Was konnte ich denn dafür, daß ich schwach von Beinen und stark von Magen und Verdauung war? Hatte ich mir die Kraft und Macht meiner peristaltischen Bewegungen und die Hinfälligkeit meiner Extremitäten und überhaupt meine Veranlagung zum Idiotenthum anerschaffen? Hätte ich die Wahl gehabt, so wäre ich ja zehntausendmal lieber als Qualle in der bittern Salzfluth, denn als Schaumanns Junge, der dicke, dumme Heinrich Schaumann, in die Erscheinung getreten. Sauer seid ihr mit mir umgegangen, und habt euer schändliches Menschenrecht genommen. Leugne es nicht, Eduard! […]
Ein Indianer am Pfahl konnte es unter dem Kriegsgeheul und Hohngebrüll seiner Feinde nicht schöner haben als Stopfkuchen in eurem muntern Kreise. Nette Siegestänze eurer Ueberlegenheit habt ihr um mich armen, maulfaulen, feisten, schwitzenden Tropf aufgeführt. Und so helle Köpfe wart ihr allesammt! Jawohl hab ich mein Brod mit Thränen gegessen in eurer lieben Kameradschaft. Was blieb mir da anders übrig, als mich an meinen Appetit zu halten und mich auf mich selber zu beschränken und euch mit meinen herzlichsten Segenswünschen die Rückseite zuzudrehen.
Wilhelm Raabe schrieb sehr fleißig und viel, schrieb auch ums Geld, aber wenn er nur den späten Roman Stopfkuchen (1891) hinterlassen hätte, den auch er als Krönung seines Lebenswerks ansah, wäre er seiner uneinnehmbaren Schanze in der Literaturgeschichte sicher.
Auf dieser «die rothe Schanze» genannten Wallanlage, die über der Stadt thront, hat sich der Titelheld eingenistet, der Stopfkuchen, wie Heinrich Schaumann seit seiner Kindheit genannt wird. Warum? Weil er faul und freßsüchtig unter der Hecke liegt und nicht mit den andern Rabauken mitziehen darf. Zu diesen Rabauken gehört auch der Ich-Erzähler Eduard, der dem einstigen Jugendfreund ein halbes Leben später, auf kurzem Heimatbesuch vor seiner Rückkehr nach Südafrika, auf jener Schanze seine Aufwartung macht. Stopfkuchen ist inzwischen glücklicher Gatte und wohlgestellter Gutsbesitzer und läßt es sich nicht nehmen, dem früheren Freund seine Vorgeschichte auszubreiten.
Die romanlange Suada des Stopfkuchen, der in genüßlich langgezogener Weise seinem Zuhörer und Chronisten einen Kriminalfall enthüllt, in Wahrheit aber mit den Demütigern seiner Kindheit und Jugend abrechnet, diese Suada einer sich nie unterbrechen lassenden, vor Groll und Selbsterhöhungsgier fast berstenden empfindsamen Intelligenzbestie – gibt es dafür Vorbilder in der Literatur? Kaum. Raabes Roman, Eine See- und Mordgeschichte, wie der Untertitel lautet, ist ein Exot. Man kann ihn, wie alle großen Romane, ganz unterschiedlich lesen. Raabe legte viel Wert auf die ausgetüftelte Zeitstruktur und das verdeckt Allegorische. Der Erzähler bereist zwar die Weltmeere, anders als die couch potato Stopfkuchen, der seine Schanze nie verläßt. Dafür bohrt Eduard nie so tief und detektivisch in der Tiefe wie der Hobby-Paläontologe Stopfkuchen, der am Ende auch den Mordfall löst. Zwei Arten der Welterkundung, mit leichten Vorteilen für den auch in seinem Körpergewicht vorweggenommenen Father Brown.
Die Anlage des Romans ist subtil, und auf sie war Raabe stolz. Ist ihm das andere, Eigentliche eher unterlaufen, das Psychoporträt eines Gemobbten? Genauer gesagt dreier Gemobbter: Stopfkuchens Frau wird schon als Mädchen gehänselt und gedemütigt, weil man ihren Vater für einen Mörder hält; und auch der wahre Mörder wird seit der Kindheit von seinem späteren Opfer gedemütigt und gequält (mit zarten Hinweisen, von heute aus gelesen, auf Mißbrauch).
Aber natürlich ist Raabe das Thema nicht einfach nur unterlaufen. Es war sein Dauer- und Lebensthema, das Thema der Traumatisierung und des Außenseitertums – darin übrigens Gottfried Keller nicht unähnlich. Raabes Geschichten sind voll von Verstörten, Ausgestoßenen, Verrückten, auch in den historischen Romanen. Selbst das Repetitive seines Stils kann man als Ausdruck dieser inneren Verletzung verstehen: Es gibt da etwas, was man immer, immer wieder sagen muß. Das ist Raabes große endlose Melodie von Leiden und Vergeblichkeit, es ist das Weiterreichen der Wut. Daß der Stopfkuchen mehr als ein halbes Selbstporträt war, hat er nie geleugnet.
Falls es stilistisch doch ein Vorbild gäbe für diese Stopfkuchen-Suada, dann allenfalls Jean Paul. Stopfkuchen rühmt sich, daß er seinem Schwiegervater das letzte Lebensjahr erleichert hat, indem er ihn von der fatalen Mordfrage ablenkte:
Ja, es ist mein Stolz und darf mein Stolz sein, daß ich diesem langweiligen Spuk ein Ende gemacht habe, daß ich diesem Gespenst die dürre Lemurengurgel zudrücken und ihm mit den Knieen den modrigen Brustkasten einstoßen durfte, daß der dicke Schaumann es war, der das Gerippe zu Staub verrieb. Das andere Gerippe, unsern allgemeinen Freund Hein hielt ich freilich nicht dadurch von der rothen Schanze ab. […] Und wenn ich meinerseits zuletzt doch noch einmal einen Wall hätte gegen es aufwerfen können: wer weiß, ob ich es gethan hätte? Es war doch eine Erlösung, als wir dem alten Herrn das letzte schwere Deckbett aus guter Dammerde auflegten.
Neben Jean Paul wäre vielleicht nur noch Büchner zu solch morbider Metaphorik imstande gewesen. An Fontane und seine berühmten Wortneuschöpfungen wiederum erinnern Kühnheiten wie der «Olimsblutundverwesungsquark», in den Stopfkuchens Frau ihr Näschen nicht hineinstecken möge. Und es gibt Sätze bei Raabe, die einen bei Eckhard Henscheid nicht überraschten: «‹Das war ein großes Wort von Deinem verstorbenen Herrn Vater, Frau Valentine Stopfkuchen,› grinste Heinrich Schauermann unverbesserlich drein.» Oder fast aphoristisch: «Diese ewige Aufgeregtheit in der jedesmaligen, eben vorhandenen Menschheit, bis sie sich hinlegt und todt ist!»
Ein Originalgenie als Stilist, weit mehr als Fontane oder Storm. Was Raabe auszeichne, sei sein Sound, wie der Kritiker Gustav Seibt bemerkt. Man höre nur den Anfang der Erzählung Keltische Knochen, mit seinen Wort- und Silbenwiederholungen, Steigerungen und klanglichen Reprisen:
Festgeregnet! … Wem und Welcher steigt nicht bei diesem Worte eine gespenstische Erinnerung in der Seele auf? eine Erinnerung an eine Stunde – zwei Stunden – einen Tag – zwei, drei, vier – acht Tage, wo sie ebenfalls festgeregnet waren – festgeregnet an einer Straßenecke, unter einem Thorwege, bei einem Freunde oder einer Freundin, in einer Dorfkneipe, auf dem Brocken, dem Inselsberge, dem Rigi oder dem Schafberge?
Es ist eine leidige Vorstellung – festgeregnet! Grau, greinend und griesgrämlich kriecht sie heran, streckt hundert fröstelndkalte, feuchte Fangarme nach dem warmen Herzen aus und ist so schwer los zu werden, wie alles andere Unbehagliche, Unbequeme, Ungelegene in der Welt.
Der Kritiker hat recht, das ist Stil und Klang und musikalische Prosa, fast schon wagnerisierend und rhythmisch perfekt. Und Raabe-typisch schon darin, daß er sich gern auch mit dem Unbehaglichen der Welt befaßt.
Ausgesprochen gern. Raabe kann nicht anders: Er muß seine Nase in den Blutundverwesungsquark stecken. Er muß sich immer das Grausigste ausdenken. Als Stopfkuchens Freund bei seiner Ozeanüberquerung von einem Haifisch berichtet, den der Kapitän habe fangen lassen, so fügt er hinzu: «Das Vieh hat naturgeschichtlich-ausnahmsweise keinen Menschen gefressen, hat kein halb verdautes Matrosenbein, oder keine, noch auf ein Brett gebundene Kindesleiche in sich.» Wer außer Raabe hätte sich zu dieser Versicherung genötigt gesehen?
Raabe schreckt vor nichts zurück. Selbst jenes andere Gerippe, der allgemeine Freund Hein, löst bei ihm nicht nur Abscheu aus. Es ist eine Art Angstlust, die sein Alter ego ihm gegenüber schon früh empfand. Stopfkuchen erinnert sich, was er in seiner Kinderzeit «mit schauerlichem aber gar nicht unangenehmem Nerven- und Seelenkitzel mitgenossen hatte: ein Hineingucken auf einen Hausflur, wo ein Sarg steht».
Im wirklichen Leben verliert der Schöpfer Stopfkuchens 1892 seine jüngste Tochter, sie stirbt 16jährig an einer Meningitis. Raabe kam nie darüber hinweg.