnaufen neben dir, und viel tausendmal lieber sterben tät ich, als dulden, daß d’ mir in die Näh kommst.»
Das «schwellet›» ist schönster österreichischer Konjunktiv. Auf hochdeutsch wäre diese Passage um alles Eindringliche und Eindrückliche beraubt. Ebner-Eschenbach ist am besten, wenn sie nicht fein und feinsinnig schreiben will, sondern nur genau protokolliert. Das «nur» ist natürlich untertrieben, genau hinter ihm verbirgt sich die Kunst.
Marie von Ebner-Eschenbach ist eine genaue Zuhörerin und eine vorzügliche Psychologin, der kein Leid entgeht und keine männliche und weibliche Schwäche, noch nicht einmal eine kindliche. Wie entsteht kindlicher Sadismus? Man erfährt es aus ihrer Erzählung Die Spitzin (Hunde sind ihr Spezialgebiet, wie der Leser von Krambambuli, also jedes österreichische Mädchen, weiß). Ein Junge, ein Findling, als Zweijähriger von Zigeunern an der Kirchhofmauer zurückgelassen, wird von einer Witwe aufgenommen. Nicht aus Gutherzigkeit, sondern weil die Witwe hofft, daß seine Eltern einmal kommen würden in Glanz und Herrlichkeit, ihn abzuholen und ihr hundertfach zu ersetzen, was sie für das Kindlein getan hatte. Die Eltern kommen nie. Einen christlichen Namen soll das Kind immerhin tragen, aber welchen? Auf die Frage «Was denn für einen?» erklärt der Lehrer: «Geben S’ ihm halt einen provisorischen.» Die halb taube Alte versteht nur die ersten zwei Silben, und so heißt der Knabe «Provi». Die Witwe stirbt, ein Armenhaus gibt es nicht im Dorf, keiner will sich um Provi kümmern, er lebt vom Abhub, kleidet sich in «abgelegtes Zeug, ob von kleinen Jungen, ob von kleinen Mädchen galt gleich –, ging barhäuptig und barfüßig, wurde geprügelt, beschimpft, verachtet und gehaßt – und prügelte, beschimpfte, verachtete und haßte wieder». Das ist in der Kurzform die Entwicklung Provis, der bald nur noch «Abschaum» heißt, renitent wird und sich auf die Tierquälerei verlegt. «Er fing für die kleineren der Buben Vögel ein und gab sie ihnen ‹zum Spielen›, und diese Opfer konnten von Glück sagen, wenn sie kein allzu zähes Leben hatten.»
Als die alte Spitzin des Titels noch vier Junge bekommt, sollen drei davon gleich ersäuft werden, des Spitzbesitzers Sohn Anton soll es richten, aber die Spitzin knurrt und fletscht die Zähne in ihrem Verschlag, bis Provi sich auf den Boden kauert und mit kläglicher Stimme auf sie einredet: «O die orme Spitzin, no jo, no jo! Ruhig, orme Spitzin, so, so … ma tut ihr jo nix, ma nimmt ihr jo nur ihre Jungen, no jo, no jo!» Die Spitzin läßt sich einlullen, steckt ihre Schnauze in Provis hohle Hand und leckt sie ihm dankbar und zärtlich. «No – also no!» ruft Provi zu Anton, «pack s’ z’amm. Mach g’schwind!»
Anton griff zu, und im nächsten Augenblick sprang er auch schon mit drei Hündchen in den Armen aus dem Verschlag, in großen, fröhlichen Sätzen über die Straße, die Uferböschung zum See hinab. Provi folgte ihm eiligst nach; den Hauptspaß, mit anzusehen, wie die Hündchen ertränkt wurden, konnte er sich nicht entgehen lassen.
In großen, fröhlichen Sätzen zur Hundeertränkung – das fände man weder bei Gotthelf noch bei Stifter, noch bei Fontane, man fände es allenfalls bei Gottfried Keller, der, wie wir sahen, eine sardonische Ader hatte.
Das überlebende vierte Hündchen wird Provi dann, nachdem er halb versehentlich, halb im Zorn auf die eigene Mutter die Mutter-Spitzin zu Tode gebracht hat, doch noch aufpäppeln. Dafür überwindet er sogar seinen Außenseiterstolz und sagt bei der reichen Frau im Dorf zum ersten Mal «Bitte», wenn er etwas Milch will. «Schoberwirtin, Frau Schoberwirtin, i bitt’ um a Müalch.» Mit dieser Milch wird Provi den Welpen aufziehen, ein geläuterter Charakter. Am Schluß nimmt die Erzählung noch diese kleine didaktische Wendung. Aber nicht darum ist Ebner-Eschenbach zu rühmen, sondern wegen des unverklärenden, antiidyllischen Naturalismus, wegen der Schärfe ihrer Psychologie und der ihres Gehörs.