Rudolf Borchardt II: Der Gepard

Seine Reden hat er nie drucken lassen, trotz dringender, ja flehentlicher Bitten. Aber da war er wie immer herrisch. Dem Dichter floß es in einem Moment der Inspiration zu, der ließ sich nicht perpetuieren. Die Reden fanden nicht Eingang ins Werk. Das Werk wiederum ist, 75 Jahre nach Borchardts Tod, immer noch fast unbekannt. Es hat im Grunde keinen Kern, so reich es ist, es besteht aus Fragmenten, Nebenwerken, Sonderbarkeiten und mühsam in Jahrzehnten errichteten erratisch ragenden Monolithen wie der in ein erfundenes Mittelhochdeutsch übertragenen oder nachgedichteten Göttlichen Komödie Dantes, voller Zauber und Klangschönheit und Originalität; verständlich aber nur, wenn man etwa die Prosa-Übersetzung Kurt Flaschs oder die kommentierte Ausgabe Hermann Gmelins daneben legt. Zum Vergleich drei Terzinen von George und drei von Borchardt. Wir stehen im IX. Gesang des Inferno:

Stefan George

Wie bei der schlange nahn die auf sie lauert,

Die frösche durch das Wasser hin zerstieben

Bis jeder auf dem lande niederkauert:

 

Vor Einem fliehn, der auf den stygischen pfaden

Hinschritt dass ihm die sohlen trocken blieben.

 

Er fegte vom gesicht den dicken schwaden

Mit seiner Linken häufigem geschwenke,

Und nur von solcher müh schien er beladen.

Rudolf Borchardt

Als wie die Fretschen vor der Widersachin

Natter durchs Wasser hin allsamt zerschiessen,

bis sie ganz klein sich nah zur Erden machen:

 

So Seelen mehr denn tausend sah ich büßen

mit Flucht vor Einem, welcher da in Schritte

Stix überschreitend kam mit trocknen Füßen.

 

Er schob die feiste Luft sich aus der Mitte

jeweilen schlichtend mit der linken Hand,

und müdete nur dies etwan seine Tritte.

Bei George klingt Dante wie George. Oder wie Neumann, der George parodiert. Bei Borchardt klingt er wie ein unbekannter Dichter des provenzalischen Mittelalters. Was vielleicht noch schwerer zu machen war. Daß die Widersacher und -sachinnen kaum ausbleiben würden, war freilich abzusehen.

Bizarr? Und doch gibt es gewiegte Kenner, die alles gelesen haben und zu dem fast widerwilligen Schluß gelangen: Mögen würden sie ihn nicht, aber der größte Stilist, am Ende des Lebens, sei dann doch eben er, Rudolf Borchardt. «Wo gäbe es im Deutschen Sprache», fragt der Großfürst der älteren Germanistik Richard

Borchardts Prosa: ein Gepard, mit langen Sprüngen und unermüdlich, etwas ganz Eigenes, Kraftvolles. Nervöse Prosa, nicht getüftelt und gedengelt, lebendig pulsierend, die «verrückteste Aufschraubung des Wilhelminismus» mit «verschnörkelten Peitschenhieben», wie es Martin Mosebach sehr komisch formuliert.

Borchardt konnte geißeln und tat es gern, aber wie erst konnte er rühmen! Eine persönliche Atmosphäre umgebe jeden außerordentlichen Menschen, schreibt er à propos seines Freundes Hofmannsthal, und sie teile sich seiner Umgebung ungewollt mit, wie eine schönere Luft an Stelle der schalen und verbrauchten.

«Aber diejenige Hofmannsthals war nicht eine Atmosphäre, sie war Äther, und nicht eine schönere Luft sondern ein neues Element das wie Wasser den Blick verlagerte, das Geräusch teils gedämpfter teils klingender machte, das Gewicht auf eine verringerte Skala umrechnete.» Nach Hofmannsthals Tod bekennt Borchardt in seiner Hommage, er hätte immer sein Leben für ihn gegeben. Und man glaubt es ihm. Aber es ist der Wortlaut, der hier wichtig ist:

Bedenke ich welche Last der Zumutung für sein empfindliches und subtiles Organ, für seine durchsichtig und geordnete Welt der Schwall und Lärm meiner chaotischen Unordnung gewesen sein muß, welche Qual für sein zartes Ohr mein Versedonnern und Periodenrauschen war, dem er schließlich dadurch zu entfliehen trachtete, daß er mich nur im Freien rezitieren ließ, ermesse ich die ganze grenzenlose Güte und Geduld die er meinem unlieblichen Gemenge, der Dumpfheit eines Menschen der ihn durchaus nichts anging, widerfahren ließ, so weiß ich das eine wenigstens, mit welchem Rechte ich in jeder Stunde meines spätern Daseins mein Leben für das seine gegeben hätte.

Hofmannsthal. Ja – Menschen, Menschen – das ist gar nicht zu sagen, was Menschen –

Das steht nur in den Grimmschen Märchen, was Menschen für arme Teufel sind – die sehr großen, die sehr klugen, die sehr reichen – was für großartige Maschinen, an denen nur ein ganz nebensächliches winziges Rad gefehlt hat –

Der Satz über die Menschen fließt noch lange weiter, um dann unphilosophisch mit dem Akzent auf der Damenwelt zu enden: «ich bring jetzt den Borchardt zu seinem Hôtel und wir reden noch was unterwegs – also mit dem Rathenau, das wird ganz brillant gehen, das machen die Frauen – was sind das jetzt für Frauen, – das erzählst Du mir unterwegs –».

Borchardt war ein begnadeter Stimmenimitator; wie der Dschinn sich aus der Flasche materialisiert, so materialisieren und verlebendigen sich seine Figuren durch ihren jeweiligen Duktus – besonders prägnant, fast ausschließlich Frauen nebenbei, in seinem nachgelassenen Roman, der noch zu streifen sein wird. Sein Gedächtnis muß mirakulös gewesen sein. Es ist überliefert, daß er 1943 im italienischen Exil lange BBC-Beiträge, auf Kurzwelle knatternd und rauschend übertragen, am Abend wörtlich der gelangweilten Familie vortrug.

Selbst wer die Meinung vertritt, so recht lesbar sei bei ihm trotz furchtgebietender Bildung und überragender Intelligenz nur

Beim Essen war er sehr freundlich, lachte über alles was ich äußerte, und sagte selbst sehr wenig. Am Nachmittag kam er einen Augenblick ins Schulzimmer wo ich an meinen Arbeiten herumnaschte, denn meine Aufregung über den ganzen neuen Lebenszustand machte mir jede Sammlung unmöglich, – lachte dort unaufhörlich ohne Grund, stand am Fenster und reckte sich so, daß ich vor Schrecken von meinem kleinen Pult aufstand weil ich fürchtete er könne wie im Märchen doppelt so lang werden als er schon war und dann gehe er vielleicht nicht mehr ins Zimmer; er aber drehte sich im halben Recken um, sah plötzlich wie Leute die eben heftig gegähnt haben, ganz blöde und schal drein und war fort.

Borchardts Kommasetzung, man hat es bemerkt, ist sparsam und originell. Vor Relativanschlüssen setzt er fast nie eines. Er darf das. Nur bei Benjamin ist das Satzzeichenfäßchen noch verstopfter und rieseln noch weniger Kommas heraus.

Wie Borchardt den Werdegang seines Vaters beschreibt, mit dem er lebenslang haderte, ist ein Muster seines bildreichen und langphrasierten Stils, ganz eigen, schwer zu imitieren, gedacht und nicht nur formuliert:

Das Ganze ist ein Satz! Die Pointe, daß der Sohn, wäre er nicht der überragende Stilist geworden, sich ganz komfortabel in die Reihe der Vorgänger-Borchardts eingegliedert hätte – denn auch er hatte etwas vom Prahler, vom Blender, vom Gelegenheitsdichter, vom Revolutionär, vom Verführer und wohl auch vom Todeshelden –, diese Pointe hatte er bei der Niederschrift seiner Erinnerungen sicherlich mitbedacht.

Dabei mangelte es ihm nicht an – überkompensatorischem – Selbstbewußtsein. Er habe sich nie daran gekehrt, ob seine Schriften «augenblicklichen, oder überhaupt, Erfolg haben könnten. Sie finden kein Publikum vor, sondern sie müssen es sich bilden.» Und er schließt: «Sie sind die Brücke für jeden, der auf meinem Lebenswege sich von der treibenden Scholle der Zeit auf das Festland des Ewigen retten will.»

Das ist leicht zu ironisieren, wie sein Pathos anläßlich Hofmannsthals; aber irgendwie auch zu wohlfeil und leicht. Von völlig verblüffender Seite – oder im nachhinein vielleicht auch nicht? – durfte man ihn schließlich im Jahr 2018 kennenlernen,